Karl Radek

Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches


Karl Liebknecht


I

Ihr habt seinen toten Körper, dessen Wunden gegen die Sozialistenverräter zum Himmel schreien, mit euren Tränen benetzt, mit der roten Fahne der proletarischen Weltrevolution habt ihr ihn zugedeckt und ihn in euren Herzen aufgebahrt, damit er dort für immer bleibe. Millionen von euch wissen von ihm nicht mehr, als daß er in der schwarzen Nacht, die nur vom Aufblitzen der Kanonen erhellt wurde, mit einer kleinen Schar aus dem Schützengraben aufbrach, um für den Frieden zu streiten, daß er, von den Mächtigen ins Gefängnis geworfen, standhaft jede Pein aushielt, und, kaum von Ketten befreit, das Banner des Kampfes von neuem erhob und mit ihm in der Hand gefallen ist, gefallen an der Schwelle eines neuen Lebens.

Ich will aber, daß jeder Proletarier über Liebknecht mehr wisse, daß er ihn liebe, nicht nur als blutüberströmtes Sinnbild eines Märtyrers, sondern so, wie er im Leben war, mit seinen Fehlern und Vorzügen, nicht als „ausgeklügelt Buch“, sondern als „Mensch mit seinem Widerspruch“. Der Mensch Liebknecht soll unser großes Vorbild sein, ein Vorbild für unsere Jugend, die kämpfen lernen soll, ein Vorbild für unsere Frauen, die sich vom Leben nicht erdrücken lassen sollen, ein Vorbild für unsere wetterharten Männer, wenn sie von Zweifeln heimgesucht werden. Es ist die Zeit noch nicht gekommen, an eine ausführliche Lebensbeschreibung Karl Liebknechts zu gehen. In seinem Trauerhause herrschen noch die Soldaten der deutschen Konterrevolution, und da ich diese Worte schreibe, ist eine Einsicht in die hinterlassenen Papiere nicht möglich, ja, illegal mich selbst verbergend, kann ich nicht einmal die gedruckten Dokumente sammeln. Aber ich glaube, daß ich sein reiches Leben in seiner Eigenart übersehe, und ich will es euch hier schildern, euch über ihn das sagen, was ich sagen würde, wenn ich am Tage der Totenfeier in Moskaus weißen Mauern wäre.

... An Liebknechts Wiege wurden Heldenlieder gesungen ... Die ersten Eindrücke, die der Knabe empfing, waren die Verfolgungen des Sozialistengesetzes. Die deutsche Bourgeoisie und die Hohenzollern suchten die ersten sozialistischen Regungen des deutschen Proletariats im Keime zu ersticken. Wer die verbrecherische Lehre verbreitete: „verprassen soll nicht der faule Bauch, was fleißige Hände erwarben,“ wer die Armen und Entrechteten weckte, für den gab es keine ruhige Arbeitsstätte, der mußte verfolgt von Ort zu Ort wandern, nirgends vor Häschern sicher.

Wilhelm Liebknecht blieb auf dem Posten und stellte den Kampf für den Sozialismus auch dann nicht ein, als es wieder galt, durch Leiden zu bezeugen, daß man für die Befreiung der Menschheit lebt. Karl mag als Kind sich oft gefragt haben, wonach die fremden Herren in der Wohnung seines Vaters schnüffeln, weshalb Leute heimlich nachts ins Haus kommen, still flüsternd wie Diebe: gute Menschen mußten es sein, da sie, von den Eltern freundlich empfangen, ihm, dem Kleinen, über das schwarze Köpfchen streicheln. So wuchs er auf in den Jahren der Verfolgung als Sohn des Soldaten der Revolution. Soldat, Kämpfer der Revolution zu sein, das war die Gabe, die ihm in seine Wiege gelegt wurde.

