Karl Radek

Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches


Leo Jogiches


Er liegt begraben neben Liebknecht und Rosa Luxemburg und obwohl er durch die Freundschaft eines Lebens mit Rosa Luxemburg verbunden war, an all ihren geistigen Arbeiten teilnahm, obwohl er die letzten vier Jahre seines Lebens im Kampf für die deutsche Revolution stand, der deutschen Arbeiterbewegung drei Jahrzehnte eng geistig verbunden war, so hatte ganz gewiß niemand von uns daran gedacht, daß er in den Reihen der deutschen Revolution fallen, auf deutschem Boden seine Ruhe finden wird. Das Leben Leo Jogiches, der in Litauen geboren war, gehörte dem polnischen Proletariat. Und in ihm hat die polnische Arbeiterrevolution den besten Führer verloren. Weil dem so ist, konnten die deutschen Genossen trotz ihrer großen Liebe zu Leo, trotz der Autorität, die er unter den deutschen Kommunisten besaß, nicht seinen Nekrolog schreiben. Sie kannten nur seine letzten Jahre, nicht aber seinen Werdegang. Indem ich es unternehme, seinen Werdegang zu schildern, erfülle ich eine Pflicht, die ich lachend vor vielen Jahren auf mich nahm, ohne zu ahnen, daß so bald die Stunde kommen könnte, wo ich sie zu erfüllen genötigt sein werde. Jogisches. in dessen Schule ich die publizistischen Sporen erwarb, erzählte mir oft von seiner Jugend, von seinen vielen Kämpfen, und ich sägte ihm immer: „Leo, das muß ich in Ihrem Nekrolog unterbringen.“ Er, der Lebenslustige und Lebensgläubige, schalt immer, er werde mir noch einen Nekrolog schreiben. Es ist anders gekommen. Nun liegt er auf deutschem Boden. Die polnischen Kommunisten, deren Partei, die frühere Sozialdemokratie Russisch-Polens, in erster Linie Jogiches durch seine eiserne Energie, durch sein organisatorisches Talent, durch seine politische Weitsichtigkeit gebaut hat, konnte nur einen Gruß zu seinem Begräbnis senden. Die Faust der Regierung Pilsudskis, der Regierung, die von denselben Sozialpatrioten in den Sattel gehoben wurde, mit denen Jogiches sein Leben lang kämpfte, erlaubte dem polnischen Proletariat bei der Nachricht von dem Märtyrertode Jogiches nicht, seiner am Tage seines Begräbnisses würdig zu gedenken. So sei sein Leben hier erzählt: den polnischen Arbeitern zur Erinnerung, den deutschen zum Verständnis, wie es kam, daß dieser russische evolutionär, der der Organisator des polnischen Proletariats wurde, den deutschen Arbeitern die unvergänglichsten Dienste im Kampf um ihre Befreiung leisten konnte.

