Karl Retzlaw

SPARTACUS
Aufstieg und Niedergang

* * *

8. Noske und der Beginn der Genossenmorde


Die zum Ende des Jahres 1918 nach Berlin einberufene Konferenz des Spartakusbundes, der Bremer Internationalisten und anderer dem Spartakusbund nahestehenden Gruppen und Personen tagte am 30. und 31. Dezember 1918 und am Neujahrstag 1919. Die Konferenz wurde zum Gründungsparteitag der „Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund)“. Durch die den Krieg bejahende Politik des Parteivorstandes der deutschen Sozialdemokratie war das Herz des Sozialismus, Kampf dem Kapitalismus, internationale Solidarität und Kriegsgegnerschaft herausgerissen. Auf dem Gründungskongreß zeigten sich die Folgen der spärlichen Verbindungen der revolutionär und oppositionell gesinnten Sozialisten während des Krieges. Der Belagerungszustand, die Illegalität oder Gefangenschaft der führenden Spartakusmitglieder hatten eine Verständigung über die bevorstehenden Aufgaben sehr erschwert und auf zu kleine Kreise beschränkt. Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Paul Levi und andere Gründer und Mitglieder der Zentrale des Spartakusbundes waren auf Grund der Beschlüsse der Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16. Dezember 1918, die Macht an das Parlament abzugeben, für die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung und an den Parlamentswahlen der Länder und der Gemeinden. Luxemburg und Jogiches schlugen außerdem vor, die neue Partei „Sozialistische Partei“ zu nennen, nicht „Kommunistische“. Als Karl Radek, der aus Moskau gekommen war, die Einladung zur Gründung der „Kommunistischen Internationale“ überbrachte, lehnten Luxemburg und Jogiches auch diese Neugründung als verfrüht ab. Sie wurden jedoch von der Mehrheit der Konferenzteilnehmer in allen Punkten überstimmt. Die Mehrheit verwarf die Teilnahme an den Wahlen der Nationalversammlung und zu den Länderparlamenten und beschloß die neue Partei „Kommunistische Partei Deutschland (Spartakusbund)“ zu nennen. Die Rede Karl Radeks, der als Vertreter des Zentralkomitees der „Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki)“ – sprach, war entscheidend für die Haltung der Mehrheit.

Gewiß waren Luxemburg und Jogiches für eine Räteverfassung. Sie waren auch für eine neue sozialistische Partei und für eine neue sozialistische Internationale, aber sie hatten aus dem Verlauf der Ereignisse seit dem 9. November erkannt, daß die übergroße Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse dem revolutionären Spartakusbund nicht folgte. Sie waren sich darüber klar, daß vom alten Staatsapparat zwar das Militär von außen schwer angeschlagen, daß aber die anderen Glieder des Staatsapparates, Polizei und Justiz, nur wenig erschüttert waren. Alles in allem war der alte Staatsapparat immer noch stärker als die zersplitterte und erschöpfte Arbeiterschaft, besonders aber darum stärker weil die Mehrheitssozialdemokratie den alten Staatsapparat stützte und wieder festmauerte. Aus dieser Erkenntnis heraus solle nach dem Willen Luxemburgs und Jogiches eine entschieden anti-kapitalistische, aber doch mehr aufklärende Politik betrieben werden. Gerade wegen ihrer zahlenmäßigen Schwäche mußte die neue Partei im Programm die Prinzipien des Sozialismus radikal und eindeutig verkünden. Volle Anerkennung fand Rosa Luxemburg als Verfasserin des Programms nicht. Es wurde zwar im Ganzen angenommen doch sollte es von einer Redaktionskommission noch einmal bearbeitet werden.

Mit dem neuen Namen und dem neuen Programm wollten wir jetzt beginnen, die Parteiorganisationen in ganz Deutschland aufzubauen. Doch neue Ereignisse rissen uns in einen Strudel der die neue Partei fast vernichtete. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches wurden feige ermordet.

Die Konterrevolution formierte sich schneller, als wir unsere neue Partei organisieren konnten. In den sieben Wochen seit dem Novembersturz hatten sich so viele Teile alter Truppeneinheiten wieder aufgerichtet und neue waren unter der Bezeichnung „Freikorps“ in der Aufstellung begriffen, daß wir täglich mit ihrem Losschlagen rechnen mußten. Noske war als Mitglied der Reichsregierung Anfang Januar 1919 von einem Oberst Reinhard auch zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht „gemacht“ worden. In einer Besprechung mit Abgesandten Hindenburgs hatte Noske unter dem Beifall der Offiziere erklärt, daß gegen die Revolutionäre mit den schärfsten Mitteln vorgegangen werden müsse. Er werde die Verantwortung übernehmen. „Einer muß der Bluthund sein,“ erklärte Noske wörtlich. Den Offizieren war es sehr recht, daß ein Sozialdemokrat der Bluthund sein wollte. Die Ernennungsurkunde zum Oberbefehlshaber war ursprünglich auf den Namen des Generals Hoffmann ausgestellt. Oberst Reinhard strich den Namen Hoffmann durch und schrieb Noske darüber. Die Regierung Ebert erkannte diesen Akt eines Offiziers ohne weiteres an. So ein Mann wie Noske kam den vornehmen Herren der Kaste, die sich anmaßten, die „Elite der Nation“ zu sein, für ihre Pläne sehr gelegen. Ihre Abneigung gegen die Großstädte mit ihrer proletarischen Bevölkerung war traditionell anerzogen. Sie kannten von der Kriegsschule her die Worte Bismarcks:

»... daß ich allerdings der Bevölkerung der großen Städte mißtraue, daß ich dort das wahre preußische Volk nicht finde. Letzteres wird vielmehr, wenn die großen Städte sich wieder einmal erheben sollten, sie zum Gehorsam zu bringen wissen, und sollte es sie vom Erdboden vertilgen.«

Für die aktuelle Aufgabe der Konterrevolution, die Niederwerfung der revolutionären Arbeiter, war der Mann aus den Reihen der Sozialdemokratie gefunden: Noske. Die zweite Sache, der Revanchekrieg, brauchte mehr Zeit. Dazu suchten sie einen weiteren Mann, der ihnen die notwendige Massenbasis schaffen sollte. Dieser tauchte in den nächsten Monaten des Jahres 1919 auch auf: Adolf Hitler.

Der Name Noske war mir nicht erst seit seinem Eintreten für den Krieg bekannt. Als Junge hatte ich, ich glaube es war im Jahre 1912, in der Zeitung eine Reichstagsdebatte gelesen, die sich mir unauslöschlich einprägte. Karl Liebknecht hatte im Reichstag einen Protest eingebracht gegen Schießübungen an Leichen auf dem Truppenübungsplatz Döberitz bei Berlin. Die Kommandantur von Döberitz hatte aus Berliner Krankenhäusern Leichen holen lassen. Diese wurde an Pfähle gebunden, um die Wirkung von Gewehr- und Revolverschüssen an den Leichen auszuprobieren. Während Liebknecht protestierte stand sein Partei- und Fraktionsgenosse Noske auf und rief: „Sollen denn die Versuche an Lebenden gemacht werden?“ Darob gab es freudige Zustimmung und Gelächter bei den Rechtsparteien und betretenes Schweigen bei der Sozialdemokratischen Fraktion.