Das Sozialistengesetz fiel. Der wachsende erstarkende Kapitalismus hatte gleichzeitig auch die Arbeiterklasse zahlenmäßig verstärkt, und mit dem Wachstum der Arbeiterklasse wuchs die deutsche Sozialdemokratie trotz aller Verfolgungen. Es begann der „neue Kurs“, der Versuch, die Arbeiterklasse durch soziale Zugeständnisse zu gewinnen, und obwohl er äußerlich bald einem neuen scharfen Kurs wich, so war doch der Sinn dieser Epoche der, daß, während der erstarkende Kapitalismus den Massen der qualifizierten Arbeiter erträglichere Lebensbedingungen gewährte, er sie dadurch vom scharfen revolutionären Kampf zurückhielt. Nach außen hin bekam der Sozialismus „rote Backen“. Die Parteiorganisationen wuchsen, die Gewerkschaften blühten auf. In den Zahlabenden und auf den Parteitagen wurden revolutionäre Resolutionen angenommen. In der Praxis aber wurde der Kampf nur für kleine Verbesserungen der materiellen Lage der Arbeiter, nicht für die revolutionären Umwälzungen geführt. Und da Taten für den Charakter einer Partei ebenso maßgebend sind, wie sie den Charakter eines Menschen bestimmen, so wurde die Sozialdemokratie eine Partei der Reform und nicht der Revolution, mochte sie noch so revolutionäre Worte gebrauchen.

Karl Liebnecht, der in der Zeit dieser Mäßigung und Versteinerung der Partei zum Jüngling heranwuchs, der mit größter Anteilnahme die politischen und sozialen Ereignisse verfolgte, wenn er auch damals noch nicht aktiv in die Politik eingriff, war gleichsam schon erblich gegen diese Verbürgerlichung und Mechanisierung des revolutionären Geistes gesichert. Im Hause Wilhelm Liebknechts lebten die Traditionen des Jahres 1848, die Ueberlieferung der Revolution und des Kampfes um die Republik.

Es fiel mir schon vor zehn Jahren auf, als ich zum ersten Male Gelegenheit hatte, die deutsche Parteiführerschaft kennen zu lernen, daß Karl Liebknecht der einzige der „bodenständigen“ Führer war, für den der Republikanismus kein rein theoretisches Bekenntnis, sondern eine praktische aktuelle Frage war. Und das Zweite, was in die Augen sprang, war die Tatsache, wie wenig versteinert er in der Auffassung war, daß die Entwicklung langsam sein werde, daß weder die staatlichen noch die sozialen Verhältnisse in absehbarer Zeit in Fluß geraten werden. Dabei handelte es sich bei ihm keineswegs nur um das theoretische Abwägen der Kräfte, die das ruhige, „friedliche“ Europa bald in Aufruhr würden bringen können. Die Situation war noch nicht revolutionär, es galt zu den Massen zu gehen, um sie zu wecken. Und da tritt wieder ein charakteristischer Zug Liebknechts zutage. Vor dem Kriege wurde oft gegen ihn eingewendet, er sei sehr „breit“ in seinen Auffassungen, jede Form der Betätigung sei ihm lieb, wenn sie auch „prinzipiell“ nicht von größerer Bedeutung sei. Die Grundlage dieser Anklage bildete die in Deutschland ungewöhnliche Lebendigkeit Liebknechts, die ihm nicht erlaubte, auf Grund irgend welcher doktrinären Erwägungen, auf irgendein Mittel zur Beeinflussung der Arbeiter zu verzichten. So erklärt sich auch sein Eingreifen in die Bewegung für den Austritt aus der Kirche. Er hatte ein gutes Auge für neue Bedürfnisse, für neue, sich anbahnende Bewegungen.