Jogiches wurde in Wilna geboren, und dort an dieser Völkergrenze, wo auf dem Rücken des litauischen Bauerntums lange der polnische Schlachzize mit dem russischen Tschinownik um die Macht gekämpft hat, wo nach dem Jahre 1863 Murajeff, der Henker, jeden Funken politischen Lebens austrat, hat Jogiches das Gymnasium besucht. Es war keine günstige geistige Atmosphäre, die ihn umgab. Die polnische Jugend, in deren Herzen die Erinnerungen an die Massakers des Jahres 1863, an die Niederwerfung des polnischen Aufstandes lebten, sie hatte die stillen Kapellen, in denen sie in tiefstem Geheimnis vor den zaristischen Spionen der alten Nationalkämpfe gedachte. Josef Pilsudski, der jetzige Präsident der polnischen Regierung, der frühere Führer der polnischen Sozialpatrioten, ist in dieser Atmosphäre jener Zeit in Wilna aufgewachsen. Die russische Jugend stammte zum großen Teil aus Beamtenfamilien und war von einem servilen Strebertum erfüllt. Die revolutionären Ideen, die aus Rußland kamen, fanden nur unter der jüdischen Jugend, der auch Jogiches angehörte, Verbreitung. In den Kreisen, in denen Jogiches zusammen mit dem glänzenden französischen Publizisten, dem Genossen Rappoport aufwuchs, wurde leidenschaftlich die russische Publizistik der sechziger und siebziger Jahre, die russische geheime revolutionäre Literatur studiert. Es war die Zeit des Kampfes der russischen Terroristen, der Narodnaja Wolja, der nicht nur die Herzen der russischen Jugend, sondern sogar eines Marx mit Enthusiasmus erfüllte. Niemals in der Geschichte wurden so viel reine menschliche Liebe, so viel Unbeugsamkeit der Befreiung eines Volkes von einer kleinen intellektuellen Schicht zum Opfer gebracht, wie in diesen heroischen Zeiten des russischen Volkstümlertums. Jogiches war Volkstümler, aber bevor er noch als Mann in den Kampf treten konnte, brach die Bewegung zusammen, die mit den schwachen Händen der Intellektuellen das alte Gebäude des Zarismus niederzuwerfen suchte, um einen Bauernsozialismus einzuführen. Die Niederlage der Narodnaja Wolja war nicht nur eine äußere. Die Geschichte zeigte, daß die Kräfte der Intellektullen zu schwach waren, daß das Bauerntum kein selbständiger revolutionärer Faktor sein konnte, daß es durch den Kapitalismus zersetzt, seine frühere primitiv-kommunistische Organisation langsam verliert. Eine große Entmutigung ergriff die Kreise der Revolutionäre, die ihre Hoffnungen zertrümmert sahen und keine neuen Elemente fanden, auf die sie sich von neuem stützen könnten. Im Auslande begann, damals in Rußland wenig bekannt, eine kleine Gruppe von Schriftstellern, Plechanow, Paul Axelrod, Wjera Sassulitsch durch ihre Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse Rußlands der verzweifelten Intelligenz zu zeigen, daß dieselbe historische Entwicklung, die die Narodnaja Wolja, das terroristische Volkstümlertum, zur Ohnmacht verurteilt hatte, einen neuen Faktor entstehen läßt, der mit ganz anderen Aussichten auf Erfolg den Kampf gegen den Zarismus, den Kampf für den Sozialismus aufnehmen kann: die Arbeiterklasse. Die Broschüre Plechanows über den Sozialismus und den politischen Kampf (1881) und sein Buch Unsere Streitfragen, das im Jahre 1883 erschien, fand in Rußland nur geringen Widerhall. Einerseits war die kapitalistische Entwicklung Rußlands so wenig fortgeschritten, daß – wie einmal Jogiches später lachend sagte, Plechanow jeden Proletarier statistisch ausrechnen mußte – anderseits stießen die Schlußfolgerungen, die Plechanow unterschoben wurden, die revolutionäre Jugend ebenso ab, wie die, die er selbst machte. Wenn der Kapitalismus selbst die Elemente des zukünftigen Kampfes bildet, sagten die einen, dann bleibt nichts anderes zu tun übrig, als entweder den Kapitalismus zu unterstützen oder passiv zuzusehen. Die anderen wieder erklärten, der Kampf um eine bürgerliche Verfassung, auf den Plechanow als nächste Etappe hinwies, sei nicht die Sache des Sozialismus und lehnten die nüchterne Feststellung Plechanows und seiner Freunde, daß ohne diesen Kampf die Arbeiterklasse überhaupt unfähig ist, um den Sozialismus zu kämpfen, als eine „marxistische Schrulle“ ab. Jogiches nahm als einer der wenigen die marxistische Orientierung an. Durch eigene eingehende Beschäftigung mit der Literatur der Volkstümler – es mu noch irgendwo das Manuskript seiner sehr guten Arbeit über die nationalökonomischen Ideen der russischen Volkstümler bestehen, die er ein paar Jahre später in der Zeit seines Züricher Aufenthaltes geschrieben hat – nahm er die marxistische Lösung der russischen Frage an. Um sich dem Militärdienst zu entziehen, der ihm als politisch Komprommitierten mit eventl. Versetzung in die Strafbataillone drohte, rückte er nach der Schweiz aus, wo er sich der Gruppe Plechanow anschloß. Ein Mann von ausgesprochener praktischer Veranlagung, begnügte er sich nicht mit theoretischen Studien, die er sehr intensiv betrieb, sondern gab seine persönlichen Geldmittel her, um eine Broschürenreihe herauszugeben, die die wichtigsten Dokumente des Marxismus den russischen Arbeitern und Intellektuellen zugänglich machen sollte. Gleichzeitig suchte er organisatorische Verbindung mit den in Rußland wirkenden Zirkeln zu schaffen, die Arbeit weiterzuführen, für die Leo Deutsch nach Sibirien wandern mußte. Als kantige Persönlichkeit konnte er schwer mit dem Kreise um Plechanow auskommen. Plechanow hatte eine so überragende Stellung in diesem Kreise, daß, solange keine Massenbewegung bestand, keine andere aktive Persönlichkeit neben ihm aufkommen konnte. Eine Massenbewegung gab es damals in Rußland noch nicht.