Noske nahm in seiner Funktion an den Besprechungen der Offiziere der Truppenteile und der neuen Freikorps teil. Er wußte somit „aus erster Hand“ von ihren Plänen. Er wurde auch verantwortlich für die Fortsetzung des Krieges gegen die neuen Staaten des Ostens, wo der Waffenstillstand vom 9. November 1918 von den deutschen Truppen nicht eingehalten wurde. Das Selbstbestimmungsrecht wurde verlacht, die besetzten baltischen Provinzen Rußlands wurden nicht geräumt. Die russische Regierung aber hatte den Gewaltvertrag von Brest-Litowsk sofort nach dem deutschen Zusammenbruch im November annulliert.

Ich erwähnte schon, daß bereits einige Wochen nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs die Frage gestellt wurde: Beibehaltung und Ausbau der Arbeiter- und Soldatenräte, das heißt: Ausschaltung des bisherigen kaiserlichen Machtapparates, oder Nationalversammlung. Die Regierung der Volksbeauftragten hatte für Auflösung der Arbeiter- und Soldatenräte entschieden. Die Mehrheit des Reichskongresses der Arbeiter- und Soldatenräte stimmte diesem Beschluß zu. Sie waren durchaus nicht alle revolutionäre Gesinnungsgenossen mit einem gemeinsamen Programm. Nur wenige Arbeiterund Soldatenräte hatten überhaupt eine Vorstellung von ihrer Funktion. Daher verschwanden die meisten durch Selbstauflösung, der Rest wurde mit Gewalt liquidiert. Manche Soldatenräte wurden auch durch Mord beseitigt. Der damalige sozialdemokratische Oberpräsident von Ostpreußen, August Winning, erzählt in seinen Erinnerungen von solch einem Mord. Ein Soldatenrat, berichtet Winning, wurde beim Verlassen der Kaserne aus einem Fenster hinterrücks erschossen. Den Mörder fand man nicht. „Die Soldaten hielten Treue“, schrieb Winning.

In der deutschen Geschichte finden wir eine ähnliche Situation. Im März 1848 hatte der preußische Militarismus von den Bürgern Berlins einen schweren Schlag erhalten. Nicht wenige republikanisch Gesinnte glaubten sogar, daß er niedergeworfen sei. So legten die beiden Abgeordneten Struwe und Hecker dem sogenannten Vorparlament in Frankfurt am Main, Ende 1848, ein republikanisches Programm vor. Das Vorparlament stellte das Programm zurück und setzte einen Ausschuß ein, der erst die Meinung des deutschen Volkes erforschen sollte. Struwe und Hecker wurden nicht in den Ausschuß gewählt. Sie verließen das Vorparlament, und in Oberbaden kam es zu einem Sympathieaufstand des Volkes für Struwe und Hecker. Die Wahlen zum Parlament in der Paulskirche zu Frankfurt am Main konnten stattfinden, aber viel unwiederbringliche Zeit war verloren gegangen. Das Militär schlug zu, das Parlament wurde aufgelöst, ein General wurde Ministerpräsident. Danach liefen nicht wenige vorgebliche Republikaner und Demokraten zu den Junkern und Militaristen über und gebärdeten sich reaktionärer als diese. Die Unschlüssigkeit der Demokraten 1848 führte zur Verpreußung Deutschlands, wie das Bündnis der Sozialdemokraten mit den Militärs 1918/19 zum Nationalsozialismus führte. 1848 und 1918–19 kamen die Retter des Militarismus aus den Reihen der Leute, die bislang vorgegeben hatten, Gegner des Militarismus zu sein.

Die sozialdemokratische Tageszeitung Vorwärts zitierte in diesen Tagen mehr als die bürgerliche Presse den angeblichen „Terror“ der Spartakisten. Terror im Sinne des Wortes gab es damals nicht. Es wurden keine Menschen ermordet, es gab keine Plünderungen. Die Unzufriedenheit der in Gärung befindlichen Massen, die fast täglichen Demonstrationen und Versammlungen, die der Regierung auf die Nerven gingen wurden als Terror bezeichnet. Vom Spartakusbund wurde zwar ständig zu politischen Versammlungen und Demonstrationen gegen den Wiederaufstieg der reaktionären kaiserlichen Beamten- und Militärkaste aufgerufen, aber die täglichen Ansammlungen vor den Lebensmittelkarten-, Arbeits- und Wohlfahrtsämtern, bei denen es meistens sehr laut herging, waren spontane Unmutsäußerungen der Bevölkerung, die nach Nahrung, Brennmaterial, ärztlicher Hilfe, usw. verlangte. Die in diesen Tagesnöten unfähige Regierung und lokale Behörden konterten mit Behauptungen, daß es noch schlimmer werden würde, wenn Spartakus an die Macht käme. Dann würden die Entente nicht nur die Blockade verschärfen, sondern auch den Krieg wieder beginnen. Die Presse verbreitete derartige Behauptungen nur zu gern. „Spartakus“ wurde ein Sammelschimpfwort, wie früher der Ruf „Sozi“ und wie es bald der Ruf „Jude“ werden sollte.

Das Verhängnis kam schnell über uns. Nach dem Ausscheiden der unabhängigen sozialdemokratischen Minister aus der Regierung wollte die Ebert-Regierung auch den populären Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn absetzen, der ebenfalls der USPD angehörte und den Posten einem Mehrheitssozialdemokraten Eugen Ernst geben. Eichhorn lehnte den Rücktritt ab. Er verwies darauf, daß er vom Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte eingesetzt worden sei und nur von diesem wieder abberufen werden könne. Eugen Ernst und der neubestellte Berliner Stadtkommandant Fischer die sich bereits im Polizeipräsidium aufhielten, mußten es wieder verlassen. Als der Versuch der Absetzung Eichhorns in Berlin bekannt wurde strömten spontan Hunderttausende Berliner zum Alexanderplatz, um ihre Solidarität mit Eichhorn zu bekunden. Es war ein Sonntag, der 6. Januar 1919. Ich war unter den Demonstranten. Mit meinem Jugendbildungsverein marschierte ich innerhalb eines starken Zuges, dem sich unterwegs weitere Gruppen anschlossen, zum Alexanderplatz.

Vor dem Polizeipräsidium sprachen Eichhorn und andere Führer der USPD zu den Massen. Alle Redner protestierten gegen die besonders niedrige Hetze der sozialdemokratischen Parteizeitung Vorwärts. Nach Beendigung der Reden ertönte plötzlich der Ruf „Auf zum Vorwärts!“ und pflanzte sich tausendfach fort. Sogleich formierte sich ein mehrere tausend Menschen starker Zug, in dem auch ich mich befand. Vor dem Gebäude des Vorwärts angekommen, gab es nur einen kurzen Kampf am Eingang mit der Sicherheitstruppe. Das Gebäude wurde besetzt, die Sicherheitstruppe und die Angestellten wurden nach Hause geschickt, Schußwaffen waren nicht benutzt worden, Verluste gab es auf beiden Seiten nicht. Im Vorwärtsgebäude fanden wir eine Menge leichter und schwerer Waffen vor, von Handfeuerwaffen bis zum Minenwerfer.