Als er in die Politik eingriff, zeigten sich die ersten Zeichen des auch in Deutschland erstarkenden Imperialismus, das Hinausgreifen des Kapitals über die „vaterländischen Grenzen“ nach neuen Profitjagdgründen. Die Partei ahnte die daraus entstehenden Kriegsgefahren, aber nur Liebknecht sah sie bildlich lebendig, als den Moloch, der seine Arme nach Millionen proletarischer Jünglinge ausstreckt. So war er einer der wenigen, die zu der bedrohten Jugend eilten, um sie gegen diese Gefahren aufzurufen Die Partei verpönte die besondere antimilitaristische Agitation. Sie erklärte, die Erziehung der proletarischen Jugend müsse sie von selbst gegen den militaristischen Geist bewaffnen, und der gesamte Kampf des Proletariats gegen den Kapitalismus sei gleichzeitig ein Kampf gegen den Militarismus. Aber Liebknecht fühlte das Falsche in diesen „grundsätzlichen“ Erwägungen. Er sah, daß die „Erziehung“ der proletarischen Jugend allein nicht genüge, sondern daß die Jugend auch besonders gegen den Militarismus aufgerüttelt werden müsse. Er wußte wohl, daß der Militarismus nur zusammen mit dem Kapitalismus durch die proletarische Revolution zertrümmert werden kann, aber er verstand, wie wichtig es für diese Revolution ist, den in Soldatenkleider eingezwängten jungen Proletariern klar zu machen, daß ihre Befreiung vom Militarismus nur ein Teil des allgemeinen proletarischen Befreiungskampfes sein könne. Die Parteiführer schüttelten die Köpfe über die Sonderaktionen dieses „Brausekopfes“, aber der junge Liebknecht hielt zähe an seiner Sache fest. Sein revolutionäres Gefühl trieb ihn unabwendbar dazu.

Das Bewußtsein der drohenden internationalen Gefahr stärkte in Liebknecht die ererbten Gefühle des Internationalismus. Er war einer der wenigen in Deutschland, die das lebhafteste Bedürfnis hatten, zu wissen, wie es in den Bruderparteien steht, nicht nur in Frankreich oder Rußland, sondern selbst in einer beliebigen kleinen Balkanpartei.

Seine Reisen nach Amerika und Frankreich, sein nahes Verhältnis zu den russischen Genossen entsprangen dem Bewußtsein, wie unermeßlich wichtig es ist, die internationalen Beziehungen zu pflegen. Und wie eingehend, wie unermüdlich ließ er auf der Reise zum internationalen Kongreß in Kopenhagen, die wir von Berlin aus gemeinsam mit Leo Trotzki machten, sich über die verwickelten russischen Fragen belehren: Man wußte, für Liebknecht ist die Internationale kein formelles Bündnis verschiedener Parteien, sondern sie ist sein wirkliches Vaterland, wie es später die Leitsätze der Spartakusgruppe sagten. Die wertvollsten politischen Eigenschaften Liebknechts mußten ihn schon vor dem Kriege bei einem Teil der Führer unbeliebt machen, während sie ihm Popularität in den Arbeitermassen und in der Internationale schufen. Er sprang zu sehr aus dem Rahmen der deutschen Parteien heraus, als daß er von den kleinen Geistern nicht des Ehrgeizes beschuldigt werden sollte. Dazu kamen noch seine menschlichen Eigenschaften, durch die er ebenfalls von dem vorgeschriebenen Typus eines würdigen Parteiführers abwich. Er liebte das Leben; ungehemmt und unbekümmert griff er nach ihm, wo es ihn lockte. Es steckte so wenig Philistertum in diesem Knaben Absalom, so wenig von Heuchelei, so viel von kindlicher Freude am Leben, daß viele darüber den tiefen Ernst, die Müde und Feinheit seines Wesens übersahen. Ich werde nie vergessen, wie wir einmal bei einem Spaziergang im Gespräch auf Peer Gynt gerieten. Er kannte das Drama in der Uebersetzung von Passarge, und ich erzählte ihm von den Feinheiten der Morgensternschen Uebertragung. Er kam zu mir und las drei Stunden lang – es war schon weit nach Mitternacht – die Uebersetzung Morgensterns. Als er zu jener Szene kam, in der Peer Gynt im Säuseln der Blätter die Lieder, die er nicht gesungen, die Tränen, die er nicht geweint, die Kämpfe, die er nicht gefochten, klagen hört, klagen über ein Leben, das nicht ganz war, da strafften sich in Liebknechts Gesicht die Züge, und er sagte: „Die verfluchte halbe Zeit, und trotzdem kann man, muß man ein ganzes Leben führen.“ So war er vor dem Kriege, ein zündender Agitator, ein tatkräftiger Politiker, ein Feuerkopf, lebhaft und lustig, ein Liebling der Frauen, ein Mensch, gut – wie die Polen sagen – zum Kämpfen und zum Kneipen. In jeder Geste war er der Sohn seines Vaters, des großen Volksführers, des großen, lebendigen Menschen, der lachen konnte wie ein Kind.