Der nach Taten lechzende Jogiches wandte seine Aufmerksamkeit der polnischen Arbeiterbewegung zu, die weit über den Charakter einer propagandistischen Zirkelbewegung gewachsen war. Er trat in Beziehungen zu Rosa Luxemburg, Julian Karski, Adolf Warski, die die eben entstandene Sozialdemokratie Russisch-Polens im Auslande repräsentierten und die Sprawa Robotnicza als Organ ihrer Partei herausgaben. Mit eiserner Energie erlernte er in kurzer Zeit die polnische Sprache so perfekt, daß er später die Manuskripte von uns allen, die wir geborene Polen waren, nach Russifizismen abjagte, und bei jedem Streit uns die Grammatik von Krinski oder die Stilistik von Chomjelowski an den Kopf schmiß. Jogiches wurde in kurzer Zeit nicht nur der Leiter der polnischen Organisation, sondern auch der Inspirator der politischen Kampagnen der polnischen Sozialdemokratie.

Er kannte in kurzer Zeit die polnische Geschichte, die polnische Literatur, und es war für mich, als ich mit Jogiches bekannt wurde, geradezu frappierrend, wie weitgehend seine Kenntnisse der alten polnischen Literatur waren. Wenn einer von uns, um eine Grobheit im Druck sagen zu können, den größten Grobian der polnischen Literatur, Nikolaus Rej, einen Dichter aus dem 16. Jahrhundert, zitierte, so konnte uns auch Jogiches hier mit einer uns noch unbekannten Sache überraschen. Den polnischen Sozialpatrioten war die Existenz Jogiches sehr bald bekannt und schon im Jahre 1893 warnte Ignatz Daszynski vor der „unbekannten Hand“, die die Sozialdemokratie Russisch-Polens leite, womit er zu verstehen geben wollte, daß dieser Moskal (Russe), der sich in die polnische Bewegung „eindränge“, ganz gewiß ein zarischer Agent sei. Der „Moskowiter“ lachte später noch oft verschmitzt und erklärte, er habe sich da polnische Staatsbürgerrecht durch Prügel erworben, die er den polnischen Sozialpatrioten habe zukommenlassen. Im Jahre 1897 wurde durch zahlreiche Arreste die Organisation der polnischen Sozialdemokratie zertrümmert. Jogiches, der inzwischen nach Berlin umzog, widmete sich Studien über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, über die Geschichte des Marxismus, wobei er seiner praktischen Natur folgend, jede Einzelheit auch der praktischen Politik der deutschen Arbeiterklasse gründlich studierte. Er nahm lebhaftesten Anteil an allen Kämpfen gegen den Opportunismus, und beeinflußte im regsten geistigen Verkehr die literarische Tätigkeit Rosa Luxemburgs. Er selbst war kein Schriftsteller, obwohl Rosa Luxemburg, wenn man über die Federscheu Jogiches sprach, immer an die Ueberzeugung der Hindu erinnerte, der Affe sei eigentlich Mensch, der sich nur als Affe verstelle; daß Jogiches sich verstelle, wenn er selbst nicht schreibe, war der Eindruck eines jeden, der mit ihm als Redakteur zu tun hatte. Denn Jogiches wußte im Handumdrehen jedem Artikel die dem Ziel entsprechende Form zu geben, den politischen Punkt über das J zu setzen. Er beeinflußte die literarische Tätigkeit Rosa Luxemburgs nicht nur formell, sein außerordentlich starker Kritizismus erlaubte ihm, sofort den schwachen Punkt jeder Position zu erkennen, und wie Rosa selbst erzählte, fand er immer bei der Lektüre eines ihrer Manuskripte sofort den Punkt heraus, wo ihr Standpunkt nicht vollkommen fertig und bis zu Ende entwickelt war. Diese seine Meisterschaft zeigte sich mit dem Wiederaufleben der Bewegung in Russisch-Polen im Jahre 1901, als die in Polen wirkenden Genossen sich an ihn, Rosa Luxemburg, Karski und Warski mit der Aufforderung wandten, eine Revue zu gründen, die die Theorie und Praxis der Partei beleuchten sollte. Die Sozialdemokratische Rundschau, die unter seiner Leitung bis zur Revolution des Jahres 1905 erschien, war trotz ihres kleinen Umfanges zweifelsohne die beste marxistische Revue, die jemals erschien. Eine ganze Generation polnischer Sozialisten wuchs unter Einfluß dieses Organs auf, in dem Jogiches die Probleme des europäischen Sozialismus durch seine besten Vertreter behandeln ließ. Er zeigte die Internationale den polnischen Sozialisten nicht wie es die Zeloten taten, die glaubten, die Internationale zu stärken, indem sie ihre Schwächen vertuschten. Er ließ uns Junge im Geiste alle Kämpfe des europäischen Sozialismus durchkämpfen. Gleichzeitig führte die Revue in glänzender Form den Kampf weiter, den Rosa Luxemburg im Jahre 1893 angefangen hatte. Während Rosa Luxemburg in ihren theoretischen Artikeln ihre berühmten Waffengänge gegen den polnischen Sozialpatriotismus führte, gab Adolf Warski in meisterhafter Weise in seinen Leitartikeln die Analyse der sich ändernden politischen Situation in Polen, die Analyse ihrer treibenden Kräfte und Rosa Luxemburg wie Adolf Warski bekannten immer mit Freude, daß die Schärfe dieser Artikel, ihre scharfe Punktierung zum großen Teü immer auf die geistige Mitarbeit von Leo Jogiches zurückzuführen war. Das theoretische Organ der Partei war als Ganzes seines Geistes Kind.

