Karl Retzlaw

SPARTACUS
Aufstieg und Niedergang

* * *

2. Die Hoffnung Berlin


Unsere Tante stand trotz der frühen Morgenstunde mit einem Handkarren vor dem Schlesischen Bahnhof im Osten Berlins. Wir luden unsere Sachen auf und zogen durch die Straßen der großen Stadt, nach dem Norden, zur Acker-, Ecke Bernauer Straße, wo unsere Tante in einer Kellerwohnung lebte. Hier blieben wir einige Tage, bis meine Mutter in der nahegelegenen Strelitzer Straße ein Zimmer mit Küche fand. Die Wohnung lag im dritten Hinterhaus zu ebener Erde. Der Häuserblock war eine schauerliche Mietskaserne. Ich konnte die Schluchten einmal von oben sehen. Das war an dem Tage, als das neueste Zeppelinluftschiff zum ersten Male über Berlin flog, und ich auf dem Dach des Hauses war. Jedes Quergebäude war vier Stockwerke hoch. Auf den kleinen rechteckigen asphaltierten Höfen standen die Mülltonnen, an den Wänden waren die üblichen Schilder angebracht: „Das Spielen der Kinder auf dem Hofe ist verboten!“

Nicht weit entfernt von unserer Wohnung lag die Voltastraße mit dem großen Gebäude der Allgemeinen Elektrizitäts Gesellschaft (AEG). Hier auf der Straße wurde nachmittags um 4 Uhr der „Arbeitsmarkt“ der beiden größten Berliner Tageszeitungen als Sonderdruck verteilt. Die Arbeitslosen von Berlin-Nord stellten sich dort täglich auf, brav geordnet in Viererreihen, unter Aufsicht von Polizeibeamten, um auf der Stelle das Blatt nach einer Arbeit durchzusehen. Dadurch hatten sie einen Vorsprung gegenüber denen, die den Arbeitsmarkt in der Zeitung erst am anderen Morgen lasen. Meine Mutter ging auch mehrere Male dorthin, und bald fand sie Arbeit als Früchtekocherin in einer Marmeladenfabrik.

Mit dem ersten Verdienst wurden Möbelstücke eingelöst, die meine Mutter in Schneidemühl dem Spediteur übergeben hatte. Vom zweiten Lohn wurden lange Hosen für mich gekauft, damit ich älter wirken sollte und Arbeit suchen konnte: es galt mitzuarbeiten zum Unterhalt der Familie. Zuerst war ich natürlich zur Schule angemeldet worden. In Berlin gab es nur vormittags Unterricht; das ermöglichte es mir nachmittags bis abends arbeiten zu gehen.

Der erste Versuch mißglückte. Ich hatte eine Stelle in einem Geschäft für Klempnerbedarf gefunden, für das ich mit einem Handkarren Bleirohre und Wasserhähne an Klempner zu liefern hatte. Doch schon nach einigen Tagen wurde ich von der Polizei „aufgeschrieben“, weil ich den überladenen Karren auf einer ansteigenden Straße nicht ziehen konnte und einen Menschenauflauf verursachte. In der nächsten Stelle war ich Austräger bei einem Mützenmacher. Ich erhielt drei Mark in der Woche und täglich eine Tasse Malzkaffee mit einer Semmel. Der Mützenmacher war Witwer, den Hausstand führte eine Haushälterin. Hier blieb ich eineinhalb Jahre. Dann heiratete der Mann nochmals, und die neue Frau sagte mir: „Der Nachmittagskaffee für dich ist abgeschafft.“ Ich gab die Stelle auf, weil mich ohne die Semmel und den Kaffee hungerte. Die Arbeitszeit war auch zu lang, sie dauerte öfters bis 8 und 9 Uhr abends.

