Karl Retzlaw

SPARTACUS
Aufstieg und Niedergang

* * *

10. Die voreilige Generals-Machtprobe


Die bayrische Justiz erließ verleumderische Steckbriefe gegen diejenigen Teilnehmer an der Räterepublik, die entkommen konnten. So auch gegen mich. In Berlin warnten mich Sympathisierende, die bei der Polizei oder in anderen öffentlichen Ämtern beschäftigt waren, vorsichtig zu sein, mein Steckbrief läge auf allen Polizeiämtern. In ihrer Servilität ließ die sozialdemokratische Regierung des Landes Preußen politische Haftbefehle aus Bayern vollstrecken, obwohl umgekehrt die Bayrische Polizei politische Haftbefehle der preußischen Justiz nicht ausführte.

Für mich hatte wieder „illegales“ Leben begonnen, das ich sechs Jahre durchhielt. Ich wechselte in diesen Jahren mehrmals meinen Namen und noch öfter mein Domizil. Ich lebte immer in einem Spannungszustand, wie er schon im Kriege auf mir lastete; jetzt aber noch härter. „Illegalität“ ist das Erleiden eines quälenden Zustandes, an dem nichts Großartiges ist. Politische Arbeit ist nur dann von aktuellem Wert, wenn sie wie wissenschaftliche Arbeit der Öffentlichkeit zugänglich ist. Ich wollte meine Sache nicht aufgeben und mußte politisch weiterarbeiten und die Gefahr einer Verhaftung mit allen Risiken auf mich nehmen. Besonders erschwerend für mich war, daß der Belagerungszustand weiterhin herrschte; nur das Standrecht war aufgehoben. Das Zimmer bei der alten Dame in Schöneberg behielt ich; es blieb die ganze Zeit über unentdeckt. Ich wohnte aber aus Vorsicht nicht ständig dort.

Mit meiner Mutter traf ich mich einige Male sonntags wieder im Tiergarten. Sie erzählte mir, daß hin und wieder Kriminalbeamte in ihre Wohnung kämen, um nach mir zu fragen. Manchmal habe sie auch einen Beamten an der Haustür stehen sehen. Ich vermied es darum, jemals nach Hause zu gehen; erst nach neun Jahren betrat ich die Wohnung wieder.

In der Illegalität entwickelte sich bei mir ein wacher Instinkt, der mich einige Male vor einer Verhaftung bewahrte. Einmal hielt ich mich zwei Nächte bei einem befreundeten Schneidermeister in Charlottenburg auf, der mir einen Anzug umschneiderte. In der zweiten Nacht, ich schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer, wachte ich gegen vier Uhr morgens auf, zog mich hastig an, stieg trotz Protest meines Freundes aus dem Fenster zum Hof, kletterte über die rückwärtige Mauer und ging zu einer befreundeten Familie. Deren Tochter ging am Nachmittag zum Schneider, um zu fragen, ob etwas passiert war. Das Mädchen berichtete, daß zehn Minuten nach meinem Fortgehen zwei Kriminalbeamte die Schneiderfamilie aus den Betten geklopft und ihre Räume nach mir durchsucht hätten. Um das aufgekommene Mißtrauensgefühl gegen meinen Freund loszuwerden, prüfte ich nach, wie es zum Besuch der Polizisten gekommen war. Die Lösung war einfach. Neben dem Geschäft meines Freundes war ein Frisörladen. Mein Freund ließ sich jeden Morgen rasieren und während des Rasierens hatte er dem Frisör erzählt, daß ich aus München gekommen sei. Ein anderer Kunde hatte das Gespräch mit angehört und war zur Polizei gegangen. Ein anderes Mal sollte ich zu einer Besprechung in eine Wohnung nach Neukölln kommen. Zwei Häuser vor der angegebenen Adresse kehrte ich um, bestieg eine vorbeikommende Straßenbahn und fuhr davon. Anderntags im Büro erzählte mir ein Genosse, der an der Besprechung teilnehmen sollte, daß zwei Kriminalbeamte mich erwartet hatten. Sie hätten schon gelacht, als sie mich vom Erkerfenster des zweiten Stockwerkes aus kommen sahen. Aus dem Lachen seien lange Gesichter geworden, als sie sahen, wie ich kehrtmachte und davonlief. Ich konnte nicht feststellen, wo geschwätzt worden war.

Unser Jugendbildungsverein in Moabit hatte sich mittlerweile aufgelöst. Die Mitglieder waren wie ich dem Verein entwachsen und hatten sich der KPD angeschlossen. Doch waren die früheren Mitglieder soweit sie noch im Stadtteil Moabit wohnten, weiterhin zusammengeblieben und trafen sich öfters zu sonntäglichen Wanderungen. Wenn ich es ermöglichen konnte nahm ich daran teil. Auf dem Spirituskocher kochte ich die Suppe wie vor zehn Jahren, und ein Trutzlied wurde gesungen gegen die Noskediktatur: „Da kann kein Ebert und kein Noske was dran machen ...“ Mehrere Jungen und Mädchen der Gruppe hatten inzwischen geheiratet. Diese Mädchen waren von dem Typus, den Turgenjew in seiner balladenhaften Erzählung von der russischen Studentin, die Elternhaus und gesicherte Existenz aufgab, um am zermürbenden illegalen Kampf gegen den Zarismus teilzunehmen, als Heldin preist.

Als es in den folgenden Jahren innerhalb der KPD zu den in der deutschen Arbeiterbewegung bisher nicht gekannten Auseinandersetzungen über ideologische und taktische Fragen kam, besonders über den „Putschismus“ nach den Kämpfen im März 1921, traten die meisten früheren Mitglieder des Jugendbildungsvereins mit Paul Levi, andere etwas später mit Friesland-Reuter, aus der Partei aus. Stalinist wurde niemand; niemand wurde Nazi.