Als die Revolution in Russisch-Polen begann und es unmöglich war, von Berlin aus die Partei zu leiten, übersiedelte Jogiches zuerst nach Krakau, dem literarischen Hauptquartier der Partei, von wo er oft illegal nach Warschau ging, um im Sommer des Jahres 1905 nach Warschau zu übersiedeln. Er wurde sofort zum Zentralpunkt der Partei. Ich hatte als Zwanzigjähriger das Glück, zum Teil sein literarischer Sekretär, zum Teil als junger Mitarbeiter diesem großen Organisator bei der Arbeit zuzusehen, und wenn die Revolution des Jahres 1905 mir zeigte, was revolutionäre Massenpolitik ist, so zeigte mir die Arbeit mit Jogiches, was es bedeutet, in der Revolution die Partei zu leiten. Jogiches dachte nicht nur scharf die Linien der Entwicklung, die kommenden Etappen der Bewegung durch, sondern er dachte in der konkretesten Form die nächsten Aufgaben der Partei durch. Er inspirierte nicht nur die politischen Kampagnen der Partei, mit denen er jedes Wort, daß in der Zeitung gedruckt wurde, verband, sondern er suchte immer die Horizonte der Organisatoren so zu erweitern, daß sie sich immer bewußt waren, welche organisatorischen Aufgaben die politische Situation an sie stellt. Auch jetzt, wo wir tägliche Organe hatten, deren Chefredakteur er war, schrieb er sehr wenig. Aber das, was er schrieb, war nicht geschrieben, sondern gemeißelt. Niemand, der die Revolution des Jahres 1905 mitgemacht hat, wird den Leitartikel an der Spitze der ersten Nummer der Warschauer Volkstribüne vom November 1905 vergessen, wo in zweihundert Zeilen sozusagen der Abriß der Geschichte des modernen Polens gegeben während aus ihm heraus mit Worten wie in Granit gemeißelt, die Aufgaben der Arbeiterklasse entwickelt wurden. Leo Jogiches war ein Meister der Verteilung der Kräfte der Partei. Er wußte jede Kraft zu benutzen, jedem wies er die Stelle zu, in der er am besten der Partei dienen konnte und jede Bemerkung, die er uns Jungen über unsere schriftstellerischen Anfänge machte, war eine politische Schule. Er zeigte uns immer, daß jede Zeile, die man schreibt, einem konkreten politischen Zweck dienen muß, daß die revolutionäre Journalistik keine Literatur, sondern der Kampf mit der Feder in der Hand sei. Und er zeigte, daß eine revolutionäre Zeitung nicht eine Sammlung von Artikeln und Notizen sein darf, sondern ein Kampforgan ist, dessen verschiedene Teile von verschiedenen Menschen fabriziert werden, aber alle einem konkreten Ziel dienen.