Es kam der Krieg, und sein Feuer schmiedete aus allen diesen Elementen des Liebknechtschen Temperaments und Charakters den Helden der deutschen Arbeiterklasse.
 

II.

Der Krieg kam. Mit den ersten Nachrichten gelangte das Gerücht ins Ausland Liebknecht sei zusammen mit Rosa Luxemburg füsiliert worden. Diese Nachricht eilte der Wirklichkeit voraus, sie zeigte aber, daß im Auslande Freund und Feind wußte, von wem der Kampf gegen die Mächte des Krieges zu erwarten sei. Liebknecht war durch diese sich überstürzenden Ereignisse aufgewühlt. An der Schwelle des heroischen Abschnitts seines Lebens zahlte er den letzten Pflichtzoll der Partei, deren revolutionäre Macht sein zerronnener Traum war. Der Glauben der 4. August werde, nur eine traurige Episode bleiben, veranlaßte ihn, die Disziplin zu wahren und auf den offenen Protest gegen den Krieg am 4. August zu verzichten. Nach einigen Tagen sah er ein, daß er einen großen Fehler begangen hatte. Er näherte sich Rosa Luxemburg, deren streng theoretisch festgelegte Linie seiner breiten suchenden Natur fremd war, und es entstand zwischen beiden, trotz aller Unterschiede der Wesensart, ein Bund auf Leben und Tod. In den ersten Wochen des Krieges versuchen sie, sich an die Arbeitermassen zu wenden; die Regierung verbietet die öffentlichen Versammlungen. Liebknecht ist entschlossen, bei der zweiten Kreditabstimmung das Banner der Rebellion zu erheben. Er versucht ein gemeinsames Vorgehen der vierzehn Abgeordneten, die in der Reichstagsfraktion gegen die Annahme der Kriegskredite auftraten, zu erreichen. Sie versagen. Liebknecht, dem die Feiglinge später vorwarfen, er handle nur aus Eitelkeit, um als einziger zu glänzen, rang bis zum letzten Augenblick, um aus der Schar der wankenden Kollegen wenigstens zwei, wenigstens einen, auf den Weg des gemeinsamen Kampfes mit sich zu ziehen. Es war ein Jammer, zu sehen, wie er, obgleich er alle Mittel der intellektuellen und moralischen Beeinflussung anwandte, doch in einer Fraktion von über hundert Mann keinen Menschen zu erschüttern, keinem beizubringen vermochte, daß es galt, mit allen faulen Kompromissen zu brechen. Es zeigte sich, wie sehr letzten Endes der Zusammenbruch der Führerschaft ein moralisches Problem war. Liebknecht blieb allein. Seine Züge verhärteten sich, ein bitterer Zug legte sich um seinen Mund. Er entschloß sich, allein vorzugehen, trotz des Abratens der Freunde. In jener Stunde sah ich, wie in Liebknecht die letzten Zweifel zerrannen, die letzte Weichheit zerrann, wie sich in ihm die große moralische Kraft auslöste, die ihn bis zum Tode nicht verließ: die eiserne Entschlossenheit, den Weg dem Wiedererwachen des Sozialismus zu bahnen, selbst wenn es gelten sollte, alle Speere mit der eigenen Brust aufzufangen.