Die Staatsmänner und die Militärs der Entente hatten bisher uninteressiert zugeschaut, wie die deutsche Militärkaste wieder erstarkte und die linke Arbeiterbewegung in Deutschland niederwarf. Dagegen hatten sie nichts einzuwenden. Im Gegenteil, ihre Furcht vor dem Kommunismus war stärker als vor dem preußisch-deutschen Militarismus. Sie fürchteten ein Übergreifen der Linkstendenzen auf ihre Länder und um ihre Kriegsentschädigungen. Winston Churchill drückte diese Besorgnis klar aus: »Wenn Spartakus an die Macht kommen sollte, bekommen wir keine Reparationen«, schrieb er im April 1919. Aber als man in den Ländern der Entente beobachtete, wie die deutsche Freiwilligen-Armee in wenigen Monaten auf ungefähr 400.000 Mann angewachsen war, kamen in diesen Ländern Bedenken auf, daß die neue Armee unter Umständen in der Lage wäre, den Krieg wieder aufzunehmen. Das hätte zum Sturz der Regierungen der Entente-Länder geführt, deren Völker kriegsmüder waren als das deutsche Volk. Die Presse in den Entente-Ländern registrierte die Grausamkeiten der deutschen Freiwilligen gegen ihre eigenen Landleute und zog Vergleiche mit dem Wüten in den besetzt gewesenen Ländern – und wurde kritisch.

Durch das übermäßige Drängen zum Militärdienst hatten die Deutschen die Herabsetzung der Heeresstärke in Etappen auf 100.000 Mann selbst mitveranlaßt. Der Drang zum Militär und den Freikorps hatte sehr materielle Gründe. In einer Zeit, da der größte Teil der Bevölkerung schwere Not litt und die Regierung und ihre Presse von der Hungerblockade der Entente redete und schrieb, hatten das Militär und die Freikorpsler täglich mehrere reichliche Mahlzeiten, sie waren warm gekleidet, und ihre Kasernen waren geheizt. Einer der Hauptführer der Freikorps dieser Tage schrieb später in seinen Erinnerungen, daß die meisten Freiwilligen „arbeitsscheue Strolche“ gewesen seien. Das ist das zutreffende Urteil aus den eigenen Reihen. Das Zentralorgan der SPD, der Vorwärts, brachte ganze Seiten Inserate, mit denen die einzelnen Freikorpsführer für ihre Truppe warben, bis Proteste sozialdemokratischer Mitglieder diese Werbung stoppten. Die sozialdemokratische Parteiführung behauptete später wiederholt, daß, wenn sich mehr Sozialdemokraten zu den Freikorps gemeldet hätten, die Partei die Freikorps und die spätere neue Wehrmacht besser unter Kontrolle hätte halten können. Das ist eine nichtige und prahlerische Behauptung, denn die SPD hat in der Weimarer Republik niemals den Beweis erbracht, daß sie die Militärs im Zaum halten konnte.

Als nach den Militärklauseln des Versailler Vertrages die deutsche Armee auf 100.000 Mann Berufssoldaten festgesetzt wurde, mußten nach den Richtlinien, die von den deutschen Generalen aufgestellt waren und die Noske akzeptierte, die Sozialdemokraten und Gewerkschaftler, die sich auf Grund der Aufrufe des Vorwärts und der Regierung zum Militär und zu den Freikorps gemeldet hatten, ausscheiden. Damit war nach kurzer Zeit die Legende und Illusion erledigt, daß das neue deutsche Heer durch Teilnahme von Sozialdemokraten oder Gewerkschaftlern hätte „demokratisiert“ werden können.

Trotz der Ermordung unserer Parteiführer und Tausender Arbeiter wurden die Bedingungen des Versailler Vertrages von den Parteimitgliedern nicht mit Genugtuung und Schadenfreude aufgenommen. Die Parteileitung lehnte ihn grundsätzlich ab. Auch die russische Sowjetregierung lehnte den Versailler Vertrag ab. Natürlich hatte sie dabei die Hoffnung auf eine sozialistische Revolution in Deutschland, die zu einem Bündnis mit Sowjetrußland geführt hätte.

Die USPD war die einzige Partei, die für die sofortige Unterzeichnung des Friedensvertrages war. Ihr Vorsitzender, Hugo Haase, erklärte: »Unser Volk braucht den Frieden, den sofortigen Frieden.« Noske aber bezeichnete diejenigen Deutschen, die Frieden und Arbeit wünschten, als „verludert“ und „verlumpt“ und nannte die widerstrebenden deutschen Mitglieder der Verhandlungskommission in Versailles „Helden“. Hugo Haase wurde kurz darauf ermordet, sein Mörder wurde für geisteskrank erklärt und blieb straffrei.

Erzeugt von den Alldeutschen, den großkapitalistischen Kreisen unter Führung der Hugenberg und Stinnes, im Verein mit der Regierung, den bürgerlichen Parteien und ihrer Presse überflutete jetzt eine nationalistische Welle das deutsche Volk und drang auch in die KPD ein. Die Zentrale stemmte sich in dieser Zeit sehr energisch dagegen. Paul Levi war der entschiedenste Bekämpfer des Nationalismus. Er erklärte in jeder Konferenz, daß der Nationalismus nach keiner Seite hin geduldet werden darf. Jedoch war Levi nicht stark genug, um eine einheitliche Auffassung in der Partei zu erreichen.

So konnte es die Zentrale nicht verhindern, daß oppositionelle Gruppen innerhalb der Partei mit nationalistischen und auch syndikalistischen Tendenzen entstanden, die den Kampf gegen den Versailler Vertrag und eine neue Plattform, Einheit von Partei und Gewerkschaften propagierten. Die stärkste Opposition kam aus Hamburg wo sich während des Krieges ebenfalls eine kriegsgegnerische Gruppe innerhalb der SPD gebildet hatte, die sich „Linksradikale“ nannte. Diese Gruppe stand unter Führung zweier Intellektueller: Wolffheim und Laufenberg, und war bei der Gründung der KPD dieser beigetreten. Jetzt propagierten Wolfheim und Laufenberg eine nationalistische Politik, die als „Nationalbolschewismus“ bezeichnet wurde. Wolffheim und Laufenberg griffen auch die Losung Walter Rathenaus aus den letzten Kriegsmonaten auf und forderten den „bewaffneten Widerstand des gesamten Volkes gegen den Imperialismus der Entente.“ Der geistige Vater, der das Wort „Nationalbolschewismus“ geprägt hatte, war ein rechtsstehender Professor Eltzbacher. Dieser Eltzbacher hatte eine Schrift unter dem Titel Nationalbolschewismus veröffentlicht, in der es hieß:

»Die kleinen Spießbürger, die heute die Geschichte des Reiches lenken, sind ratlos

... kühn müssen wir die Übel, mit denen uns der Bolschewismus bedroht, auf uns nehmen, um der Versklavung durch unsere Gegner zu entgehen und einmütig selbst dafür zu sorgen, daß der Bolschewismus kommt