Und wie in der Zeitung, wie in der Parteileitung, so war er in der Organisation. Leider wurde er der Organisation im März 1906 entrissen. Er war zwar so konspirativ, daß nach einem Witz, der in Parteikreisen kursierte, er selbst nicht wußte, wo er wohne, trotzdem wurde .er zusammen mit Rosa Luxemburg verhaftet. 24 Stunden nach seiner Verhaftung kriegte ich aus dem Sammelgefängnis des Warschauer Rathauses zwei Briefe. Einen Brief von einem Freunde, der erzählte, er habe Leo Jogiches auf dem Korridor des Gefängnisses getroffen, und Leo habe ihm sofort einen Skandal gemacht, als er erklärte, er sei nur deshalb verhaftet worden, weil er mit Freunden in einem Kaffeehaus zusammenkam; Leo sagte ihm, daß, wenn er nichts zu tun hätte, hätte er die Pflicht, sich auszuschlafen, um desto besser arbeiten zu können, aber nicht ins Kaffee zu laufen. So seufzte man unter Leos Tyrannei sogar im Gefängnis. Gleichzeitig bekam ich einen Brief von Leo Jogiches, in dem er. über die ganze nächste Arbeit der Zeitung disponierte. Er erklärte mir geographisch, wo und in welcher Schublade irgend ein Material stecke, was mit dem Material zu geschehen habe, und vergaß am Schluß nicht, mich dafür verantwortlich zu machen, daß der Korrektor keinen Druckfehler im Blatt zurücklasse. In den vielen Monaten, wo Leo Jogiches hinter Schloß und Riegel saß, fragte ich mich bei jedem Artikel, den ich schrieb, wie würde Leo die Sache anzufassen raten. Leo Jogiches wurde nach strenger Isolierung in der Untersuchungshaft zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, wobei zur Strafverschärfung sehr viel seine stolze Haltung vor Gericht beigetragen hat. Als er ins Zuchthaus überführt wurde, erhielt einer unserer Genossen einen Besuch des Gefängniswärters, der Leo Jogiches zu bewachen hatte. Durch sein Verständnis für Menschenbehandlung hatte er den Zuchthauswärter so weit gebracht, daß dieser es unternahm, an seiner Befreiung mitzuarbeiten. Es wurden die notwendigen Schlüssel fabriziert, Leo kriegte Kleider eines Gefängniswärters und entsprang aus dem Zuchthaus. Er hatte als erste Zufluchtstätte die Wohnung eines mit der Partei sympathisierenden Arztes zugewiesen erhalten; als er aber sah, welche große Angst der Arzt hätte, schmiß er die Türe der Zufluchtsstätte hinter sich zu und kam unangemeldet auf die konspirative Wohnung, in der sich die Redaktion des Zentralorgans der Partei, der Roten Fahne, befand. Lachend sagte er uns, der Gedanke, der ihn von der Flucht zurückgehalten habe, sei nicht die Furcht davor gewesen, daß im Falle des Mißlingens sich seine Strafe mechanisch verdoppele, sondern, daß er unsere literarische Produktion von den vielen Monaten durchzulesen haben wird. Wir freuten uns so, daß er frei war, daß wir ihm diese Schnoddrigkeit nicht übelnahmen. Es gelang ihm, über die Grenze nach Berlin zu entkommen, wo er einstweilen verblieb. Auf dem Londoner Parteitag der russischen Sozialdemokratie, deren Teil die polnische war, wurde Jogiches in das Zentralkomitee der russischen Sozialdemokratie gewählt. Er überiedelte nach Finnland, wo ich ihn nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis wiedersah. Wenn Leo Jogiches nachgesagt wurde, daß er kalt im Verhältnis zu den Genossen war, so ist das der Gegensatz zur Wahrheit. Er war im Kampf rücksichtslos und schonte dann auch seine früheren Freunde nicht; aber wer von den Freunden ihm menschlich nahestand, für den wußte er bis ins kleinste zu sorgen. Als ich nach Terjoki kam, sorgte er wie ein Vater für meine Einrichtung. Vergaß sogar nicht von Zeit zu Zeit mir Konfitüren zu bringen. Was ihn nicht störte, später in der Zeit der Spaltung der Partei zu versuchen, mir nach allen Regeln der Kunst das Genick zu brechen. Neben seinen starken Seiten, die ihm ein unsterbliches Blatt in der Geschichte des polnischen Sozialismus geben, hatte er natürlich als starke, rücksichtslose Natur auch ebenso starke Schattenseiten.

Weil er Unermeßliches zu leisten wußte, hatte er ein außerordentliches Machtgefühl. Die polnische Sozialdemokratie als Arbeiterbewegung hatte dank der Unterbrechung in ihrer organisatorischen Existenz durch die Arreste 1896 bis 1901 mit Ausnahme des Kreises der Gründer der Partei nur ganz junge Intellektuelle, denen Jogiches natürlich in jeder Hinsicht überlegen war. Wenn in der Partei Meinungsverschiedenheiten entstanden, und sich junge Intellektuelle zu Wortführern von Bestrebungen machten, die in der Organisation existierten, so übersah Jogiches, daß es nicht Marotten dieser jungen Genossen waren, die nicht genügend parierten, sondern daß die Differenzen in der Parteimitgliedschaft selbst basierten, Er ah in jeder Opposition in der Partei eine Rebellion gegen sich. Wenn dies schon in der Zeit der revolutionären Massenbewegung Friktonen schuf, so wurde es zur Quelle der Spaltung, als die Partei nach der Niederlage der ersten russischen Revolution vollkommen illegal wurde, in den unterirdischen Gängen fast erstickte. Die Differenzen kamen scharf zum Ausdruck schon auf dem illegalen Parteitag in Prag im Jahre 1908, dessen Zentralpunkt das ausgezeichnete Referat Leo Jogiches über die politische Lage und die politischen Aufgaben der Partei war. Diese Differenzen wurden noch verschärft, als nach unserer Flucht aus Finnland der Parteivorstand in Berlin lebte, und von hier aus die Leitung der legalen und illegalen Parteipresse, wie der Organisation in der Hand hatte.