Eines Abends, als wir alle zu Hause waren, pochte es an der Tür. Als die Mutter öffnete, drangen zwei Männer, jeder einen Revolver in der Hand, in die Wohnung ein. Sie schauten in jeden Winkel, in den Schrank, unter die Betten, und erklärten endlich, Kriminalbeamte zu sein und nach meinem zweitältesten Bruder zu suchen. Wir erfuhren nun, daß mein Bruder, der seit mehreren Monaten Rekrut bei einer Pioniereinheit in Strasbourg im Elsaß war, nach einer Nachtübung am Rhone-Rhein-Kanal verschwunden war. Die Militärbehörden nahmen an, er sei desertiert. Einige Wochen später wurde seine Leiche im Kanal gefunden. Die Behörden, die nicht feststellen konnten oder nicht wollten, ob ein Unfall oder gar ein Verbrechen vorlag, entschieden für Selbstmord. Irgendwelche Beweise oder Anhaltspunkte für diesen Entscheid erhielt meine Mutter nicht.

Mittlerweile war ich vierzehn Jahre alt geworden und aus der Schule entlassen. Eine Lehrstelle konnte ich nicht sogleich finden, weil die Lehrherren ein „Lehrgeld“ verlangten und keinen Arbeitslohn geben wollten. Meine Mutter hatte kein Geld, ihr Verdienst reichte für unseren Unterhalt nicht aus. Es war auch in der Großstadt sehr schwer, zu unserem täglichen Brot zu kommen. Wir hatten Zeiten, in denen es ab Donnerstag bis zur Lohnzahlung am Sonnabend kein Mittagessen gab. Unsere Hauptsorge war stets, das Geld für die Wohnungsmiete bereit zu haben. Zudem war unsere Mutter sehr oft krank. Krankheitstage wurden nicht bezahlt, und weil es immer nur ein oder zwei Tage in der Woche waren, an denen Mutter nicht arbeiten gehen konnte, erhielt sie auch keine Krankenunterstützung. Bei uns zu Hause gab es selten Obst und niemals Butter. Abgesehen von meiner frühesten Kindheit, wurde ich siebzehn Jahre alt, bis ich zum ersten Male Butter aß. Aufs Brot wurde Schmalz, Kunsthonig oder Rübensaft gestrichen. Wir waren arm im bittersten Sinne des Wortes: Mangel an Nahrung, Mangel an Wohnraum, Mangel an Zeit. Doch daß wir von Schneidemühl fortgegangen waren, bereuten wir nie.

Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, daß im Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg die Lebenshaltungskosten stabil gewesen seien. Die Rüstung und der Kriegsflottenbau verbrauchten einen immer steigenden Anteil am Volkseinkommen. Die Preise der Grundlebensmittel stiegen in Deutschland in der Zeit von 1900 bis zum Ausbruch des Krieges 1914 um 27 Prozent.

Ich fand Arbeit in einer kleinen Bronzegießerei, die Beschläge für Möbel und Türen herstellte. Hier begann ich mit meinen ersten Reformversuchen. Ich mußte für die Belegschaft, es waren zwölf bis fünfzehn Mann, zur Mittagszeit Bier zu ihren Brotschnitten holen. Nach einigen Tagen ging ich nicht mehr zur Kneipe, um die leeren Flaschen gegen volle umzutauschen, sondern ging zum Milchladen und ließ die Flaschen mit Milch füllen. Die Metallgießer waren überrascht, einige waren wütend, andere waren amüsiert einverstanden. Mit mehreren Flaschen mußte ich zurück zur Kneipe, um Bier zu holen. Ich überzeugte immerhin einige Arbeiter, daß in einer Gießerei Milch weit gesünder sei als Bier; diese blieben bei Milch. Mit weiteren Versuchen, auch das Rauchen, Fluchen und Zotenerzählen abzuschaffen, hatte ich wenig Erfolg.

Für unsere Familie war es ein Glücksfall, daß nur einige Minuten von unserer Wohnung entfernt die Kapelle der Baptistengemeinde von Berlin-Nord war. Die ganze Familie konnte zu jedem Gottesdienst dort sein, und meine beiden älteren Schwestern leiteten außerdem sonntagnachmittags Kindergruppen in der „Sonntagsschule“.