Es ist niemals festgestellt worden, wer eigentlich die Losung „Auf zum Vorwärts!“ ausgegeben hatte. Es wurde in den folgenden Jahren viel darüber diskutiert, ob es ein Provokateur gewesen sein könnte. Das ist möglich. Doch kann es ebensogut ein Demonstrant gewesen sein, der durch die ungeheure Menschenmenge in Wallung geraten war. So entstehen eben spontane Aktionen; irgend jemand gibt die Parole aus, die in der Luft liegt. Das gehört zur Atmosphäre erregter Zeiten. Unbestreitbare Wahrheit ist, daß der Zug zum Vorwärts nicht vorbereitet war. Auf keinen Fall war er von der soeben erst gegründeten Kommunistischen Partei beschlossen worden. Auch nicht vom „Revolutions-Ausschuß“, der in der Nacht vom 5. zum 6. Januar aus Karl Liebknecht, Georg Ledebeur und Paul Scholze gebildet wurde. Die Besetzung des Vorwärts erfolgte vor der Bildung dieses Revolutions-Ausschusses, der die Ebert-Regierung für abgesetzt erklärte und sich dann selbst auflöste, ohne eine Funktion ausgeübt zu haben. Die Ereignisse dieser Tage können nicht im Geiste des durch den verlorenen Krieg enttäuschten Spießers beurteilt werden. Es ist verständlich, daß die Erbitterung der betrogenen Arbeiter sich gegen eine Presse richtete, die sie jahrelang angelogen, sie gegen andere Völker gehetzt hatte und nun fromm und bieder nach „Ruhe und Ordnung“ rief. Nach Art von Konvertiten geiferten die Redakteure des Vorwärts am meisten. Hinzu kam, daß sich der Abscheu eines großen Teils der Berliner Arbeiterschaft gerade gegen den Vorwärts richtete, weil die vom Militärkommando während des Krieges abgesetzte Redaktion nach dem Zusammenbruch nicht wieder in ihre frühere Stellung eingesetzt worden war. Ebert und Scheidemann hielten an Friedrich Stampfer fest. Die „Linke“ der SPD, die jetzt die USPD bildete, hatte den Vorwärts stets als ihr Blatt betrachtet, das ihr von der Militärregierung gestohlen worden war.

Im Anschluß an die Besetzung des Vorwärts besetzten andere Gruppen Berliner Arbeiter für einige Tage das ganze Zeitungsviertel in Berlin. Von der Aktion gegen die Zeitungen und von der Bildung des „Revolutions-Ausschusses“ wußten Rosa Luxemburg und Leo Jogiches anfangs nichts. Es gibt keine Revolution in der Weltgeschichte, die von Anfang an kühl und bedachtsam in den Grenzen ihrer Kraft geblieben ist. Niemand kennt am Anfang diese Grenzen.

Der Verlauf der Besetzung des Vorwärts beweist auch, daß die Aktion nicht geplant und nicht organisiert war. An die tausend Menschen standen in der Kälte des Januartages vor und im Hause in Gruppen herum und diskutierten. Ich suchte vergeblich nach einer Leitung der Aktion. Nach einigen Stunden, am späten Abend, ging ich wie die meisten anderen Demonstranten nach Hause. Seit dem frühen Vormittag war ich auf den Beinen gewesen, ich war müde und hungrig.

Am Montagmorgen ging ich wieder zum Vorwärts und traf auf Karl Grubusch, der mich erst über die anderen Vorgänge, Bildung des „Revolutions-Ausschusses“, Besetzung des Zeitungsviertels, informierte. Der Vorwärts solle sofort mit dem Untertitel „Organ der revolutionären Arbeiterschaft Groß-Berlins“ weiter erscheinen. Ich sollte mitarbeiten. Zuerst fuhr ich mit dem Fahrrad in Berlin herum, um die Setzer und Drucker zusammenzuholen. Die Chefredaktion hatte ein blasser schmächtiger Mann übernommen: Eugen Leviné.

Die Druckereiarbeiter erschienen zur Arbeit. Zeitungspapier war in großen Mengen im Hause, und so konnte die erste Nummer des neuen Vorwärts in den Mittagsstunden des 7. Januar erscheinen. Das Blatt brachte auf der ersten Seite einen Aufruf, der im Pathos der Revolution mit den Worten begann:

»Arbeiter! Genossen! Alle Mann auf die Straße!

Die Revolution ist in Gefahr! Größer denn je ist die Gefahr! Ihr müßt zeigen, daß Ihr bereit seid zu jedem Opfer! Zeigt, wie ihr es gestern bewiesen habt: daß die ganze Arbeiterschaft Groß-Berlins bereit ist einzustehen, bereit ist, zu kämpfen für die Revolution!«

Grubusch hatte es inzwischen übernommen, mit Arbeitern, die über Nacht im Vorwärts geblieben oder Montag früh wieder zurückgekehrt waren, die Verteidigung des Gebäudes zu organisieren. Ich wurde als nicht brauchbar zum Kampf mit der Waffe zurückgewiesen, weil ich noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt hatte. Ich ging nur noch nach Hause, um zu essen, nachts blieb ich im Vorwärts, um bei dem Angriff der Regierungstruppen gegen diese mitkämpfen zu können. Am Tage fuhr ich mit meinem Fahrrad mehrere Male durch die Stadt, um nach Truppenbewegungen Ausschau zu halten. Die Vorbereitungen des Gegenangriffs der Regierungstruppen waren schon im Gange. Schwer bewaffnet, auch mit Geschützen, marschierten sie ungehindert durch die Straßen Berlins.

Die „staatsmännischen Eigenschaften“, die Ebert und Noske zugeschrieben werden, bestanden eigentlich nur darin, den sogenannten Fachleuten Vollmacht zu geben. Diese besorgten dann alles im Sinne ihres Soldatenberufs. Die Fachleute gingen auf ihren Racheexpeditionen gegen Deutsche ebenso brutal vor, wie sie in den Kriegen gegen die Hereros oder Belgier, Russen, Franzosen usw. vorgegangen waren. Die Mahnung „Deutsche schießt nicht auf Deutsche“ kannten Ebert, Noske und die Militärs nicht.

So unblutig es bei der Besetzung des Vorwärts zuging, so verderbenbringend wurde die bald folgende Verwirrung und Schwäche. Das Mitglied des Spartakusbundes und des Roten Soldatenbundes Karl Grubusch hatte zwar die Leitung der Verteidigung des Vorwärts, aber das besagte nicht, daß er auch eine Befehlsgewalt hatte, über jede Maßnahme wurde in einem zufällig gebildeten Gremium von 20 bis 30 Personen stundenlang diskutiert. So verlangten Redner, daß in den Maschinenräumen Posten aufgestellt werden sollten, um eventuelle Sabotageakte abzuwehren. Das geschah auch. Die Maschinen des Vorwärts blieben unbeschädigt. Andere wichtigere Sicherungen, die im Interesse der Verteidiger waren, wurden mißachtet. Ein Redner machte zum Beispiel den richtigen Vorschlag, in den Kellern die Mauern zu den Nachbarhäusern zu durchstoßen, um bei Artilleriebeschuß ausweichen zu können. Dieser Vorschlag wurde abgelehnt. Manche glaubten solange nicht an den Einsatz von Artillerie, bis der Einschlag der Geschosse die Ahnungslosen eines anderen belehrte. Der Vorwärts aber konnte am Tage nach der Übergabe an die Nosketruppen dank der unbeschädigten Maschinen wieder erscheinen und brachte das berüchtigte „Gedicht“ mit der Aufforderung zur Ermordung Liebknechts und Luxemburgs. Der Aufmarsch der Regierungstruppen, die in den Übungslagern Wünsdorf-Zossen und Döberitz zusammengestellt wurden, war in einigen Tagen vollendet. Bis Donnerstag war das gesamte Viertel um den Vorwärts herum umzingelt, ohne daß vorerst der Verkehr gesperrt wurde. An den Straßenecken hatten die Truppen Gewehrpyramiden und Maschinengewehre aufgestellt. Die Passanten wurden nach Waffen abgetastet, aber noch durchgelassen. Das alles geschah unter den Augen der Millionenbevölkerung Berlins, die sich passiv verhielt. Wären größere Teile der Bevölkerung wirklich revolutionär gesinnt gewesen, so hätten sie die Truppen mit Leichtigkeit entwaffnen können.