... wir müssen uns ihm hingeben in der Überzeugung ... die bolschewistische Welle unaufhaltsam auch die westlichen Länder überfluten und einen Clemenceau und Lloyd George und alle anderen wegspülen wird. Aber selbst wenn der Bolschewismus nicht auf die siegreichen Westmächte übergreifen sollte, wird der Vorteil für Deutschland groß genug sein; aus einem bolschewistischen Deutschland kann die Entente nicht jährlich Milliarden herausziehen, es fehlt der gefügige Verwaltungsapparat und vor der dauernden Anwendung von Gewalt wird man sich aus Furcht vor Ansteckung hüten.«

Diesen Thesen Eltzbachers mit dem aus dem Kommunistischen Manifest entlehnten Schlußsatz: »Wir haben nichts zu verlieren als unsere Ketten,« stimmten Wolffheim und Laufenberg zu. Ich war in der entscheidenden Konferenz anwesend, in der Levi und Wolffheim stritten. Levi forderte nach seiner heftigen Attacke gegen die Ansichten Wolffheims und Laufenbergs den Ausschluß der beiden aus der Partei. Ich stimmte Levi zu. Levi erhielt in dieser Konferenz zwar die Mehrheit aber nicht in der Gesamtpartei. Die Diskussion über den „Nationalbolschewismus“ lenkte die Partei von ihren Aufgaben als Arbeiterpartei ab, sie fand in der Arbeiterschaft keinen Widerhall und lähmte den Aufbau der Partei. Sie hatte außerdem zur Folge daß sich im Laufe der nächsten Monate viele Mitglieder von der Partei lösten, die nach dem Parteitag von Heidelberg die „Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands“ (KAPD) gründeten.

Lenin wurde unter anderem auch durch diesen „Nationalbolschewismus“ zu seiner Schrift Der Linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus angeregt. In dieser Schrift sprach sich Lenin für den Frieden und für die Annahme des Versailler Vertrages aus. Er war der Auffassung, daß eine Revolution in Deutschland nur möglich sei, wenn sie außenpolitische Konflikte vermeide. Lenin schrieb:

»Es genügt nicht, sich von den himmel-schreienden Absurditäten des „Nationalbolschewismus“ Laufenbergs und anderer loszusagen, der soweit gekommen ist, daß er unter den gegenwärtigen Verhältnissen der internationalen proletarischen Revolution für einen Block mit der deutschen Bourgeoisie zum Kriege gegen die Entente eintritt ... Der Sturz der Bourgeoisie ... ist ein solches Plus für die internationale Revolution, daß man seinetwegen – wenn es notwendig sein sollte – auf ein längeres Bestehen des Versailler Vertrages eingehen kann und muß.«

Auch die erst kürzlich gegründete Kommunistische Internationale griff in die deutsche Parteidiskussion ein. In einem Offenen Brief an die Gefolgschaft Laufenbergs und Wolffheims verurteilte das Exekutivkomitee deren Politik. Es übernahm die Argumente Levis und Lenins und schrieb:

»Laufenberg und Wolffheim verbreiten das Gift der Illusion, als könne das deutsche Bürgertum aus nationalistischem Haß zum Verbündeten des Proletariats werden. Würde dieser Köhlerglaube das Proletariat betören, so würde es zum Kanonenfutter des deutschen Kapitals ... werden.«

Lenins Einfluß reichte nicht aus, und die Kommunistische Internationale hatte keine ausreichende Autorität, um die ausgeschiedenen Mitglieder umzustimmen. Doch die „Linken“ in der USPD waren stark beeindruckt; die Haltung Lenins war der Hauptgrund, daß sie zum Entschluß kamen, sich mit der KPD zu vereinigen.

Zum Studium der politischen Situation, Versailler Vertrag, Mitarbeit in den Gewerkschaften und Organisationsfragen, Aufbau der einzelnen Gliederungen der Partei, Agitation und Propaganda, wurde eine Art Parteischule einberufen. Diese fand vor der geplanten Reichskonferenz und dem zweiten, dem Heidelberger, Parteitag statt. Auf dieser Parteischule, die zwei Wochen dauerte, lernte ich die meisten wichtigen Funktionäre der Partei kennen: Mitglieder der Zentrale, Redakteure und Sekretäre. Wilhelm Pieck, der vor dem Kriege die zentrale Parteischule der SPD geleitet hatte, hatte diese Konferenz organisiert und hielt das einleitende Referat über die Organisation der Partei. Pieck sprach wie immer trocken langweilig, aber er konnte instruktiv sagen, wie die neue Parteiorganisation aufgebaut werden müsse und wie sie arbeiten solle. Ich wurde ein enger Mitarbeiter Piecks in den folgenden Jahren. Schöpferische politische Gedanken hatte er kaum, aber er war ein Praktiker, der bei allen Entscheidungen der Parteigeschichte dabei war. Weitere Referate hielten unter anderen August Thalheimer und Hermann Duncker. Paul Levi gab in seinem Referat die Erfahrungen der kurzen Parteigeschichte wieder und erklärte, daß die Partei nur dann eine Zukunft habe, wenn sie eine disziplinierte Einheit bildet, die ihre Beschlüsse unbeeinflußt von anderen Kräften oder Interessen fassen müsse. Die Partei dürfe sich nicht in Situationen hineinmanövrieren lassen, in denen sie die Kontrolle über die Ereignisse verliere. Wenn es zu Kämpfen kommen sollte, die nicht von der Partei beschlossen und geleitet werden, so könne und dürfe die Partei die Verantwortung auch nicht übernehmen. Die Partei müsse aus der Isolierung heraus und nur als Massenpartei könne sie als revolutionärer Kraft bestehen. Das Kommunistische Manifest wurde Satz für Satz durchgesprochen. Franz Mehrings Geschichte der deutschen Sozialdemokratie wurde studiert. Beschlüsse wurden nicht gefaßt, aber es wurde betont, daß jedes Mitglied der KPD auch Mitglied und möglichst sogar Funktionär der Gewerkschaften sein müsse. Die Parteischule war geheim; sie fand in einem Dorf nahe Hanau am Main statt.