Der Kampf um die in den Schmutz getretene Fahne des Sozialismus wurde in der vollen Oeffentlichkeit aufgenommen. Die gesamte Presse suchte Liebknecht niederzuwerfen, teils durch Verleumdungen, teils durch Bagatellisierung seiner Tat. Er sollte terrorisiert weilen durch Drohungen und durch Suggestion, daß er sich nutzlos opfere. Doch Tausende nahmen Stellung für ihn. Die Erklärung über die Motive seiner Sonderabstimmung wurde von tausend Arbeitern abgeschrieben und vervielfältigt; sie ging von Hand zu Hand, sie weckte das Verantwortungsgefühl und verband Männer und Frauen zum Kampfe. Liebknecht wurde zum Mittelpunkt der entschiedenen Opposition. Ende Dezember 1914, als ich in die Schweiz kam, wurde mir in vollem Umfange klar, wie fruchtbar seine Tat international wirkte. Sie war das erste weithin sichtbare Zeichen, daß es in Deutschland revolutionäre Kräfte gab. Lenin, dieser Mann ohne jede Phrase, der vielleicht am schärfsten die Tiefe des Zusammenbruches der Internationale ausmaß, verstand sofort, daß der Entschluß, das Banner der Rebellion gegen die gesamte Fraktion zu erheben, eine Entscheidung ist, die das Signal zu unvergänglichen Taten gibt. Liebknechts Name wurde in der wachsenden Avantgarde des russischen Proletariats einer der geliebtesten, und nicht anders war es in Frankreich, in Italien. Barbusse hat ihm in seinem Feuer ein Denkmal gebaut, das des einzigen Deutschen, der wie ein Stern in der dunklen Nacht dem letzten Posten des französischen Sozialismus leuchtete ... Als im Oktober 1915 die versprengten Teile der kämpfenden Ueberreste der alten Internationale sich in Zimmerwald versammelten und Ledebour im Namen seiner Anhänger (der späteren Unabhängigen) auf Angriffe von links erklärte, es gäbe keine Fraktion Liebknecht, da rief ihm Trotzki unter dem lebhaften Beifall der Franzosen und Italiener zu: „Für uns gibt es nur die Fraktion Liebknecht.“

Durch die Denunziationen der sozialpatriotischen Presse genötigt, in der Schweiz zu bleiben, sah ich Liebknecht in diesen Jahren nicht wieder. Aber aus jedem seiner Spartakusbriefe, aus jeder seiner „kleinen Anfragen“ schaute mir das im Kampfe verhärtete Gesicht entgegen. Er war bereit, die letzten Konsequenzen zu ziehen ... Auf einen konspirativen Brief, in dem wir ihn baten, sich nicht zu sehr zu exponieren, antwortete er mir auf einer Postkarte aus Litauen mit einem Wort seines geliebten Euripides:

„Und liebe die Sonne nicht zu sehr
und nicht zu sehr die Sterne“.

Er verschwieg die folgenden Worte des Dichters:

„und folge mir ins dunkle Grab“;

denn jede Pose war ihm, dessen Leben eine heroische Tat wurde, fremd. Wer Liebknecht vor dem Krieg und während des Krieges kannte, der sah und konnte direkt mit Händen fassen, wie die unerhörte Verantwortung, die auf ihm lastete, aus einem frohen Menschen, der das Leben liebte und deshalb Vielen Vieles zu verzeihen verstand, einen eisernen unerbittlichen Kämpfer machte, wie ihn die Zeit verlangte. Wer ihn vor dem Kriege und im Kriege kannte, merkte förmlich, wie sein Charakter sich metallisch verhärtete.