Ich hatte auch die Verbindung zum geheimen Büro der Parteizentrale zu halten und fuhr täglich einmal hin. Als ich am Freitag ins Büro kam, sagte mir Mathilde Jakob im Auftrag von Rosa Luxemburg, daß ich noch vor dem Abend Eugen Leviné aus dem Vorwärts zu einer dringenden Sitzung der Zentrale geleiten solle. Auf dem Rückweg zum Vorwärts bemerkte ich, daß die Truppen inzwischen die Umzingelung verengt hatten, sie waren um einige Straßenecken vorgerückt. Ich war unbewaffnet und machte einen unbeteiligten Eindruck und kam so durch die Sperren wieder in den Vorwärts zurück. In dem Riesenbürohaus mußte ich lange suchen, ehe ich Leviné fand und ihm den Auftrag ausrichten konnte. Nach einigem Hin- und Herreden mit seinen Mitarbeitern war Leviné bereit, mit mir zu gehen. Er wollte aber noch in der Nacht zurückkehren. Es war inzwischen Abend geworden. Ich führte Leviné zum vereinbarten Treffpunkt. Von dort fuhr ich nach Hause, um zu essen und meine Sachen zu ordnen, für den Fall, daß ich aus dem bevorstehenden Kampf nicht zurückkehren sollte. Meiner Mutter sagte ich nichts von meinem Vorhaben, ich hinterließ nur einige Zeilen für sie. Dies war mein letzter Gang in den belagerten Vorwärts. Die Posten hielten mich einige Male an, ich konnte aber passieren. Es war um Mitternacht, als ich wieder im Vorwärts war. Leviné kam nicht mehr in den Vorwärts zurück.

Am frühen Morgen begann der ungleiche Kampf, der nach einigen Stunden mit unserer Kapitulation endete. Die Regierungstruppen waren in der Dunkelheit von allen Seiten aufmarschiert und hatten in der Entfernung von nur 300 bis 400 Metern schwere Maschinengewehre, Geschütze und Minenwerfer in Stellung gebracht. Die Nachbarhäuser waren von Schützen besetzt worden, die auf den Dächern lagen und hinter den Schornsteinen hockten. Die Schützen konnten von allen Seiten in die großen Fenster und in die Höfe des großen Bürohauses hineinsehen und ein gezieltes Feuer auf die Verteidiger abgeben. Wir hatten bald mehrere Tote und Schwerverletzte, ohne daß wir einen gegnerischen Schützen sahen. Jetzt stellte sich zu unserer Bitterkeit heraus, daß der Vorwärts nicht von einer disziplinierten Kampfgruppe, sondern von protestierenden Demonstranten besetzt war, von denen die meisten jetzt erst begriffen, daß ein tödlicher Kampf im Gange war. Für die Nichtkämpfer war es jetzt zu spät, das Gebäude zu verlassen. Sie suchten Schutz in den Kellern und hinter den Papierrollen in der Druckerei.

Wir hatten immer noch die Hoffnung, daß die Arbeiterschaft von Berlin uns beistehen würde. Seit Tagen gingen gern geglaubte Gerüchte unter der Vorwärts-Besatzung um, daß hunderttausend Arbeiter im Rücken der Noske-Truppen aufmarschieren würden. Noch in der letzten Nacht vor dem Angriff der Regierungstruppen hieß es, daß die Arbeiter der Schwarzkopfwerke und ein nach Tausenden zählender Zug bewaffneter Arbeiter aus Spandau zu unserer Hilfe in Anmarsch sei. Immer wieder glaubten wir Signale im Rücken der Noske-Truppen zu hören. Es waren Illusionen.

Mit dieser Schilderung will ich keinen der Beteiligten irgendwie herabsetzen. Wohl alle waren bisher Sozialdemokraten. Niemand hatte eine revolutionäre Kampferfahrung und fassungslos erlebten sie, daß ihre bisherigen Parteigenossen, die jetzt in der Regierung saßen, schonungslos Mittel anwendeten, wie sie in Deutschland in inneren Kämpfen seit 1848 nicht angewendet worden waren. Kaiser Wilhelm II. hatte zwar geredet, daß seine Soldaten gegebenenfalls auf Vater und Mutter schießen müßten, doch gab er niemals den Befehl dazu. Die sozialdemokratische Regierung Ebert-Noske tat es sofort bedenkenlos.

Nur einige tapfere kleine Gruppen erwiderten das Feuer der Regierungstruppen und kämpften mit so verbissener Entschlossenheit, daß die Regierungstruppen keinen Angriff wagten. Ich war Wasser- und Munitionsträger und rannte von Zimmer zu Zimmer. An Waffen und Munition waren nur vorhanden, was wir bei der Besetzung des Vorwärts vorgefunden hatten.

Es liegt mir nicht, eine Gefechtsbeschreibung zu geben. Der Verlauf des Kampfes war so primitiv, wie ein Kampf gegen eine erdrückende Übermacht sein kann. Die Noske-Truppen zerschossen mit schweren Maschinengewehren die Fensterscheiben und Fassaden des Vorwärtsgebäudes und der benachbarten Häuser. Als wir uns nach zwei Stunden noch nicht ergeben hatten, begann das Artilleriefeuer der Regierungstruppen. Die Granaten durchschlugen die Wände, rissen die Erker hinunter und hüllten das Gebäude in eine Staubwolke ein. In den Räumen war der Staub so dicht, daß wir vielfach nichts mehr sehen konnten, in einigen Räumen brach durch Treffer in die Gasleitungen Feuer aus. Jetzt begann eine Panik unter denen, die keinen Willen zum weiteren Widerstand hatten. Sie rannten durch die Korridore „Gas! Gas!“ schreiend. Das Zimmer, in dem sich die Leitung der Besatzung befand, war von heftig Diskutierenden angefüllt, die Grubusch bestürmten, den Widerstand aufzugeben und das Gebäude zu übergeben.

Karl Grubusch und der Dichter Werner Möller erboten sich, eine Delegation als Parlamentäre zu führen, um über die Übergabe zu verhandeln. Weiße Tücher schwenkend verließen sieben Parlamentäre das Haus. Sie sollten niemals zurückkommen. Ihre verstümmelten Leichen sahen wir zwei Stunden später auf dem Hof der Dragonerkaseme in der Belle-Alliance-Straße liegen. Zerschossen, zerstochen, zertrampelt, lagen die Leichen allen sichtbar auf dem Hof, lachende Noske-Truppen, zum Teil blutbespritzt, standen herum.

Die Mörder behaupteten später, die Parlamentäre hätten „Dum-Dum-Geschosse“ in ihren Taschen gehabt. Diese niederträchtige Lüge hatten die Soldaten im Kriege gelernt. Die gleiche Lüge hatte besonders in den ersten Kriegsmonaten Belgien und Nordfrankreich als Vorwand gedient zur Erschießung der Zivilbevölkerung, Männer, Frauen, Kinder, und zur Niederbrennung von Ortschaften. Gesinnungsgenossen der Mörder, Journalisten und „Historiker“, die ohne zu prüfen voneinander abschreiben, übernehmen diese Lüge über die Parlamentäre auch heute noch. Es ist ohne jeden Zweifel unglaubwürdig, daß unbewaffnete Parlamentäre, die über die Übergabe verhandeln sollten, sich vorher die Taschen mit „Dum-Dum-Geschossen“ füllen.