Nach der „Reichskonferenz“ und dem folgenden Parteitag von Heidelberg kam es zu der erwähnten Spaltung. Der Aufbau der Partei mußte wiederum neu begonnen werden. Meine Arbeit litt unter noch schwereren Bedingungen als bisher, weil die Mehrheit der Parteimitglieder in Berlin eine weitere Mitarbeit ablehnte. Nicht allein wegen der deprimierenden Spaltung und den vielen Genossen sinnlos erscheinenden Meinungsverschiedenheiten, sondern vielfach auch wegen der Gefahren, die mit der Mitgliedschaft in der KPD verbunden waren. Sie wollten nicht „Tote auf Urlaub“ sein. Die älteren Genossen erzählten immer wieder, wie harmlos die Zeit des Bismarckschen „Sozialistengesetzes“ im Vergleich mit den jetzigen Verfolgungen gewesen sei. Und doch war es nicht etwa Feigheit, sondern mehr Resignation. Das Gefühl, gegen frühere Parteigenossen zu stehen, mit denen sie vor dem Kriege jahrelang zusammengearbeitet hatten, verbitterte sie. Ich wurde zum zweiten Parteisekretär der Provinz Brandenburg ernannt. Erster Sekretär war Willi Budich. Budich war bereits vor mir von München nach Berlin zurückgekehrt. Er hatte in München von einem Lehrer Ausweispapiere geliehen und war in Begleitung seiner Gefährtin mit der Bahn nach Berlin gefahren. Seine unbekümmerte Sicherheit brachte ihn heil durch alle Kontrollen. Unsere Büro in Berlin bestand aus einem Zimmer bei einer Kriegerwitwe. Die Post aus der Provinz ließen wir an einige neutrale Adressen schicken. Manchmal kamen Besucher aus der Provinz, die uns oder Mitglieder der Zentrale sprechen wollten. Ich mußte anfangs immer ein Risiko eingehen, denn ich kannte zu Beginn der Arbeit weder die Briefschreiber noch die Besucher. Unsere Adressen hätten leicht in falsche Hände geraten können. Ich verließ mich auf meinen mit Vorsicht gepaarten Instinkt. Mit meinem Fahrrad fuhr ich in den nächsten zehn Monaten kreuz und quer durch die Mark Brandenburg; von der Stadt Brandenburg an der Havel bis Schwiebus an der polnischen Grenze. Auch im Winter nahm ich die Strapazen auf mich. Als Radsportler hatte ich früher auch im Winter auf den Landstraßen trainiert. Wenn die Straßen nicht gar zu stark verschneit oder vereist waren, kam ich immer voran; wie die Landbriefträger, die ihre Post ja auch bei jedem Wetter mit dem Fahrrad ausfuhren.

Die Arbeit war mir keine Last. Ich war überzeugt, daß nur die sozialistische Revolution den Revanchekrieg der deutschen Militärs verhindern kann. Diese Auffassung vertrat ich seit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches, und der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale hatte im März 1919 die These aufgestellt, daß es zu einem neuen und noch blutigeren Weltkrieg kommen werde, wenn der Imperialismus nicht niedergeworfen wird. Der rasche Aufbau einer starken Kommunistischen Partei war folglich für mich eine Frage auf Leben und Tod.

Ich begann den Aufbau der Parteiorganisation mit den einfachsten Mitteln. Ich hatte kleine Plakate im Rucksack mit, deren vorgedruckten Text ich mit der Hand ergänzte: „Ein Beauftragter der Kommunistischen Partei Deutschlands wird heute von ... bis ... im Lokal ... sein, um über die neue Partei Auskünfte zu geben.“ Ich riskierte diese öffentliche Werbung, obwohl die Partei noch nicht wieder offiziell erlaubt war. Aber inzwischen war die Verfassung von Weimar angenommen worden, die die Freiheit der Versammlung und der Person verkündete.

Einige Interessenten kamen. Manchmal sogar bis zu fünfzig Personen, darunter auch Frauen. Die meisten Besucher waren frühere Sozialdemokraten, die kein Vertrauen mehr zu ihrer Partei hatten und wissen wollten, was im Kriege und nach dem Zusammenbruch eigentlich geschehen war und wohin die Ebert-Noske-Regierung steuere. Es gab kleine Ortsgruppen von SPD und USPD, die zu uns übertraten oder sich spalteten, und andernorts meldeten sich Interessierte, die die Gründung einer Ortsgruppe übernehmen wollten. Ich mußte Vertrauen haben zu mir unbekannten Menschen und wurde nur selten getäuscht. Die Aussprachen dauerten oft bis Mitternacht und ich mußte die fremden Menschen fragen, ob mich jemand über Nacht aufnehmen könnte. Ich hatte kein Geld für ein Gasthauszimmer. Erhielt ich kein Obdach, so radelte ich noch in der Nacht nach Berlin zurück. So wuchs die KPD in der Provinz Brandenburg rascher als in Berlin.

Es kamen auch stets Gegner, die eine Zusammenkunft verhindern wollten. Und jedesmal kam auch ein Gendarm, der meine „Papiere“ sehen wollte. Damals waren die polizeiliche Anmeldung und der Geburtsschein ausreichende Ausweise. Sie waren echt, nur hatte ich sie geliehen.

Doch wie Wilhelm Busch sagte: „Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr,“ so war die Erhaltung der Gruppe schwieriger als die Gründung. Die Ortsgruppe mußte sich in das politische Leben des Ortes und des Kreises einfügen, sie mußte lernen, aktive kommunistische Politik zu machen. Dazu gehörten feste Überzeugung und großer persönlicher Mut. Die meisten dieser Ortsgruppen bestanden bis zum Untergang in der Nazizeit. Den zentralen Parteibezirk Groß-Berlin übernahm im Spätsommer ein neuer Sekretär, der erst vor mehreren Monaten aus Sowjetrußland zurückgekehrt war. Er nannte sich Ernst Friesland. Der Name ähnelte meinem internen Parteinamen, stimmte aber ebensowenig wie meiner. Mein Parteiname war Friedberg. Friesland war in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Als die Revolution in Rußland ausbrach, hatte er sich dieser aktiv angeschlossen. In den folgenden Monaten war er zum „Volkskommissar“ der deutschstämmigen Siedler an der Wolga gewählt worden, die ihre ausgedehnte Siedlung in der Revolutionszeit „Wolgadeutsche Republik“ nannten. In dieser lebten damals ungefähr 450.000 Bauern in einigem Wohlstand. Diese brachten den Revolutionären nur geringe Freundschaft entgegen. In der Eigenschaft als Volkskommissar hatte Friesland auch Lenin kennengelernt. Nach seiner Rückkehr nach Berlin, Weihnachten 1918, suchte er, mit Lenins Empfehlungsschreiben versehen, sogleich Anschluß an die Zentrale des Spartakusbundes. In den blutigen Januartagen 1919 mußte Friesland sich verborgen halten, er war der Mordzentrale im Edenhotel gemeldet worden. Man wußte dort, daß Friesland sich vor und nach Ausbruch des Krieges aktiv als Pazifist betätigt und dem Bund „Neues Vaterland“ angehört hatte. Nun wurde er außerdem wegen seiner Tätigkeit als Volkskommissar der „Wolgarepublik“ verleumdet. Im März 1919 ging Friesland auf Wunsch Jogiches' nach Oberschlesien, um dort die KPD aufzubauen. Friesland wurde aber bald verhaftet und über drei Monate lang im Gefängnis gehalten. Nach seiner Freilassung ging er zur Erholung in sein Elternhaus, kam dann nach Berlin zurück, und die Zentrale übertrug ihm die Arbeit des Parteiaufbaus in Groß-Berlin. Damals waren Groß-Berlin und Brandenburg getrennte Bezirke.