Eines Sonntags brachte meine Schwester einen Negerknaben mit nach Hause, der Manga Bell hieß. Der Knabe war wohl zwölf Jahre alt und war der älteste Sohn des Königs von Kamerun, King Manga Bell, also der „Kronprinz“. Er sprach fließend deutsch. Manga Beil studierte in einer Internatsschule in Neuruppin, die von einer Mission unterhalten wurde. Einer seiner Lehrer war Baptist, und dieser nahm den Knaben bei Besuchen in Berlin des öfteren mit. So kam er in die Baptisten-Gemeinde Berlin Wattstraße und in die Sonntagsschule, die meine Schwester betreute. Manga Bell war einige Male unser Sonntagsgast. Nach einiger Zeit verließ Manga Bell das Internat in Neuruppin, um in einer anderen Schule erzogen zu werden. Ich sah den Jungen nicht wieder, hörte auch nicht von ihm. Später las ich, daß sein Vater und mehrere seiner Verwandten von den Deutschen gehängt worden waren. Als 1914 der Krieg ausgebrochen war, der dann auch nach Kamerun übergriff, verlangten die deutschen Kolonialherren von King Manga Bell die Teilnahme am Krieg gegen England und Frankreich. King Manga Beil lehnte ab und erklärte seine Neutralität. Er hatte nicht die geringste Veranlassung und Neigung, sich mit seinem Volk in einen Krieg für die Deutschen zu stürzen. Die Deutschen waren in Kamerun die Herren, die Unterdrücker, die die Sklaverei eingeführt hatten. Das beste Land war den Stämmen abgenommen und darauf riesige von Deutschen geleitete Plantagen errichtet worden. Mit Hilfe der deutschen Kolonialtruppen waren Zehntausende junge gesunde Eingeborene mit Gewalt aus ihren Heimatdörfern geholt, oft aneinander gekettet und zur Arbeit auf den Pflanzungen gezwungen worden. Die Arbeitsverhältnisse waren grausam. Auf der Tiko-Pflanzung zum Beispiel wurden die eingeborenen Arbeiter so schlecht behandelt und so mangelhaft ernährt, daß binnen eines knappen Jahres fünfzig bis siebzig von hundert starben. Die Empörung und Verzweiflung der Eingeborenen entlud sich einige Male in Aufständen, die blutig niedergeschlagen wurden. Was sollte also King Manga Bell bewegen, für die Deutschen zu kämpfen? Nicht nur King Manga Bell wurde von den deutschen Truppen gehängt. Mit ihm starben zahlreiche Dorfhäuptlinge und deren Angehörige. Andere Kameruner mögen gezwungen, oder durch Versprechungen verführt, auf Seiten der Deutschen gekämpft haben.

Fast drei Jahrzehnte später saß ich in Paris bei Joseph Roth im Café Tournon, es waren auch Valeriu Marcu, Josef Bornstein und Hermann Kesten in der Runde, als sich eine dunkelhäutige Dame zu uns setzte. Josef Roth stellte sie vor: „Madame Manga Bell“. Sie war eine intelligente und schöne Frau; teilweise deutscher Abstammung, ihre Mutter war Hamburgerin. Bei Nennung des Namens fiel mir der Negerknabe aus der Sonntagsschule meiner Schwester ein, und ich erzählte ihr von meiner Bekanntschaft mit dem Jungen Manga Bell 1912 in Berlin. Sie sagte, dieser Manga Bell sei ihr Mann; jetzt Senator für Kamerun im Senat der Französischen Republik. So erneuerte ich meine Bekanntschaft mit der Familie Manga Bell in der Tischrunde Josef Roths. Der Mord an King Manga Bell war nicht vergessen. Die Tochter des Ehepaares bestand das französische Fliegerexamen und wurde Fliegeroffizier in der Armee de Gaulles.

Ich hatte schon in Schneidemühl gern und viel gelesen. Seit ich in Berlin war, las ich intensiver, aber keine Schmöker mehr. Ich weiß nicht, warum ich zuerst an den Büchern Peter Roseggers Gefallen fand. Sein Buch Die Schriften des Waldschulmeisters las ich so oft, daß ich es beinahe auswendig kannte. Ich kam bald zur Weltliteratur und las Dickens, Mark Twain, Zola, Maupassant, Victor Hugo; als ich die Skandinavier las, wollte ich Skandinavien zu meiner Wahlheimat machen. Die Bücher J. P. Jacobsens und B. Björnsens begleiteten mich bis Jahre später zu Georg Brandes Julius Cäsar und den Werken Sigrid Undsets. Doch den unauslöschlich prägenden Einfluß der Literatur spürte ich erst bei den russischen Autoren. Angeregt durch Zeitungsberichte vom Tode Leo Tolstois im November 1910 las ich in den folgenden Jahren seine Werke und die Dostojewskis, Turgenjews, Gorkis, Puschkins, Gogols, Lermontows und anderer, soweit deutsche Übersetzungen erschienen waren.