Wir wollten bis zur Rückkehr der Parlamentäre die Verteidigung weiterführen. Trotz schweren Geschütz- und Maschinengewehrfeuers hielten wir eine weitere Stunde aus. Einen Sturmangriff wagten die Regierungstruppen immer noch nicht. Dann erschienen zwei Soldaten mit einer weißen Fahne und erklärten, daß mit unseren Parlamentären die Übergabe vereinbart worden sei. Daß unsere Parlamentäre bereits ermordet waren, sagten sie nicht. Jeder solle die Waffen niederlegen und einzeln mit erhobenen Armen den Vorwärts verlassen. Es kamen ungefähr dreihundert Personen aus dem Gebäude, dahinter einige Frauen, die durch Rote-Kreuz-Armbinden als Sanitäterinnen kenntlich waren. Über diese große Anzahl war ich selber verblüfft; ich hatte, wenn ich durch die Räume gegangen war, die Stärke der Besatzung auf höchstens hundert Personen geschätzt, von denen wiederum ungefähr vierzig bis sechzig Kämpfer mit Gewehr oder mit Maschinengewehren am Kampf beteiligt waren. Auf der Straße mußten wir uns in Viererreihen aufstellen, dann wurden wir, mit erhobenen Armen gehend, unter den Schlägen mit Gewehrkolben und Peitschen der Noske-Soldaten zur Dragonerkaserne eskortiert. Die Straßen waren umsäumt von Männern und Frauen, von denen einige mit Stöcken und Schirmen nach uns schlugen. Ich erinnere mich besonders an einen vorüberfahrenden Bierwagen, dessen Kutscher eine Lederschürze trug, und der mit seiner Peitsche in unsere Kolonne einschlug.

Auf dem Hofe der Dragonerkaserne angekommen, wurden wir an die Mauer geführt, vor der die hingemetzelten Parlamentäre lagen. Schwere Maschinengewehre wurden aufgestellt, die Läufe schußbereit auf uns gerichtet. Ich stand in der vorderen Reihe. Furcht hatte ich nicht. Rasch zog ich meinen Mantel aus und legte ihn vor mich hin, in der Annahme, daß er meiner Mutter zurückgegeben wurde. Das war mehr eine unwillkürliche Bewegung; unsere Reste wären so ausgeraubt worden, wie die vor uns liegenden Leichen der Parlamentäre ausgeraubt waren. Doch es geschah nichts. Wir standen so mehrere Stunden. Wie ich später erfuhr, telefonierten die Offiziere mit der Ebert-Regierung und wollten eine schriftliche Genehmigung zur Erschießung der dreihundert Gefangenen haben. Am Telefon soll Noske für die Erschießung gewesen sein, er wollte den Befehl jedoch nicht schriftlich geben.

Soldaten kamen und gingen, höhnten, drohten, schrien „verfluchte Deserteure“ und schlugen einzelne Gefangene nieder. Plötzlich ertönte ein Kommando und das Schußfeld wurde frei. Der Schütze vor mir hielt den Finger am Abzug, ein anderer hielt den Patronengurt. In diesem Moment kam ein Motorradfahrer in den Hof gefahren und übergab dem kommandierenden Offizier ein Schriftstück. Wir standen in dieser Spannung mit dem schußbereiten Maschinengewehr vor uns ungefähr noch eine weitere Stunde. Dann wurden wir in einen Pferdestall geführt, wo wir über Nacht blieben.

Viele Gefangene waren beim Kommando „schußfrei“ auf die Knie gefallen. Auch meine beiden Nachbarn links und rechts fielen nieder und klammerten sich so an mich, daß sie mich fast umgeworfen hätten. Der Übernächste blieb wie ich stehen. Im Stall sprachen wir miteinander. Es war ein italienischer Journalist mit Namen Misiano. Er war als Berichterstatter im Vorwärts gewesen. Als er sich bei der Übergabe als Journalist ausweisen wollte, war er zurückgestoßen worden. Misiano war Mitglied der Sozialistischen Partei Italiens, später nach der Gründung der Kommunistischen Partei Italiens, trat er zu dieser über. Ich traf ihn zehn Jahre später einmal in Moskau.

Nachdem wir die Nacht stehend oder auf dem Boden sitzend verbracht hatten, zum Hinlegen reichte der Platz nicht aus, wurden wir am folgenden Vormittag zum Zellengefängnis in der Lehrter Straße eskortiert. Wieder marschierten wir in Viererreihen, die Arme über dem Kopf erhoben, durch die Straßen Berlins. Vor und hinter uns fuhren Autos mit schußbereiten Maschinengewehren, an den Seiten gingen Soldaten mit Bajonetten auf den Gewehren. Es war Sonntagvormittag. Die Straßen waren wenig belebt. Die wenigen Männer und Frauen, denen wir begegneten, waren wahrscheinlich Kirchgänger. Wie am Tage zuvor johlten einige, andere warfen mit Steinen oder schlugen mit Schirmen und Stöcken nach uns, wie eine alte schwarz-gekleidete Frau, die eine Straße lang neben mir herlief und immerzu „totschlagen, totschlagen“ schrie. Die uns eskortierenden Soldaten fanden das offensichtlich belustigend. Die revolutionären Arbeitermassen Berlins aber waren nicht zu sehen. Sie hielten Sonntagsruhe.

Wir kamen zu Vieren in eine Zelle. Die Erlebnisse der letzten Tage hatten meinen Hunger und die Müdigkeit vergessen lassen, die mich jetzt doppelt stark überkamen. Ich hatte seit 48 Stunden weder gegessen noch geschlafen. Die Gefängnisverwaltung war am Sonntag nicht auf einen Zustrom von dreihundert Gefangenen eingerichtet. Wir saßen hungernd und erschöpft auf dem Fußboden. Es blieb alles ruhig. In der folgenden Nacht ging es um so unruhiger zu. Wir hörten Türen knallen, Schreie und Schüsse. Mehrere Male schlugen Soldaten mit Gewehrkolben an die für meiner Zelle und riefen: „Fertigmachen! In der Frühe werdet ihr erschossen!“ Es waren keine leeren Drohungen, die Schüsse zeigten an, daß Gefangene erschossen wurden. Ich war seit meiner Gefangennahme zu jeder Stunde überzeugt, auch an der Reihe zu sein. Die Anzahl der Erschossenen ist niemals festgestellt worden. Die preußische Regierung und auch die Reichsregierung haben jede Untersuchung verweigert. Später wurde zugegeben, daß „im Zusammenhang mit der Besetzung der Zeitungen“ einhundertsechsundfünfzig Zivilisten getötet worden seien. Die Regierungstruppen hatten nur geringe Verluste.

Am Morgen kamen neben den Soldaten Gefängnisbeamte mit „Kalfaktoren“, die uns ein Stück Brot und eine Suppe in die Zelle reichten. Meine drei Zellengenossen hatten sich inzwischen soweit beruhigt, daß ich sie zum Mühlespielen bewegen konnte. Ich hatte die „Mühle“ auf den Fußboden gekratzt, und wir spielten mit den abgetrennten Knöpfen meines Mantels und meines Anzugs. So vergingen weitere Tage und Nächte, ohne daß wir verhört oder auch nur nach unseren Namen gefragt wurden. Wir erhielten täglich einmal Wasser, Brot und Suppe.