Als die Nachricht von seiner Verhaftung auf dem Potsdamer Platz kam, fragten viele Freunde im Ausland, weshalb er in seiner exponierten Stellung an Demonstrationen teilnahm. Viele sahen darin ein Zeichen großer innerer Erregung, die ein Führer beherrschen können müsse. Was ihn auf die Straße getrieben hatte, war aber eben Pflichtbewußtsein. Das Vertrauen zu dem sozialdemokratischen Worte war, dank dem Verrat der Sozialdemokratie, so tief gesunken, daß, wer eine neue revolutionäre Macht bilden wollte, sich auf den geistigen Generalstabsdienst hinter der Feuerfront nicht begrenzen durfte. Der „Leichtsinn“ Liebknechts war tiefe Klugheit und sein Zuchthausmartyrium hat für die Revolution mehr getan, als das „vorsichtige“ Wirken einer ganzen Partei tun konnte. Die Zelle des Armierungssoldaten Karl Liebknecht wurde zum Zentrum einer ausströmenden, moralischen Kraft, die keine Isolierungskunst der Regierung eindämmen konnte. Das „Ich hab’s gewagt“, schallte hinaus in die Welt, feuerte zur Nachahmung an.

Es brach die russische Revolution aus, die erste Armee des Imperialismus meuterte, die erste des Sozialismus begann sich zu bilden. Als wir in Brest-Litowsk mit dem Grafen Mirbach und dem General Hoffmann am Verhandlungstisch saßen, da sprachen wir über ihre Köpfe hinweg mit dem Zuchthaussträfling und den Seinen. Das deutsche Proletariat antwortete auf unsern Ruf. Der Januarstreik brach aus. Keiner von uns nahm an, daß dies der Sieg sei, daß der deutsche Imperialismus nachgeben würde, und trotzdem lehnte Trotzki jedes Kompromiß ab. Es galt, trotz der größten Gefahr, dem deutschen Proletariat zu zeigen, daß wir ihm vertrauen. Es galt, dem Weltproletariat zu zeigen, daß uns der deutsche Imperialismus zerschmettern kann, aber daß wir freiwillig mit ihm keine Kompromisse schließen. Später, als wir doch genötigt wurden, den Frieden zu schließen, das Brester Kreuz auf uns zu nehmen und zurückzuweichen, da fragten wir uns oft in Unruhe: verstehen. Liebknecht und die Seinen unsere Lage und Taktik? Und Liebknecht erzählte mir später, welche Qualen er im Zuchthaus litt, als er dachte, daß alle unsere Opfer nutzlos sein könnten, daß die deutsche Arbeiterklasse vielleicht nicht zeitig genug aufstehen würde, um sich mit uns zu verbinden. Er fürchtete, daß wir mit unseren Zugeständnissen zu weit gehen würden, und rief aus dem Zuchthaus seine Freunde an, zu handeln, damit uns der letzte bittere Kelch erspart bleibe.

Aus Angst vor der nahenden Revolution ließ ihn die am Rande des Bankerotts stehende Regierung des deutschen Imperialismus frei. Sein erster Gang war in die russische Botschaft. In der Nacht nach seiner Befreiung teilte uns Bucharin durch Fernschreiber mit, Karl sei mit uns vollkommen einig. Die Freude der russischen Arbeiter über Liebknechts Befreiung läßt sich nicht aussprechen. Hätte er damals zu uns kommen können, kein König ist jemals so empfangen worden, wie Liebknecht von den russischen Arbeitern empfangen worden wäre.

Als ich Ende Dezember nach Deutschland kam und nach vier Jahren Liebknecht wieder die Hände drücken konnte, sagte er ruhig, ohne die geringste Enttäuschung: „Wir sind erst am Anfang, der Weg wird noch lang sein.“ Und wir waren mit Rosa Luxemburg und ihm einig, daß man die Entfernung bis zum Ziel nur abkürzen kann durch unermüdliche Agitation, Propaganda und Aktion. Wer miterlebt hat, wie die beiden vom frühen Morgen bis zum späten Abend arbeiteten, wie sie entschlossen die letzten Bande zerschnitten, die sie mit der Welt der Halbheiten noch verbanden, indem sie die Kommunistische Partei Deutschlands gründeten, wer es erlebte, wie sie inmitten des revolutionären Taumels die eigenen Anhänger vor Ueberspanntheiten warnten, der konnte tiefes Vertrauen zur kommunistischen Bewegung Deutschlands fassen.