In den Schriften der Russen spürte ich einen die Seele aufrüttelnden Geist und einen Sinn für die Nöte der Mitmenschen. So kam ich eigentlich durch die russische Literatur zum Sozialismus Jahre vor der Russischen Revolution von Bevor ich zu den Schriften Trotzkis und Lenins kam, kannte ich die Erinnerungen von Alexander Herzen und Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. Ich studierte in diesen Jahren die Geschichte der Dekabristen bis zu Sophie Perowska, um einen erregenden Einblick in das Leben Rußlands zu bekommen. Ich sparte nur noch für Bücher und erwarb mit den Jahren einen umfangreiche Bibliothek, die 1933 von den Nazis gestohlen und zerstört wurde. In den Büchern fand ich den Reichtum, der mein Leben ausfüllte. Aus der Literatur lernte ich das menschliche Verhalten in der Gesellschaft kennen, das Wesen anderer Menschen und Völker, die Formen des gesellschaftlichen Lebens und die Kritik ihrer Mängel.

Ich war Arbeiter und hatte nichts als den Lebens- und Arbeitswillen. Ich hatte früh genug erfahren, daß große Armut auch Kulturlosigkeit ist. Armut ist kein „großer Glanz aus innen“. Besonders dann nicht, wenn kein Geld für Petroleum und Gas da ist und man im Dunkeln sitzend auf die Schlafenszeit warten muß. Oft stand ich mit einem Buch an einem erleuchteten Schaufenster, um lesen zu können. Ich lernte, daß „Bildung“ der Sinn für Schönheit und Kultur ist und genauso wie Charakter erworben werden muß. Voraussetzung ist allerdings die Beseitigung von Armut, und Zeit zum Denken. In der Teilnahme am gesellschaftlichen, also am politischen Leben, ist der Sinn des Lebens zu finden. Gerade solange es vermeidbare Armut, vermeidbares Elend und Kriege gibt, muß ein jeder wissen, wo er hingehört. Man muß Partei nehmen.

Bei meinem Gang durch die Straßen im Norden Berlins entdeckte ich in der Brunnenstraße, gar nicht weit von unserer Wohnung entfernt, ein Arbeiter-Jugendheim. Ich ging hinein, Heimleiter war der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Fritz Kuhnert. Das Heim war erst kurz zuvor eingerichtet worden. In dieses Heim ging ich nun so oft es mir möglich war. Das Heim stand unter Polizeiaufsicht. Polizisten erschienen öfters zu den Abenden und überprüften die anwesenden Jugendlichen nach ihrem Alter. Es kam vor, daß die Polizisten Jugendliche unter achtzehn Jahren zur Polizeiwache mitnahmen, sie dort auch mißhandelten und mit Zwangserziehung drohten. Das damalige Reichsvereinsgesetz verbot Jugendlichen unter achtzehn Jahren jede politische Organisation und Betätigung. Das Jugendschutzgesetz in der Industrie dagegen galt nur für Jugendliche bis zu sechzehn Jahren. Das Vereinigungsverbot galt nur für die Arbeiterjugend. Die sogenannten christlichen und patriotischen Jugendorganisationen, der „Kriegerverein der Jugend“ und „Jungdeutschlandbund“, die „Pfadfinder“ und andere wurden amtlich gefördert; sie können mit Recht als Vorläufer der Hitlerjugend gelten. Der „Jungdeutschlandbund“ hatte vor dem Kriege über Mitglieder, er war mehr als zehnmal stärker als die organisierte Arbeiterjugend in Deutschland.