Plötzlich wurde es wieder laut im Gefängnis. Wir hörten Kolbenschläge und Fußtritte an den Zellentüren und Rufe. Dann kam ein Soldat auch an unsere Zellentür, klopfte einige Male mit dem Stiefel und schrie: „Liebknecht und Rosa gekillt!“ Der Bursche nannte Rosa Luxemburg nur mit Vornamen. Ich kann heute meine Empfindungen, die mich damals in der Gefängniszelle bewegten, nicht wiedergeben. Doch weiß ich, daß die nächtlichen Erschießungsdrohungen mich nicht so erschreckt hatten wie die Mordmitteilung. Im Laufe des Tages, als wir uns, meine drei Zellengenossen und ich, etwas beruhigt hatten, flüsterten wir einander zu, es handele sich sicherlich um einen Einschüchterungsversuch. Aber am nächsten Tag hielt ein „Kalfaktor“ beim Wasserausgeben die Zeitung B-Z am Mittag in der Hand, die er so gefaltet hatten, daß ich die beiden Balkenüberschriften, die über die ganze Seite des Blattes gedruckt waren, lesen konnte: „Liebknecht auf der Flucht erschossen, Rosa Luxemburg von der Menge getötet.“

Es begannen nun Verhöre der Gefangenen durch Polizeibeamte, und Gefangene wurden nach ihrem Verhör entlassen. Auch die Soldaten zogen ab. Nach weiteren vier Tagen wurde auch ich ins Gefängnisbüro gerufen. Meine Personalien wurden aufgenommen und es wurde mir mitgeteilt, daß ein Verfahren gegen mich eingeleitet sei. Kurz nach Beendigung des Verhörs wurde ich noch einmal hinuntergerufen und zum Außentor geführt; ich war frei. Mehrere Stunden später erfuhr ich, daß meine schnelle Entlassung angeblich auf einer Verwechslung beruhte. Ich erwähne dies, weil mir später in der Leipziger Volkszeitung vorgeworfen wurde, daß ein anderer Gefangener infolge der Verwechslung einige Tage länger in Haft geblieben sei. Als ob es jemals einen Gefangenen gegeben hätte, der bei seiner Freilassung eine Nachprüfung verlangte, ob seine Freilassung auch „in Ordnung“ sei.

Meine Mutter sagte nur: „Wie gut, daß Du wieder da bist“, als ich unsere Wohnung betrat. Ich antwortete aber sogleich, daß ich ein unruhiges Gefühl habe, ich möchte darum nicht bleiben. Darum beeilte ich mich, die Wäsche zu wechseln, etwas zu essen und sagte meiner Mutter, daß ich zu Paul Nitschke rübergehen werde. Paul Nitschke teilte meine Meinung, daß ich vorläufig nicht zu Hause wohnen solle. Meine Ahnung trog nicht, denn am Spätnachmittag erschien eine Militärpatrouille bei meiner Mutter, um mich wieder abzuholen.

Ich war rechtzeitig aus dem Gefängnis gekommen, um an der Beerdigung Liebknechts, der Vorwärtsparlamentäre und anderer Ermordeter oder Gefallener teilnehmen zu können. Mit Hunderttausenden Trauernder geleitete ich siebenundzwanzig Tote zum Friedhof Friedrichsfelde. Drei Tage später, am 29. Januar, traf uns ein weiterer Schlag. Franz Mehring, Mitbegründer und Mitglied der Zentrale des Spartakusbundes starb, 73 Jahre alt. Er war längere Zeit leidend gewesen, und die Gefängnishaft während des Krieges hatte ihn sehr geschwächt; die Ermordung seiner Freunde Liebknecht und Luxemburg gab ihm den Rest.

Ich glaube, es war Wilhelm Pieck, der mich beauftragte, einen Kranz zu besorgen und zur Trauerfeier zu kommen. Ich trug den großen Kranz mit der roten Schleife durch die Stadt nach Steglitz zur Wohnung Mehrings, wo er aufgebahrt war. Unter den Trauergästen sah ich Leo Jogiches und Pieck, die trotz Verfolgung durch Freikorps und Polizei zum Abschied gekommen waren. Die anderen Mitglieder der Zentrale waren verhaftet oder hielten sich verborgen.

Dem Mut und der Energie Jogiches ist es zu verdanken, daß die Morde nicht vertuscht werden konnten. Er brachte die Beweise, daß die Pressemeldungen bewußt erlogen waren. Jogiches ermittelte die Namen der Mörder und deckte die Einzelheiten der Ermordung auf. Mehrere der ausführenden Mörder hatten sich nach der Tat am Biertisch photographieren lassen. Jogiches beschaffte auch dieses Foto.

Die Suche nach der Leiche Rosa Luxemburgs blieb lange Zeit ergebnislos. Dadurch entstanden in der Bevölkerung Vermutungen, daß Rosa Luxemburg vielleicht hatte flüchten können. Doch Jogiches brachte die Beweise ihrer Ermordung, und er bot alles auf, die Leiche zu finden. Er äußerte immer wieder den Verdacht, daß die Leiche von den Mördern entweder verbrannt oder ins Wasser geworfen sein könnte. Doch erst Monate später, nachdem auch Jogiches ermordet worden war, wurde die Leiche Rosa Luxemburgs im Landwehrkanal gefunden.

Die Leitung der KPD und die weitere Aufklärung der Morde übernahm Paul Levi, trotz der damit verbundenen Lebensgefahr. Aber so kultiviert und ehrgeizlos Levi war, Furcht kannte er nicht. Er wußte wohl, daß er jetzt der nächste Todeskandidat war. Obwohl es heute noch kaum eine Stelle gibt, die an der wissenschaftlichen Erforschung der Vorgänge 1918/20 interessiert ist – gewiß nicht die offizielle Geschichtswissenschaft – so sind doch mittlerweile Zeugnisse veröffentlicht worden, die zur Wahrheitsfindung beitragen. So ist auch das Zeugnis eines früheren Generals in der Obersten Heeresleitung, Generalmajor von Thaer, vorhanden, das im Jahre 1958 von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen veröffentlicht wurde. Von Thaer schrieb in seinem Tagebuch:

»Wie verdient eigentlich ein Mensch wie Ebert, daß die alte königliche Truppe sich für ihn ihren Ruf in Frage stellen soll... Ebert und Scheidemann zitterten vor Liebknecht und Rosa und wünschen ihr Verschwinden auf kriminelle Art, nur: Sie wollen nichts davon wissen, nichts damit zu tun haben.«die Verantwortung tragen auch die Redakteure des Vorwärts, des Zentralorgans der SPD, die unter Leitung ihres Chefredakteurs Friedrich Stampfer den politischen Rufmord in Deutschland einführten. Der Vorwärts druckte den Reim eines Arthur Zickler:

»Vielhundert Tote in einer Reih –
Proletarier!
Karl, Rosa, Radek und Kumpanei –
es ist keiner dabei, es ist keiner dabei!
Proletarier!«

Niemals aber hat der Vorwärts als Arbeiterblatt die Bilanz des Weltkrieges gezogen, die lauten müßte:

»Elfeinhalb Millionen in einer Reih –
Proletarier!
Kein Kaiser, kein Hindenburg, kein Ludendorff dabei
Proletarier!«

Fünfundzwanzig Jahre später, im Zweiten Weltkrieg, schrieb Sumner Welles, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt der USA, in seinem Buch Zeit der Entscheidung über Liebknecht:

»Hinter der Fassade der Weimarer Republik waren die Kräfte, die die Katastrophe von 1914 herbeigeführt hatten, aktiv und machtvoll geblieben ...

Hätte es mehr Liebknechts gegeben, die Zukunft Deutschlands und der Welt hätte anders sein können.«

Zu dieser Erkenntnis hat sich die sozialdemokratische Arbeiterschaft Deutschlands niemals aufraffen können. Den Mitgliedern der Partei aber, die während des Nazi-Regimes unter dem Galgen standen oder unter dem Fallbeil lagen, mag in ihren letzten Augenblicken die Erkenntnis gekommen sein, daß die Anfänge des Hitlerregimes bei der Ebert-Regierung zu finden sind und daß es keine Hitler-Diktatur und keine Entartung der russischen Revolution unter der Stalin-Diktatur gegeben hätte, wenn die potentiellen Gegner der Diktatoren nicht ermordet worden wären. Der Genossenmord hat in Deutschland begonnen. Die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht belasten die deutsche Sozialdemokratie und die Weimarer Republik, ebenso wie die späteren Stalinschen Morde den russischen Kommunismus und die Sowjetunion belasten.