Wie sehr auch die Partei durch die Massenarreste, durch den Niedergang der Revolution geschwächt war, die Arbeiter haben sich in den Jahren der Revolution eine Selbständigkeit angewöhnt, die die Leitung der Partei von Berlin aus unmöglich machte und auch wir, die jungen Parteioffiziere, hatten inzwischen eine fünfjährige Erfahrung der Massenbewegung hinter uns. Die Diktatur seiner noch so starken Persönlichkeit hatte sich überlebt. Leo verstand nicht nachzugeben. Der Kampf verschärfte sich immer mehr, nahm die erbittertsten Formen an, artete in die gröbsten, persönlichen Anschuldigungen aus und endete mit der Spaltung der Partei im Jahre 1912. Der Kampf, der sich zwischen den beiden feindlichen Teilen der bisher wie ein Granitblock einheitlichen Sozialdemokratie Russisch-Polens und Litauens entspann, war politisch wenig fruchtbar; aber er zeitigte ein Resultat: obwohl alle Gründer der Partei auf seiten Leo Jogiches standen, obwohl auf seiner Seite die Autorität Rösa Luxemburgs stand, wurde er praktisch auf dem polnischen Boden geschlagen. Die Warschauer Arbeiter standen, wie es der Ausgang der Wahlen zu den Krankenkassen des Jahres 1914 zeigte, auf seiten der sogenannten Spaltungsorganisation. In diesem Kampf ging es natürlich sehr tumultarisch zu, aber heute noch kann ich mich darauf berufen, daß ich in meiner Abwehrbroschüre, in der ich in dem Kampf um meine politische Existenz ganz gewiß mit meinem früheren Lehrer und damaligen Hauptfeind nicht unsanft umspringen konnte, bedingungslos seine große historische Bedeutung für die Bewegung anerkannte. In dem Aufruf, der im Aufträge der Warschauer Organisation nach der Spaltung eschien, sagten wir unter anderem, Leo und seine Freunde hätten eine so große Aufklärungsarbeit unter dem polnischen Proletariat geleistet, daß es sich sogar durch sie nicht mehr irreführen lassen wird. Und weil wir eine so hohe Meinung von den Verdiensten und Fähigkeiten Jogiches hatten, waren wir gewiß, daß, wenn die sachlichen Streitpunkte durch die Entwicklung erledigt sein werden, wir mit ihm wieder zusammen arbeiten können. Es ist anders gekommen.