An unseren Heimabenden wurde aus den Werken der deutschen Klassiker vorgelesen, am beliebtesten war Heinrich Heine. Es wurden Lieder zur Laute gesungen; Dame, Domino und Schach gespielt. Vorträge über Politik und Religion waren polizeilich verboten. Beim Vortragen unseres Lieblingsgedichts von Heinrich Heine mußte stets ein Aufpasser an der Tür stehen, um darauf zu achten, daß wir nicht von Polizisten überrascht wurden:

»Ein neues Lied, ein besseres Lied
O Freunde, will ich Euch dichten:
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein.
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch
Was fleißige Hände erwarben.«

Die Arbeiterjugend war eine recht harmlose Angelegenheit. Tabak-und Alkoholgenuß waren bei den Zusammenkünften im Jugendheim nicht erlaubt. In Vorträgen wurden wir belehrt, wie schädlich diese Gewohnheiten für Jugendliche sind. Mit diesen Prinzipien war es uns schwer möglich, in anderen Lokalen zusammenzukommen; Gastwirte vermieteten keine Vereinszimmer an Nichtraucher und Nichttrinker. Es waren meistens Söhne und Töchter sozialdemokratisch oder gewerkschaftlich organisierter Väter. Mehr als dreißig Jugendliche waren kaum jemals an einem Abend erschienen; unter diesen waren nur vier oder fünf Mädchen. Es ging ebenso „artig“ zu wie früher in der baptistischen Sonntagsschule. Alle glaubten an eine bessere Zukunft, und sie wußten, daß diese nicht von allein kommen wird, sondern erkämpft werden muß. Ihr Idealismus war gedämpft durch Müdigkeit, alle hatten sie einen langen Arbeitstag hinter sich.

Zum Verständnis der Ziele der „Arbeiterjugend“ möchte ich einen kurzen Abriß aus der Geschichte einflechten. Der Kongreß der Sozialistischen Internationale, der im Jahre 1900 in Paris stattgefunden hatte, hatte mit den Stimmen der deutschen Delegation eine Entschließung angenommen, in der es hieß:

»... daß die sozialistischen Parteien überall die Erziehung und Organisation der Jugend zum Zwecke der Bekämpfung des Militarismus in Angriff nehmen und mit größtem Eifer zu betreiben haben.«

Besonders eifrig zeigte sich der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) in der Durchführung dieses Beschlusses aber nicht. Die radikale Jugend fand wenig Unterstützung bei den Erwachsenen. Außerdem hatte die SPD nur wenige geeignete Kräfte, die Jugendbildungsarbeit leisten konnten. Die Politik der Führung der SPD war um diese Zeit auch schon bestrebt, „salonfähig“ zu werden. Führende Parteileute strebten beinahe um jeden Preis nach kommunalen und staatlichen Ämtern. Die Arbeiterjugend wurde daher von manchen Vorstandsmitgliedern der Partei und der Gewerkschaften eher als lästige, denn als willkommene Nachwuchsorganisation angesehen. Vom Staatsapparat, von der Kirche beider Konfessionen und von den Unternehmern wurden die sich langsam bildenden Arbeiterjugendorganisationen bald als gefährliche Gegner eingeschätzt, und sie begannen das Verbot der „Arbeiterjugend“ zu fordern. Eines ihrer Organe, die antijüdische Staatsbürgerzeitung der Alldeutschen, die am Kaiserhof und vor allem in Beamtenkreisen gelesen wurde, überschlug sich ins Lächerliche und schrieb ungeduldig: „Es scheint, daß man in unseren regierenden Kreisen erst dann zur Einsicht kommen werde, wenn es zu spät ist, wenn die Ministersessel umgestürzt sind, wenn die Throne wanken und krachen.“ So zitterten Alldeutsche Welteroberer vor den einigen hundert Lehrlingen und jungen Arbeitern. Die Gegner erreichten ihr Ziel. Das Reichsvereinsgesetz von 1908 verbot Jugendlichen unter achtzehn Jahren jede politische Betätigung und Vereinigung.