Wir hatten unser Büro längere Zeit im gleichen Zimmer. Bis zu der erneuten Krise innerhalb der Partei, die um Levis Kampfschrift Wider den Putschismus entstand, haben wir gute Kameradschaft gehalten. Dann wurde Friesland ein „Linker“. Mir gab er den Titel „Levit“. Friesland war sieben Jahre älter als ich, er hatte angenehme zurückhaltende und höfliche Umgangsformen, auch in der Zeit, in der mehr geschrien als gesprochen wurde. Er war sehr belesen und sprachbegabt. Besonders gut verstanden wir uns, weil wir die gleiche Grundeinstellung gegen den Militarismus hatten. „Alle Unruhe in der Welt kommt in erster Linie vom deutschen Militarismus,“ sagte er wiederholt, „darum muß auch in politischen Tagesfragen der Kampf gegen den Militarismus unsereHauptaufgabe sein.“ Hinzu kam, daß er ebenfalls Freidenker war und wie ich von den Funktionären (nicht unbedingt von den „einfachen“ Mitgliedern) der Partei verlangte, aus der Kirche auszutreten.

Ich habe Friesland selten über theoretische Fragen sprechen hören, er war Politiker und Praktiker. Er sprach aber gern über die Räte-Verfassung als die gegebene Form der proletarischen Herrschaft. Er postulierte:

„Nur wer gesellschaftliche Werte schafft, soll über das gesellschaftliche Leben bestimmen ...“

„Schmarotzer und Couponschneider dürfen das Leben des arbeitenden Volkes nicht leiten ...“

„Wenn wir nicht die Diktatur des Proletariats errichten, so werden wir den zweiten Weltkrieg haben ...“

Das war alles klar und einfach, und das war ja auch die Parteilinie. Obwohl Friesland sich zu den „Linken“ gesellte und gegen die Führung Paul Levis opponierte, unterstützte er doch dessen Kampf gegen den Nationalbolschewismus. Eine enge Zusammenarbeit, die Friesland und mir unvergeßlich blieb, ergab sich in der Abwehr des Kapp-Lüttwitz-Putsches, als die Militärs in Berlin losschlugen. Noch Jahrzehnte später, als ich ihn einige Jahre vor seinem Tode in Berlin besuchte, erinnerte er im Gespräch an die Tage des Kapp-Lüttwitz-Putsches. Friesland war mittlerweile Regierender Bürgermeister von Berlin geworden, unter seinem richtigen Namen: Ernst Reuter.

Die kommunistische, jetzt „Freie Deutsche Jugend“ von Berlin-Süden hatte in der Alten Jakobstraße eine Wohnung gemietet und als Jugendheim umgestaltet. Die beiden Vorderzimmer wurde zu einem Saal; die Hinterzimmer und die frühere Küche konnte ich über ein Jahr lang als Büro und Sitzungszimmer benutzen. Selbst wenn die Partei hin und wieder für kurze Zeit „legal“ war, konnte ich die legalen Parteibüros nicht betreten, weil diese unter ständiger Polizeikontrolle standen und ich weiterhin steckbrieflich gesucht wurde.

Hinter den Jugendlichen, die sich mehrmals in der Woche im Heim zu Vorträgen und Diskussionen, Volkstänzen und Vorlesen von Theaterstücken trafen, waren zwei ungewöhnlich intelligente und schöne Mädchen: Lene Jansen und Dora Bayer. Lene Jansen hatte das Profil von Hölderlins Diotima, und ihre Lieblingslektüre war die Geschichte des Gilgamesch und Hölderlins Hyperion, und im Heim hatte ich sie nie ohne Ludwig Rubiners Anthologie Kameraden der Menschheit gesehen. Sie war um diese Zeit Maschinenschreiberin bei dem Dichter und Schriftsteller Ludwig Rubiner und seiner Frau Frida, die Schriften aus dem Russischen übersetzte. Ludwig Rubtner starb, erst 39 Jahre alt, im Februar 1920.

Lene Jansen führte mir eines Tages einen jungen Leutnant zu, der angab, in einem Büro im Wehrministerium zu arbeiten. Er hatte sie in einer Buchhandlung angesprochen, als beide das gleiche Buch verlangten. Ich war natürlich zuerst mißtrauisch und rief sein Büro im Reichswehrministerium an, ich bekam den Leutnant auch wirklich an den Apparat; seine Angaben stimmten. Er wurde mir noch uneigennützig und eifrig behilflich. Lene Jansens ältere Schwester war Sekretärin bei einem Mann, den sie „Doktor“ nannte. Obwohl niemals ein Name genannt wurde, wußte ich bald, daß ihr Chef Karl Radek war, der noch als Staatsgefangener im Zellengefängnis in der Lehrter Straße gehalten wurde. Die Schwestern wohnten zusammen bei ihrer Mutter, und eines abends stellte mir die Schwester ihren Verlobten vor. Es war ein junger Musiker, der später eine europäische Berühmtheit wurde: Hermann Scherchen. Politisch stand Scherchen, wie damals jeder Intellektueller mit Herz und Verstand, links. Er war nicht parteigebunden und nicht aktiv; er ging ganz in seiner Musik auf. Ich weiß noch, wie ich eines abends in die Wohnung kam und dort alles in heller Aufregung vorfand: die Schwester hatte einen Sohn geboren. Der Vater stand verlegen am Bett der jungen Mutter. „Nur einen Apfel hat er mitgebracht,“ sagte Lene Jansen empört zu mir. Lene Jansen heiratete später den Ungarn Rado, der im zweiten Weltkrieg durch seine geheime Tätigkeit für die Sowjetunion in der Schweiz viel genannt wurde. Er ist heute Professor der Geographie in Budapest.