Der Krieg brach aus und Jogiches wurde durch seine Fronten von dem polnischen Proletariat getrennt. Er lebte in Berlin; aber das bedeutete nur, daß er seine Kräfte der deutschen Bewegung widmete. Solange Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht frei waren und die Opposition sich erst zu rühren begann, blieb er im Hintergründe. Er half nur Liebknecht, Luxemburg, Mehring, Karski, sich über die Aufgaben, über die Lage zu orientieren. Die Stunde seiner Tat schlug, als Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hinter den Mauern des Gefängnisses verschwanden und inzwischen die oppositionelle Stimmung in der Arbeiterschaft wuchs. Leo Jogiches wurde zum Organisator des Spartakusbundes, und wenn diese Organisation während des Krieges immer wachsende Massen der Arbeiterschaft zur Aktion anspornte, wenn sie ein Netz der illegalen Verbindung auszubauen wußte, so war es zweifelsohne in erster Linie das Verdienst der Unerschrockenheit und der organisatorischen Fähigkeiten Leos. Seine Kenntnisse Deutschlands – er beherrschte vollständig die deutsche Sprache und kannte jede Einzelheit des deutschen politischen Lebens mindestens ebenso gut wie die führenden deutschen Genossen – erlaubten ihm, zwei Jahre lang während der größten Hatz illegal politisch zu wirken. Die politische Polizei wußte ausgezeichnet aus Zuflüsterungen von mehrheitssozialistischen Kreisen, daß irgend ein „geheimnisvoller Ausländer“ der Hauptorganisator des Spartakusbundes war. Sie hetzte hinter ihm herum, während er genötigt war, nicht nur mit Hunderten von Genossen konspirativ zu verkehren, sondern sich sogar mit den Druckern herumzuschlagen, bei denen er den Spartakus druckte. Und wie ich später zu meiner Freude von Genossen, die ihm dabei geholfen haben, erfuhr, hat er sich so wenig geändert, daß bei seinen homerischen Kämpfen mit den Druckereibesitzern jede Mark mehr, mit der sie ihm bei dem Druck der geheimen Sachen übers Ohr hauen wollten, den Gegenstand stundenlanger Kämpfe bildete. Leo Jogiches war nämlich der Meinung, daß, wenn der Bourgeois des Profites wegen revolutionäre Schriften druckt, dies ihn noch nicht berechtigte, einen höheren Profit aus der Sache herauszuholen, als ihn ein anständiger Schieber auf andere Weise erlangen konnte. „Wir existieren doch nicht dazu, damit die Schweinekerle an uns reich werden“, erklärte er immer, wenn ihn die Freunde von der Verschärfung der Gegensätze zu den Druckern zurückhalten wollten. Es ist die Sache der deutschen Genossen, die mit ihm in dieser Zeit arbeiteten, von diesem Kampf zu erzählen. Ich hatte nur aus der Ferne in Zürich oder Stockholm die Möglichkeit, aus einem besonders scharf pointierten Aufruf oder Artikel im Spartakus festzustellen: hei, er lewet ja noch. Als die russische Revolution siegte, und es uns nicht gelungen war, eine persönliche Aussprache mit den Führern des Spartakusbundes herbeizuführen, wußten wir doch, daß Leo „frei“ ist, und daß, was eine revolutionäre Partei in Deutschland machen kann, getan wird. Denn, wenn auch Leo Jogiches, der früher als Mitglied des Zentralkomitees der russischen Sozialdemokratie immer mit den Bolschewiki ging, später durch die Spaltung der Partei in Gegensatz zu ihnen geriet, so wüßten wir, daß er seine Pflicht als internationaler Sozialist, den die Geschichte auf den verantwortungsvollsten Posten des Führers der ersten revolutionären Organisation des neuen auf den Schlachtfeldern entstehenden Deutschlands gestellt hat, erfüllen wird. Und als wir in Brest-Litowsk die Nachrichten von dem Januarstreik in Berlin bekamen, da waren unsere Gedanken bei Leo Jogiches. Da wußten wir, daß dort, allen Gefahren trotzend, die deutschen Genossen ein Mann beratet, der mit unseren Kämpfen mit allen Fasern seines Herzens verbunden war. Nach dem Januar-massenstreik gelang es der Polizei, Leo Jogiches habhaft zu werden und ihn bis zum Ausbruch der Revolution im Gefängnis zu halten. Anfang November 1918 kriegten wir durch Stockholm ein Telegramm, daß neben den Unterschriften von Luxemburg und Liebknecht die lakonische Unterschrift Leo trug.

Und wieder sagten wir uns erfreut: da steht er wieder in der Werkstatt.

Als ich nach Berlin kam, da waren es Lobhymnen und Verwünschungen, die ich über Leo Jogiches vernahm, der wieder einmal in seiner Löwentatze die ganze Parteiarbeit hielt und sich bei einem Teil der Partei tiefste Liebe und Verehrung erwarb, während die ändern von seinen oft wenig sanften Manieren nicht sprechen konnten, ohne einen roten Kopf zu kriegen. Durch seine Zimmer im Büro des Spartakusbundes marschierte tagtäglich die ganze Partei durch. Jeder Delegierte von der Provinz wurde in diese Retorte gebracht und kam mit der Meinung je nach seinem Temperament heraus, daß entweder die Parteiorganisation sich in ausgezeichneten Händen befinde, oder daß sie unter einer Diktatur ächze. Würde die Kugel eines Noskeschergen nicht seinem Leben ein Ende bereitet haben, seine Kraftnatur hätte ganz gewiß noch einen schweren Kampf auszufechten, bis er verstanden hätte, daß eine breite revolutionäre Bewegung anders organisatorisch behandelt werden muß, als eine kleine illegale Partei.