Die Organisation der Arbeiterjugend in Berlin hatte eine besonders erregende Vorgeschichte. Im Jahre 1904 hatten Spaziergänger im Berliner Grunewald einen Knaben an einem Baum erhängt gefunden. Die Untersuchung des Toten ergab, daß der Körper des Jungen voller blutiger Wunden war, der Rücken war mit Striemen bedeckt. Der Erhängte war ein fünfzehnjähriger Schlosserlehrling, der seinem Leben ein Ende gemacht hatte, weil er von seinem Lehrherrn ständig grausam geschlagen worden war. Die Lehrherren hatten damals das Züchtigungsrecht; einen gesetzlichen Schutz vor Rohlingen fanden Jugendliche nicht. Wer sich nicht schlagen lassen wollte, konnte von der Polizei in die Zwangserziehungsanstalt gebracht werden, wo noch mehr geschlagen wurde, und wo die Selbstmorde noch häufiger waren. Berichte in einer Berliner Montagszeitung über den Tod des Lehrlings brachten die Jugend in Bewegung. Mehrere intelligente und tatkräftige Lehrlinge kamen zusammen und gründeten einen Verein. Aus den ungefähr zwanzig Gründungsmitgliedern war nach einigen Monaten ein Kreis von über fünfhundert geworden. Jetzt war der Verein auch stark genug, um eine Zeitschrift zu gründen, deren Beiträge ausschließlich von Jugendlichen geschrieben wurden.

Von der Gründung an unterlag der Verein, und die Zeitschrift den gehässigsten Polizeischikanen. Der Berliner Polizeipräsident von Jagow wies seine Beamten an, schonungslos gegen die Arbeiterjugend vorzugehen. Er deckte auch alle ungesetzlichen Handlungen der Polizisten. Jahre später, nach dem Zusammenbruch im November 1918, verlor von Jagow zwar seine Stellung, sonst aber blieb er ungeschoren. Von Jagows Polizei hatte auch – neben anderen – die Akten über die politischen Verfolgungen der Arbeiterjugend vor und während des Krieges rechtzeitig vernichtet. Dieser Polizeipräsident war derselbe von Jagow, der später, 1920, Innenminister der Putschregierung Kapp-Lüttwitz wurde.

1914. Meine Mutter hatte eine günstige Wohnung im nordwestlichen Stadtteil Moabit gefunden, und wir waren nach dort umgezogen. Zum Arbeiterjugendheim Brunnenstraße war es nun zu weit für mich; ich habe es nicht wieder gesehen. Später erfuhr ich, daß es bei Kriegsbeginn geschlossen worden war.

Die fünf Wochen zwischen der Ermordung des österreichischen Thronfolgerehepaares Ende 1914 und dem Ausbruch des Krieges waren erfüllt von aufgeregten Gesprächen mit Arbeitskollegen. Kriegerisch-wichtigtuerisch wurde wiedergegeben, was sie von anderen hörten oder in Zeitungen gelesen hatten. „Serbien muß zerschmettert werden“. Niemand von ihnen wußte, daß die nationalistisch-revolutionäre Aktivität in Bosnien und der Herzegowina bereits seit der gewaltsamen Einverleibung dieser Gebiete durch Österreich existierte. Der Attentäter war ein Bosnier, also ein Zwangsösterreicher. Er und seine Komplizen waren Jugendliche, noch keine zwanzig Jahre alt. Es waren Angehörige der sechzehn Nationalitäten, aus denen der Nationalitätenstaat Österreich bestand. Über die unheilbringenden Umtriebe der herrschenden deutschen und österreichischen Militärs, die endlich „ihren Krieg“ wollten, berichteten die deutschen Zeitungen nicht.

In letzter Stunde veröffentlichte der Parteivorstand der SPD einen energischen Protestaufruf gegen den Krieg. Dieser wurde für mich und für die Mitglieder des Jugendbildungsvereins, von dem ich erzählen werde, richtungsgebend; wir nahmen den Aufruf gegen den Krieg ernst. Für die folgende unterwürfige Ableugnung aller Antikriegsbeschlüsse durch die gleiche Parteileitung hatten wir kein Verständnis. Heute wissen wir es: alles, was in den folgenden Jahren geschah, hatte seinen Ursprung im Juli/August Ganze Bibliotheken sind mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges über die Ursprünge und über die unmittelbaren Ursachen geschrieben worden. Ich kann ohne Übertreibung sagen, daß ich eine Menge Bücher darüber gelesen habe. Ich fand wenige neue Tatsachen in den zahlreichen Einzelheiten und Auslegungen.