Liebknecht sollte die neue Zeit nicht erleben. Die erste Welle der proletarischen Revolution trug ihn weiter, als er wollte, riß ihn mit sich. Im Sturm sah er die Entfernung nicht genügend scharf. Als der Januaraufstand niedergeworfen war und die sozialpatriotische Regierung nach ihm fahndete, wagte niemand, ihm den Gedanken an. die Flucht nur nahezulegen, obwohl es klar war, daß seine Verhaftung Todesgefahr barg. Er wollte sich der Pogromhetze entgegenwerfen. An dem Tage, an dem ihn die Mörderkugel erreichte, regte er den Gedanken an, in den nächsten Tagen öffentliche Versammlungen einzuberufen. Da fiel er in die Hände der Schergen, die in ihm und Rosa Luxemburg die deutsche, die internationale Revolution treffen wollten. Er fiel in der ersten Phase des Kampfes, voll Zuversicht und Siegesbewußtsein. Er fiel, wie er lebte: auf der Kampfesposition gefangen genommen. Und wir, die wir ihn nahe kannten in seinen Vorzügen und Schwächen, die wir den unermeßlichen Verlust verstehen, den die Revolution erlitt, da aus ihren Reihen dieser eiserne Kämpfer gerissen wurde, wir sagen an seinem Grabe: „Für uns wird er ein Muster sein für die Treue dem Sozialismus gegenüber, für den Opferwillen und für den Mut, ohne den die Revolution nicht siegen kann!“ Liebknecht beseelte die tiefe Einsicht nicht nur in die objektive Notwendigkeit des Kommunismus, sondern die noch tiefere persönliche Sehnsucht nach dem vollen harmonischen Leben, das nur auf dem Boden des Kommunismus möglich ist und diese Sehnsucht entsprang einer unermeßlichen Liebe und Güte, einem Mitgefühl mit jeder leidenden Kreatur, einer Hilfsbereitschaft, ohne die der Sozialismus ein Schemen ist. Die Oeffentlichkeit kennt nur Liebknecht, den heroischen Kämpfer. Breite Kreise der Proletarier, die sich an ihn als Rechtsanwalt wandten, die bei ihm menschliche Hilfe fanden, liebten ihn als Menschen. Der Kämpfermut Liebknechts war die Vereinigung seiner Liebe zu jedem Menschen und der Einsicht, daß in der Zeit, in der wir leben, man nicht helfen kann dem individuellen Leid, ohne den Kampf auf Leben und Tod für den Sozialismus zu beginnen. In diesem jetzt tobenden Kampfe fiel er. Und ihm werden Tausende in den Märtyrertod folgen, bis die nackte, hungernde, mit Wunden bedeckte Menschheit ihrer Märtyrer in Liebe zu gedenken, Muße haben wird. Soldat der Revolution nannte sich sein Vater. Karl Liebknecht ist die Ehre zugefallen, diesen Titel mit seinem Tode im Kampfe zu erwerben. Die Sowjetrepublik hat für ihre tapfersten Söhne das Zeichen des „Roten Sternes“ gestiftet. Legt es am Grabe Liebknechts nieder, und möge jeder unserer Freunde keine größere Ehre kennen, als die, durch Erringung dieses Zeichens sich Karl Liebknechts Geiste anzunähern, der den Weg ging, den wir bis zu Ende schreiten wollen, auch wenn jeder von uns sich den Roten Stern erst auf der Bahre erwerben sollte.

Berlin, den 18. Januar 1919


Zuletzt aktualiziert am 1. Oktober 2016