Rosa Luxemburg hatte nicht zur Besetzung des Vorwärts aufgefordert, sondern zum Widerstand gegen die Konterrevolution. Sie war gegen Putsche und hatte im Spartakusprogramm eindeutig geschrieben:

»Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Massen in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewußten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes.«

In diesem Geist war auch die Kritik Rosa Luxemburgs an der Politik der Bolschewiki in der russischen Revolution gehalten. Wir haben im Jugendbildungsverein und in der trotz aller Verfolgungen neu entstehenden Kommunistischen Partei viel über die Meinungsverschiedenheiten Luxemburg-Lenin diskutiert und waren zu dem Schluß gekommen: „Hätte sich die „Linke“ in der Sozialdemokratischen Partei rechtzeitiger, das kann nur heißen früher, von der verrotteten Bürokratie gelöst und neben der öffentlichen auch parlamentarischen Massenarbeit gleichzeitig die Kader nach den Lehren Lenins organisiert, so hätten Luxemburg, Liebknecht, Jogiches und viele Arbeiter nicht auf die so deprimierende Weise ums Leben gebracht werden können.“

Ich muß betonen, daß wir in den ersten Monaten des Jahres 1919 in Berlin unter dem Terror des Belagerungszustandes und des Standrechts lebten. Uns war jede politische Tätigkeit verboten. Wir hatten keine Zeitung und keine öffentliche legale Möglichkeiten, den Lügen und Verleumdungen der Regierung und der Presse entgegentreten zu können. Jede Regung der Unzufriedenheit in der Bevölkerung, was auch immer den Behörden Ungelegenes passierte, wurde den „Spartakisten“ zugeschrieben. In einer Mitteilung hieß es: „Spartakus schwelgt in Milchreis mit brauner Butter!“ Kein Mensch konnte erklären, was damit gemeint war. Ob diese amtliche Verlautbarung von der Tatsache ablenken sollte, daß um diese Zeit ungezählte Kinder an Grippe starben?

Wir mußten uns unter den gefährlichsten Bedingungen „illegal“ zur Wehr setzen. Obwohl jeder Drucker sich dabei in Lebensgefahr begab, schaffte es Jogiches, Flugblätter drucken zu lassen. Ein Flugblatt brachte das Ergebnis der Ermittlungen Jogiches über die Morde an Liebknecht und Luxemburg. Ein anderes mußte sich mit den geschmacklosesten, dabei aber doch gemeingefährlichen Lügen einer von der Regierung unterstützten „Antibolschewistischen Liga“ beschäftigen, die eine starke Propaganda entfaltete mit der Behauptung „Spartakus plant die Sozialisierung der Frauen“. Es muß irgendwie mit dem Charakter des deutschen Bürgers zusammenhängen, daß gerade diese idiotische Propaganda geglaubt wurde.

Der Tod unserer Parteiführer konnte uns nicht abhalten, den von ihnen vorgezeichneten Weg weiter zu gehen. Die Kommunistische Partei mußte aufgebaut, die einzelnen Gliederungen, Gruppen und Bezirke ins politische Leben gerufen werden. Durch den scheinbar radikalen Beschluß, uns nicht an den Wahlen zu beteiligen, hatten wir uns aber selbst die Arbeit äußerst erschwert. Nachdem auch der Rätegedanke von den Räten selbst liquidiert worden war, mußten wir die Räteverfassung zwar als idealste Regierungsform weiter propagieren, aber wir mußten auch aktiv Tagespolitik betreiben.

In meinem Bezirk, Berlin-Moabit, bildete die alte Spartakusgruppe aus dem Kriege, mit Ausnahme der beiden Ältesten, die sich zurückzogen, den provisorischen Vorstand. Ich war jeden Abend unterwegs, um neue Mitglieder zu werben. Bald war ein Gerüst geschaffen, kleine Gruppen traten unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen zusammen. Wieder nur für kurze Zeit.

In Moabit patrouillierten täglich Detachements von Freikorpslern. Polizei kontrollierte die Lokale. Ich hatte das Gefühl, daß ich beobachtet wurde und mußte befürchten, nachts verhaftet zu werden. Auf Empfehlung eines Sympathisierenden zog ich zu seiner Verwandten, einer alten tauben Dame in Schöneberg. Meine Arbeit in Moabit leistete ich weiter.

Bei meiner „illegalen“ Tätigkeit für die Parteizentrale glitt ich wieder einmal knapp am Tode vorbei. Von einer kleinen Druckerei, die schon im Kriege für uns gedruckt hatte, in der Nähe des Nürnberger Platzes, holte ich Flugblätter ab. Auf dem Platz vor dem Eingang zur Untergrundbahn riß ein Riemen meines Rucksacks. Ich mußte den Rucksack absetzen und den Riemen zusammenbinden. Während ich mich bemühte, den schweren Rucksack wieder auf den Rücken zu heben, kam eine Militärpatrouille auf mich zu. Hätte die Patrouille den Inhalt geprüft, so wäre ich wahrscheinlich sofort erschossen oder zum Standgericht gebracht und von diesem zum Tode verurteilt worden. Einige Tage darauf war ich in einer ähnlichen Gefahr. Mit einer Genossin die auch beim Druck der Fürst Lichnowsky-Denkschrift mitgeholfen hatte, hatte ich mit einem Handkarren Flugblätter aus einer Druckerei in der Frankfurter Straße geholt als eine Militärpatrouille aus einer Seitenstraße auftauchte. Die Genossin erschrak ließ die Wagendeichsel los und lief in einen Laden. Ich schob den Karren weiter und passierte die Patrouille ohne angehalten zu werden. Von einem Keller in der Ritterstraße, der als Versandraum diente, schickten wir die Flugblätter, unauffällig getarnt, von verschiedenen Postämtern aus an Hunderte von Adressen in Deutschland. Die Genossin, Otto Franke und ich arbeiteten nach den Anweisungen Jogiches, mit größter Sorgfalt. Schlecht lesbare Adressen, falsche Frankierung, gerissener Bindfaden konnten zu Nachprüfungen und Gefährdung der Adressaten führen.

Eines Februartages in der Dämmerung kam Jogiches, um mit uns zu arbeiten. Er äußerte sich sehr unzufrieden über den kalten, unfreundlichen Raum, den er, wie er sagte, „als Gewerkschaftler nicht dulden könne“. Otto Franke entschuldigte sich, daß er keinen besseren habe finden können. Ich behielt diese kleine Episode im Gedächtnis, weil ich an diesem Tage Jogiches zum letzten Male sah. Der Keller wurde übrigens niemals entdeckt.