»Aufruf

Noch dampfen die Äcker auf dem Balkan von dem Blute der nach Tausenden Hingemordeten, noch rauchen die Trümmer verheerter Städte, verwüsteter Dörfer, noch irren hungernd arbeitslose Männer, verwitwete Frauen und verwaiste Kinder durchs Land und schon wieder schickt sich die vom österreichischen Imperialismus entfesselte Kriegsfurie an, Tod und Verderben über ganz Europa zu bringen.

Verurteilen wir auch das Treiben der groß-serbischen Nationalisten, so fordert doch die frivole Kriegsprovokation der österreich-ungarischen Regierung den schärfsten Protest heraus. Sind doch die Forderungen der Regierung so brutal, wie sie in der Weltgeschichte noch nie an einen selbständigen Staat gestellt sind, und können sie doch nur darauf berechnet sein, den Krieg geradezu zu provozieren.

Das klassenbewußte Proletariat Deutschlands erhebt im Namen der Menschlichkeit und der Kultur flammenden Protest gegen dies verbrecherische Treiben der Kriegshetzer. Es fordert gebieterisch von der deutschen Regierung, daß sie ihren Einfluß auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens ausübe, und falls der schändliche Krieg nicht zu verhindern sein sollte, sich jeder kriegerischen Einmischung zu enthalten. Kein Tropfen Blut eines deutschen Soldaten darf dem Machtkitzel der österreichischen Gewalthaber, den imperialistischen Profitinteressen geopfert werden.

Parteigenossen, wir fordern Euch auf, sofort in Massenversammlungen den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewußten Proletariats zum Ausdruck zu bringen. Eine ernste Stunde ist gekommen, ernster als irgendeine der letzten Jahrzehnte. Gefahr ist im Verzuge! Der Weltkrieg droht! Die Herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Gewalthabern in die Ohren klingen:

Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Krieg! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!

Berlin, den 25. Juli 1914

Der Parteivorstand«

Jedoch, ehe dieser Aufruf die nötige Verbreitung fand, ehe auf diesen Aufruf Taten folgten – niemand wußte, ob Taten folgen sollten –,wurden auf Betreiben der Militärs am 30. Juli in den Straßen Berlins Extrablätter des des alldeutschen Hetzblattes, Berliner Lokalanzeiger, verteilt mit der Bekanntgabe der Mobilmachung. Für die deutschen Militärs galt der Grundsatz, daß Mobilmachung gleich Krieg ist. Wir wußten damals nicht, daß das österreichische Ultimatum an Serbien vom 23. Juli bereits am 27. Juli von Serbien im wesentlichen angenommen worden war und daß die Kriegserklärung Österreichs an Serbien am 28. Juli vom deutschen Generalstab verlangt wurde. Demnach war die Kriegserklärung an Serbien ein Gewaltakt der deutsch-österreichischen Militärkaste. Der Parteivorstand verleugnete einige Tage später seinen Aufruf vom 25. Juli und bejahte den Krieg, wie man in Deutschland am Tage nach einer Wahl die Wahlaufrufe zu vernichten pflegt. Auf Seiten der Arbeiterschaft war nun keine Kraft vorhanden, die die Kriegsmaschine aufhalten konnte. Noske erklärte später zynisch, er habe befürchtet, „... am Brandenburger Tor zu Tode getrampelt zu werden, wenn er gegen die Kriegskredite gestimmt hätte“.

Die Bejahung des Krieges durch die Mehrheit der Reichstagsfraktion der SPD, unterstützt von der Mehrheit der Gewerkschaftsvorstände, riß auch die Arbeiterjugend in den allgemeinen Taumel hinein und wischte damit Sinn und Zweck der Jugendorganisation weg. Die bisherigen Opfer und die Erinnerungen an die erlittenen Unterdrückungen sollten vergessen sein.

 


Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023