Das andere Mädchen, Dora Bayer, erzählte mir von ihrem Freund, einem Studenten, der politisch sehr radikale Ansichten habe und sich sehr für die Kommunistische Partei interessiere. Auf mein Bitten brachte sie ihn eines abends zum Jugendheim mit. Es war ein wohlaussehender junger Mann, der mir sofort sympathisch war. Er erzählte mir, daß er erst kürzlich aus dem Baltikum zurückgekehrt sei. Er habe aber nicht zu den berüchtigten „Baltikumern“ gehört, sondern er war als noch 17-jähriger eingezogen worden und war mit seiner Einheit monatelang im Baltikum abgeschnitten gewesen. Er hieß Fritz Schönherr und er war genau der Typus, wie er in den Schulbüchern als vorbildlicher deutscher Siegfried-Recke dargestellt ist: athletische Figur, strohblond, blaue Augen; gesunde Gesichtsfarbe bewies, daß er in den Monaten am Baltischen Meer Sonne und Meeresluft genossen hatte. Wir wurden schnell Freunde, und in der Folge kam er zu den Versammlungen stets mit einer Gruppe Studenten, die ebenso enthusiastisch links standen wie er. Sie boten sich auch an, mich als eine Art Leibgarde zu Versammlungen in die Provinz zu begleiten. In den kommenden Monaten und besonders im Kapp-Lüttwitz-Putsch waren die Studenten mir eine unschätzbare Hilfe.

Später gehörte Fritz Schönherr zur politischen Arbeitsgemeinschaft um Paul Levi und um die neue Zeitung Das Tagebuch, die von Leopold Schwarzschild und Joseph Bornstein geleitet wurde. Fritz Schönherr wurde desweiteren Direktor der „Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten“ und Förderer der ersten Brecht-Weillschen Mahagonny-Aufführung, in der seine spätere Frau, die Schauspielerin und Sängerin Trude Hesterberg die Hauptrolle spielte. Anfang Mai 1945, während der Kämpfe um Berlin, als die russischen Armeen bereits den größten Teil Berlins besetzt hatten, wurde Fritz Schönherr von SS-Leuten erschossen.

Zum Jugendheim Alt-Jakob-Straße kamen neue interessante Typen und Themen hinzu. Ein Karl Frank aus Wien begann aus den damals viel diskutierten Schriften Sigmund Freuds und des Schweizers Auguste Forel über sexuelle Fragen vorzulesen. Als er die „freie Liebe“ etwas zu lebhaft propagierte, mußte sein Eifer gebremst werden und wir sagten ihm, daß das Jugendheim nicht der geeignete Ort sei, wenn er in dieser Frage zu taktlos werde. Wir wollten politisch bleiben. Karl Frank wurde später gemeinsam mit einem weiteren Mitglied dieses Jugendheims, Walter Lowenheim, unter dem Namen „Miles“ in der sozialistischen Welt bekannt. Beide waren die Autoren einer Untersuchung über die Ursachen des Zusammenbruchs der deutschen Arbeiterbewegung, die nach 1935 veröffentlicht wurde, mit einem Programmentwurf, betitelt Neubeginnen – Vorschläge zum Aufbau einer neuen sozialistischen Bewegung. Sie konnten sich jedoch bei den Sozialdemokraten im Exil nicht durchsetzen.

Seit im Juli 1919 der Versailler Vertrag nach theatralisch-komischem Gehabe der Regierung und der Nationalversammlung von diesen Gremien angenommen worden war, lag der Militärputsch in der Luft. Die Militärverschwörer gaben sich keine besondere Mühe ihre Absichten zu verbergen. Der General Lüttwitz und der Beamte Kapp hatten sich bereits im August 1919, am Tag nach der Wahl Eberts zum Reichspräsidenten getroffen und sich geeinigt, zum passend erscheinenden Termin loszuschlagen. Die Militärklauseln des Versailler Vertrages bestimmten die Auflösung des Restheeres und der Freikorps und forderten statt dessen die Schaffung eines Berufssoldaten-Heeres. Von den bisherigen rund 24.000 Offizieren des kaiserlichen Heeres sollten nur ungefähr 4.000 in das neue Heer übernommen werden. Die anderen 20.000 sollten arbeiten oder stempeln gehen. Das war der schrecklichste Schlag der diese Leute treffen konnte. Bisher hatte es in diesen Kreisen „Arbeiterschweine“ geheißen, wenn von den Menschen die Rede war, die den Herren das Brot backten, die Kasernen und Wohnungen bauten, die Uniformen schneiderten und auch die Waffen schmiedeten. Jetzt waren die früheren Offiziere in der Situation zur Erhaltung des eigenen Lebens selber arbeiten zu müssen. Das lag vorerst nicht in ihrer Absicht. Sie gedachten die Militärklausel des Versailler Vertrages zu ignorieren. Zuerst versuchten die Generäle, Noske zu überreden, als Diktator die Regierungsgewalt zu übernehmen. Wahrscheinlich nahmen sie an, Noske werde mit der Entente so umgehen können wie mit der deutschen Arbeiterschaft. Der geschmeichelte Noske aber war ein Parteimensch, er war sich bewußt, daß seine Laufbahn beendet wäre, wenn er sich von seiner Partei löste. Er hatte auch aus der arroganten Haltung der höheren Offiziere, die diese auch ihm gegenüber einnahmen, gespürt, daß die Militärs ihn ohne weiteres wegjagen würden, wenn er ihnen nicht mehr nützlich sein sollte. Der brutal-bauernschlau beschränkte Noske hat aus eitler Genugtuung, Vertrauter der Offiziere zu sein, nichts gegen die drohende Gefahr des Militärputsches unternommen. Er warnte weder die eigene Regierung noch die eigene Partei.

Zwei Monate, bevor die Verschwörer Kapp-Lüttwitz losschlugen, war ich Zeuge eines blutigen Gemetzels, das die sozialdemokratische Regierung unter den Berliner Arbeitern anrichten ließ und das die Haltung der Zentrale der KPD und besonders der Berliner Organisation zu Anfang des Kapp-Lüttwitz-Putsches mitbestimmte.