Nachdem die Wahlen zur Nationalversammlung ungestört verlaufen waren, konnte die Rote Fahne für kurze Zeit wieder erscheinen. Die erste Ausgabe brachte zusammenfassend das Ergebnis der Ermittlungen Jogiches, über die Morde an Luxemburg und Liebknecht und halbseitig das bereits erwähnte Bild, die Photographie des Mörders Runge im Kreise seiner Komplizen am Biertisch. Alle Beteiligten wurden mit Namen und Rang aufgeführt. Die Veröffentlichung hatte zur Folge, daß in mehreren Großbetrieben Proteststreiks ausbrachen und die Regierung sich veranlaßt sah, die Morde gerichtlich untersuchen zu lassen. Einige der an den Morden Beteiligten wurden vorübergehend verhaftet, sonst aber wurde die Untersuchung verschleppt und versandete. Lange Zeit später wurden einige der Mörder zu geringen Strafen verurteilt, aber nicht direkt wegen des Doppelmordes, sondern wegen krimineller „Nebenbeschäftigung „, so hatte ein Offizier die gestohlene Uhr Rosa Luxemburgs zum Verkauf angeboten. Während in Weimar die Beratungen über die neue Reichsverfassung und die neue Armee, jetzt „Reichswehr“, begannen, wurde in Berlin das blutigste Massaker der neueren deutschen Geschichte inszeniert. Der Vorwärts hatte seit Wochen seitenlang Inserate gebracht, mit denen die Freikorpsführer Mannschaften suchten. Aus den Millionen der Demobilisierten, die jetzt arbeitslos waren, hatten die Freikorps starken Zulauf. Hier gab es Geld und reichlich Essen. Unter den Führern der Freikorps waren deutsch-baltische Offiziere, die mit den Methoden der zaristischen „Ochrana“, der „Schwarzen Hundert“, wohlvertraut waren, weil sie früher Mitarbeiter dieser Pogrom- und Terrororganisationen waren.

Wieder war es die B-Z am Mittag, die am 9. März 1919 die Balkenüberschrift über die ganze Seite brachte: „Furchtbarer Massenmord durch Spartakisten in der Warschauerstraße“, „Sechzig Kriminalbeamte und viele andere Gefangene erschossen!“ Der 9. März war ein Sonntag. Am folgenden Montag druckten der Vorwärts und das Berliner Tageblatt die Meldung nach. Das Berliner Tageblatt hatte zuerst Bedenken und rief den Polizeidezernenten Doye im Preußischen Innenministerium an. Der Beamte Doye bestätigte die Richtigkeit der Meldung und ersuchte um Abdruck. Wahrscheinlich hatte Noske auf die Veröffentlichung der Meldung gewartet. Noch am Sonntag, ohne jede Nachprüfung, verhängte er erneut das Standrecht in Berlin. Gleichzeitig erließ er den Befehl, alle Kommunisten zu verhaften. Der Stadtteil Lichtenberg wurde umzingelt, die einzelnen Häuserblocks abgeriegelt und ein Massenmorden begann, wie es in Deutschland seit den Bauernkriegen nicht vorgekommen war. Auf den Straßen, in den Höfen und in den Wohnungen wurden Menschen vor den Augen ihrer Familien erschlagen oder erschossen. Ich kann nicht aus eigenem Erleben über Einzelheiten berichten. Aber Augenzeugen, Freunde und Bekannte, erzählten mir von der grauenhaften Schlächterei. Die Regierung gab später an, daß „ungefähr 1200 Spartakisten“ umgekommen seien. Die „Spartakisten“ waren beliebige linksstehende Arbeiter und Bürger, denn die Kommunistische Partei hatte in Groß-Berlin nicht ein Viertel so viele Mitglieder, als hier als „umgekommen“ angegeben wurden. Spätere Untersuchungen ergaben über 2.000 Tote. Viele Familien hatten bei ihren Angehörigen, die in ihrer Wohnung oder auf dem Hof ihres Wohnhauses ermordet worden waren, beim Standesamt „Unfalltod“ eintragen lassen. Nachdem die Truppen mehrere Tage gewütet hatten, wurden in der Öffentlichkeit Bedenken laut. Die Leichen der angeblich ermordeten Kriminalbeamten und der „anderen Gefangenen“ waren nicht aufzufinden. Es fehlten auch nirgends Kriminalbeamte oder angebliche Gefangene. Die Meldung von der Ermordung war völlig willkürlich erfunden. Die Verantwortung an den Massakern trugen Noske und die Redakteure der B-Z am Mittag. Die Durchführung des Massakers lag beim gleichen Stab der Garde-Kavallerie-Schützendivision im Eden-Hotel, der auch die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts geleitet hatte.

Die Verantwortlichen der Morde wurden niemals zur Rechenschaft gezogen. Die Redaktion der B-Z am Mittag blieb bei ihrer Behauptung die Meldung telefonisch aus dem Eden Hotel erhalten zu haben. „Wir hatten keine Zeit zum Sortieren“, sagte später ein Freikorpschef. Noske druckte sich „gemütvoller“ aus: »Wo gehobelt wird, fallen Späne,« sagte er. Am 10. März verhafteten Kriminalbeamte unter Führung eines gewissen Tamschick Jogiches in seiner Neuköllner Wohnung. Jogiches wurde sogleich zum Untersuchungsgefängnis Moabit gebracht und auf der Treppe des schmalen Ganges zu den Zellen durch einen Schuß in den Hinterkopf getötet. Den Hergang der Verhaftung und Einlieferung in Moabit erzählte mir der Gewerkschaftsfunktionär des Metallarbeiter-Verbandes, Willi Winguth. Winguth, der ebenfalls in Neukölln wohnte, wurde gleichzeitig mit Jogiches verhaftet. Er erzählte mir später, daß Jogiches von den Beamten im Vernehmungszimmer so schwer geschlagen wurde, daß er, als er zur Treppe geführt wurde, schon halb bewußtlos gewesen sei.

Der gleiche Polizeibeamte Tamschick tötete einige Wochen später den Gewerkschaftsführer der Elektrizitätsarbeiter, Wilhelm Sult, ebenfalls nach der Verhaftung, durch Schüsse in den Rücken, dann weitere Wochen darauf auch den Marineleutnant Dorrenbach, den früheren Kommandanten der Volksmarinedivision, auf die gleiche Art, durch Schüsse von hinten. Nach dem dritten Mord wurde Tamschick vom preußischen Innenminister, dem Sozialdemokraten Severing, zum Polizeileutnant befördert und in die Provinz geschickt.

Daß die Berlin-Lichtenberger Märzmassaker geplant waren, beweist auch die Rache an den früheren Angehörigen der Volksmarinedivision, die inzwischen aufgelöst worden war. Die früheren Matrosen erhielten eine Vorladung zum 11. März, um ihre „Entlassungspapiere und restliche Löhnung“ in einem Gebäude in der Französischen Straße abzuholen. Ungefähr 300 Mann waren erschienen. Ein Oberleutnant Marloh zählte 30 Mann aus und ersuchte die anderen fortzugehen. Die dreißig Mann standen im Hof, als plötzlich aus einem Fenster Maschinengewehrfeuer in sie einschlug. Neunundzwanzig Mann wurden getötet, einer hatte sich rechtzeitig hingeworfen und war nur verletzt worden. Er konnte entkommen und einen Bericht über die Metzelei geben.

Wie üblich, passierte den Mördern nichts. Der Oberleutnant Marloh nahm ein Jahr später am Kapp-Lüttwitz-Putsch teil und besetzte mit einer Gruppe Putschisten den Vorwärts. Marloh wurde später nicht wegen der Teilnahme am Kapp-Lüttwitz-Putsch entlassen, sondern wegen der Beschränkung des Heeres auf 100.000 Mann. Er erhielt eine Abstandssumme und eröffnete einen Zigarrenladen im Arbeiterbezirk Berlin-Neukölln. Sein Geschäft ging anscheinend nicht schlecht. Niemand warf ihm auch nur die Fensterscheibe ein. Als Hitler zur Macht kam, meldete sich Marloh wieder und wurde zum Direktor eines Zuchthauses ernannt.

 


Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023