Daß er sich an die Situation anzupassen begann, merkte ich sofort aus der neuen Art, wie er mir entgegenkam, als wir uns bei der Arbeit trafen. Er hatte schon gelernt, fremde literarische Persönlichkeiten zu respektieren, und er würde ganz gewiß nach vielen Prügeln, die er selbst ausgeteilt und auch empfangen hätte, das Maß der Leitung anerkannt haben, das eine große Bewegung erträgt. Während der Januarunruhen wurde er verhaftet. Als er aus dem Gefängnis geflüchtet war, fand er Liebknecht und Luxemburg nicht mehr unter den Lebenden. Er sprach nichts darüber; aber jeder, der ihn nahe kannte, sah, wie sehr ihn der Schlag getroffen hatte. Wir haben, als ich als Vertreter des Zentralkomitees der russischen Kommunisten im Dezember in Berlin eintraf, kein Wort über unsere alten persönlichen Kämpfe gewechselt. Jetzt, angesichts der Leiche Rosa Luxemburgs, wo jeder, der mit der Geschichte der Sozialdemokratie Russisch-Polens verbunden war, sich vereinsamt fühlte, begann er sonderbar zögernd das Gespräch über die alten Kämpfe mit den Worten: „Rosa ist tot, wir müssen alle näher aneinander rücken.“ ... Und als die Hetze gegen mich begann, und auf den Straßen die Plakate mit dem Preis auf meinen Kopf erschienen, suchte er mich mit allen Mitteln zu überreden, mich in eine stille Provinzstadt zurückzuziehen. Ich fragte ihn, ob er denn nicht für sich fürchte, es liege doch auf der Hand, daß die Sozialpatrioten, die seine Rolle ausgezeichnet kannten, jetzt die Waffen, mit denen sie Rosa und Karl umgebracht haben, gegen ihn richten würden. Er hoffte auf seine Kunst eines alten Konspirators und sagte mir mahnend: „Sie haben mir versprochen, meinen Nekrolog zu schreiben, ich möchte nicht den Ihrigen schreiben.“ Das war unser letztes Gespräch in der Nacht vom 11. auf den 12. Februar. Am 12. Februar war ich verhaftet, und sechs Wochen später erfuhr ich aus einer Notiz der Voss. Zeitung, daß Jogiches bei einem „Fluchtversuch“ aus dem Moabiter Kriminalgericht erschossen wurde. Jeder, der die eiserne Ruhe Jogiches kannte, wußte von vornherein, daß es eine Legende ist; daß die Agenten der Noskeregierung ihn erschossen haben, weil sie wußten, daß sie mit dem Hauptorganisator des Spartakusbundes zu tun hatten.

Leo Jogiches’ Grab befindet sich auf deutschem Boden, und die deutschen Proletarier werden das Andenken bewahren an den Mann, der in ihrer schwersten Stunde, obwohl ihnen fremd von Nation, ihnen größere Treue bewahrte als Männer, die sich jahrzehntelang deutsche Arbeiterführer nannten. Sie werden an ihn denken, als den Mann, der in der Nacht der schwärzesten Reaktion die Erfahrung eines kampfreichen Lebens in ihren Dienst gestellt hat, der ihnen geholfen hat, ihre erste Kampforganisation zu bauen. Aber wie sehr wir polnischen und russischen Kommunisten uns eins fülflen mit der deutschen kommunistischen Bewegung, so werden wir, wenn einst die polnischen Arbeiter ihren Boden von dem Parasitenpack befreit haben, die deutschen Arbeiter bitten, uns doch einen der beiden Großen, die aus der polnischen Bewegung herausgewachsen, ein Leben lang zusammen im Kampfe standen – Leo oder Rosa – zurückzugeben. Der Gedanke gebärt die Tat; aber die Tat ist näher der Erde als der Gedanke und deshalb gehört Leo Jogiches der polnischen Erde, die er als Organisator der polnischen Sozialdemokratie tief durchpflügt hat. Rosa Luxemburg ist nicht auf polnischem Boden groß geworden. Sie ist ein Kind deutcher Geisteskultur. Sie gehört der internationalen Arbeiterklasse. Ihr Freund Leo ist in den Kämpfen des polnischen Proletariats, an seiner Spitze groß geworden, und so werden die deutschen Genossen ihn uns gönnen müssen, damit wir einst ihm ein Denkmal stellen können auf den Abhängen der Warschauer Zitadelle, wo die Gebeine seines Freundes, Martin Kapschack ruhen, des Mannes, der sein Vorläufer in der Organisation der polnischen Arbeiterklasse war. Wir aber, die wir mit ihm zusammengearbeitet haben, werden ihm nicht nur als großen revolutionären Kämpfer ein liebevolles Andenken bewahren, sondern als den Menschen, der „kein ausgeklügelt Buch“, sondern „ein Mensch mit seinem Widerspruch“ war. Aber ein großer Mensch „nimmt alles nur in allem“, wie es bei einem großen Menschen notwendig ist.

März 1919


Zuletzt aktualiziert am 1. Oktober 2016