Die Nationalversammlung war mittlerweile von Weimar nach Berlin ins Reichstagsgebäude übersiedelt. Eine Demonstration der Betriebsarbeiter auf dem Königsplatz vor dem Reichstagsgebäude am 13. Januar 1920 forderte die Ausführung des Artikels 165 der Verfassung von Weimar. Der Artikel 165 bestimmte über die Betriebsräte:

»Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken.«

In vielen Reden und Proklamationen, Zeitungsartikeln und Plakaten hatten die Reichsregierung und ihre Presse die Ausführung dieses Verfassungsartikets, darüber hinaus auch die „Sozialisierung von Schlüsselindustrien“ versprochen und, wie immer, ihre Versprechungen nicht gehalten. Das Gesetz, das nun am 13. Januar 1920 der Nationalversammlung vorlag, sah die Wahl von getrennten Arbeiter- und Angestellten-Betriebsräten vor, sonst aber enthielt es nur Beschwerderecht anstatt Mitbestimmung und überhaupt nichts von der Mitwirkung an der Entwicklung der Produktion. Deshalb riefen eine neugebildete „Zentrale der Betriebsräte“, USPD und KPD zu einer Demonstration vor dem Reichstagsgebäude auf, um gegen die Mißachtung des Artikels 165 der Verfassung zu protestieren. Die Demonstration endete in einem Blutbad; 42 Arbeiter wurden auf der Stelle getötet und über 100 zum Teil so schwer verletzt, daß noch mehrere an den erlittenen Wunden starben.

Es hatten wohl an die hunderttausend Arbeiter und Angestellte mittags die Betriebe verlassen und waren zum Königsplatz marschiert. Ich war mit dem Fahrrad gekommen und mußte darum etwas weit zurück am Rande der Massen bleiben. Obwohl ich auf einer Stufe vor der Siegessäule stand, konnte ich nicht viel sehen, weil bei dem leichten Regen Hunderte der Teilnehmer ihre Regenschirme aufgespannt hatten und die Sicht zum Reichstagsgebäude noch mehr verdeckten. Von den Rednern, die von der Treppe des Gebäudes sprachen, sah und hörte man von meinem Platz aus kaum etwas. Damals gab es noch keine Lautsprecher bei Demonstrationen. Es war auch nicht zu sehen, daß hinter den Säulen des Reichstagsbäudes Maschinengewehre aufgebaut und auf die Massen gerichtet waren. Der Anmarsch aus den Betrieben hatte lange gedauert, ich stand schon fast zwei Stunden an meinem Platz. Es begann bereits zu dämmern, als plötzlich Maschinengewehre ratterten. Polizei und Soldaten, die hinter den Säulen postiert waren, feuerten in die Menschenmenge hinein. Diese rannten auseinander, Tausende wurden umgerissen oder warfen sich zu Boden. Nach mehreren Feuerstößen aus den Maschinengewehren brachen Polizei und Soldaten aus den Seitenstraßen hervor und schlugen auf die zurückweichenden oder am Boden liegenden Arbeiter und Angestellten ein. Das geschah in Sekundenschnelle. Zurück blieben nur die Toten und die schreienden Verwundeten, die sich auf dem Vorplatz zum Reichstagsgebäude im Blut wälzten. Der dünne Regen vermischte sich mit dem Blut der Opfer.

Ich fuhr ins Parteibüro und berichtete von dem Überfall. Wir konnten nur in ohnmächtiger Wut und Trauer auf weitere Nachrichten warten. Das Ausmaß des Verbrechens: zweiundvierzig Tote auf den ersten Schlag, erfuhren wir erst am folgenden Tag, als auch schon der Ausnahmezustand verhängt wurde. Damit waren die drei Wochen der Legalität wieder vorüber. Die KPD und die Rote Fahne wurden erneut verboten. Mitglieder der Partei, die sich nicht rechtzeitig verbergen konnten, wurden verhaftet, darunter auch der Vorsitzende der Partei, Paul Levi. Budich und ich waren sowieso „illegal“. Wir blieben einige Tage vom Büro und von den der Polizei bekannten Parteilokalen fern und trafen uns an anderen Orten.

Wie bei früheren Feuerüberfällen von Noske-Truppen auf Demonstrationen wurde auch diesmal behauptet, die Menge habe das Reichstagsgebäude stürmen wollen. Bewiesen wurde diese Beschuldigung niemals. Tatsache ist, daß die Demonstranten direkt aus den Betrieben gekommen waren, viele hatten ihre Schirme, ältere Leute ihre Spazierstöcke bei sich. Hunderte waren mit Fahrrädern gekommen. Das Aufstellen der Maschinengewehre hatte der preußische Minister des Innern, Wolfgang Heine angeordnet. Noske war erst am Tage vorher aus einem Urlaub zurückgekehrt. Doch erklärte er wieder zynisch-prahlerisch, „die Verantwortung zu tragen“. Es gab keine Stelle, die ihn zur Verantwortung zog. Noske erinnerte an das geflügelte Wort, das er selbst geprägt hatte: „Einer muß der Bluthund sein“. So wie einst Bismarck das Wort vom „Blut- und Eisenkanzler“ selber geprägt hatte.

Studierende der deutschen Geschichte, die den unaufhaltsamen Aufstieg Hitlers zur Macht deuten wollen, werden auch in diesem Blutbad einen weiteren Schritt zur Diktatur Hitlers erkennen: Hitler war noch ein Nichts, aber sein Geist war schon da. Der Artikel 165 der Verfassung von Weimar wurde bis zum schmählichen Ende der Republik 1933 nicht angewendet. Die Schöpfer der Verfassung selbst bewiesen damit, daß sie diese nicht ernst nahmen. Für die SPD hatte das Blutbad zur Folge, daß sie bei den nächsten Wahlen zum Reichstag, die sechs Monate später im Juni 1920 stattfand, einige Millionen Stimmen und 61 Abgeordnetensitze verlor.

In diesen Monaten fand ich Unterkunft bei einem jungen Ehepaar Wricke im Stadtteil Oberschöneweide. Das Haus stand nahe der Spree, einige hundert Meter von Köpenick entfernt. Die Wohnung bestand aus einem Zimmer und der Küche. Das junge Paar hatte erst, nachdem Wricke aus dem Kriege zurückgekehrt war, im heimatlichen Dorf geheiratet und war gleich darauf in die Stadt gezogen. Ein Baby war bereits da; es hatte sein Bettchen im Zimmer der Eltern. Wricke war arbeitslos, seine Frau hatte eine Heimarbeit.

Wenn ich dort übernachtete, wurde ein Klappbett in der Küche aufgestellt. Tagsüber war ich unterwegs. Ich hatte Gustav Wricke einige Monate zuvor durch den schon erwähnten Schneidermeister kennengelernt und ihn in die Partei eingeführt. Er entwickelte starken Lerneifer und begleitete mich einige Male zu Versammlungen auf dem Lande. Er sollte sich bald als ein intelligenter und mutiger Mann erweisen. In späteren Jahren machte er eine ungewöhnliche Karriere, die ihn nach China zu Borodin und zu Mao Tse-Tung führte.

Am frühen Morgen des 13. März fuhr ich mit dem Fahrrad zu einem Trefflokal in der Köpenicker Straße im Südosten Berlins. Wegen der Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch war ich in der letzten Woche in Berlin geblieben. Ich fuhr an den großen Elektrizitätswerken und anderen Betrieben des Industrievorortes Oberschöneweide vorbei und sah die Massen der Arbeiter zur Arbeit strömen. Die Straßenbahn verkehrte ebenso wie die Vorortbahn normal und als ich durch den Südosten Berlins kam, sah ich auch die Hochbahn fahren. Ich bemerkte noch keine Anzeichen, daß ein bedeutendes Ereignis eingetreten war.

Im Lokal angekommen, wartete ich auf Budich, der bald aufgeregt durch die Tür stürzte und erzählte, daß er unterwegs von der Straßenbahn aus am Potsdamer Platz Truppen mit Hakenkreuzen am Stahlhelm gesehen habe. „Vielleicht ist der erwartete Schlag der Freikorps erfolgt“, sagte er, „fahre mit dem Fahrrad zum Regierungs- und Zeitungsviertel, um zu schauen, was passiert ist.“ Ich fand das Zentrum Berlins von Militär besetzt, die Straße „Unter den Linden“ und die Wilhelmstraße waren gesperrt. Gruppen alkoholisierter, singender Soldaten, kriegsmäßig ausgerüstet, Gewehrpyramiden, rauchenden „Gulaschkanonen“, Lastwagen standen auf den Straßen um das Brandenburger Tor. Es war ein lärmender militärischer Betrieb. Aber auch mehrere hundert Zivilisten, teils mit schwarz-weiß-roten Armbinden oder Schleifen, erkennbar als Mitglieder der „Einwohnerwehren“, standen herum. Zweifellos waren sie vorher benachrichtigt worden. Ich mußte einen großen Umweg fahren, um zum Zeitungsviertel zu kommen. Dort standen ebenfalls Militärposten. Die Morgenzeitungen waren aber schon wie üblich in aller Frühe ausgetragen worden, sie lagen auch an den Kiosken zum Verkauf aus; sie konnten noch keine Berichte über die Ereignisse der vergangenen Nacht enthalten. Polizei war nirgends zu sehen. Unterwegs sah ich Lastwagen durch die Straßen rasen, von denen Soldaten Flugblätter abwarfen. Sie enthielten die Mitteilung, daß Kapp Reichskanzler und General Lüttwitz Reichswehrminister und Oberbefehlshaber sei. In einem weiteren Flugblatt wurde mitgeteilt, daß die Regierung Ebert-Noske- Bauer aus Berlin geflüchtet sei.

Ich kann und will hier keine Geschichte des Kapp-Lüttwitz-Putsches und der schmählichen Rolle der Ebert-Noske-Regierung vor und nach dieser Affäre schreiben, sondern nur meine Erlebnisse in diesen Tagen in Berlin schildern. Wenn ich stets Ebert-Noske- Regierung schreibe, so tue ich das der Klarheit wegen. Ich weiß wohl, daß der Reichskanzler Gustav Bauer hieß. Ebert war Reichspräsident. Aber Ebert und Noske machten die Politik, nicht der belanglose Gustav Bauer, der von sämtlichen Regierungschefs der Weimarer Republik wohl der farbloseste war. Eindeutig zeigte sich jetzt, daß Ebert als Reichspräsident nichts als den Haß großer Teile der Arbeiterschaft, die Verachtung des Bürgertums und den Hohn der Militärs erreicht hatte.

Der General Lüttwitz hatte vor seinem Einmarsch in Berlin die Reichsregierung verhöhnt, indem er seinen Putsch mit einem Ultimatum auch noch ankündigte. Er vermutete richtig, daß die Ebert-Noske-Regierung ihre Sachen packen und davonlaufen werde. Einen Tag vorher hatte die Berliner Presse Alarmmeldungen über die Absichten der Putschisten gebracht. Nur das SPD-Zentralorgan, der Vorwärts, glaubte nicht daran. Noske hatte dem Vorwärts-Redakteur Kuttner (vom früheren „Regiment Reichstag“) auf dessen Anfrage versichert, daß die Putschgerüchte unbegründet seien. Während des Telefongespräches Noske-Kuttner waren die Truppen bereits auf dem Marsch nach Berlin und besetzten anderntags auch den Vorwärts. Die Berliner Polizei verhielt sich nicht nur passiv, der sozialdemokratische Polizeipräsident Ernst, der ein Jahr zuvor an Stelle Eichhorns getreten war, ging zu den Putschisten über. Er war nicht der einzige führende Sozialdemokrat, der sich offen zur Konterrevolution bekannte, auch der sozialdemokratische Oberpräsident von Ostpreußen, August Winnig, putschte mit. So besetzte das Ehrhardtsche Freikorps in den frühen Morgenstunden des 13. März ungehindert Berlin. Die Söldner brüllten ihr Marschlied, das über ihre Absichten keinen Zweifel ließ:

»Hakenkreuz am Stahlhelm,
Schwarzweißrot das Band,
Die Brigade Ehrhardt
Werden wir genannt.

Arbeiter, Arbeiter,
Wie mag es Dir ergehn,
Wenn die Brigade Ehrhardt
Wird einst in Waffen stehn.

Die Brigade Ehrhardt
Schlägt alles kurz und klein,
Wehe Dir, wehe Dir,
Du Arbeiterschwein!

Hakenkreuz und Stahlhelm,« u. s. w.

Jetzt ging es nicht mehr nur gegen die Kommunisten, sondern gegen die Arbeiterschaft und gegen die Republik insgesamt.

Als ich einige Stunden später ins Lokal zurückkam, traf ich außer Budich auch Friesland und mehrere Parteimitglieder an, die heftig diskutierten. Wenn es eine politische Euphorie geben sollte, dann konnte die Stimmung unter den Anwesenden so bezeichnet werden. Ich berichtete über meine Beobachtungen in den Straßen Berlins und legte die mitgebrachten Flugblätter vor. Während meiner Abwesenheit hatten auch andere Genossen, die aus der inneren Stadt gekommen waren, die gleichen Flugblätter zur Hand und sie diskutierten auch bereits über den Aufruf zum Generalstreik, der vom Vorsitzenden der „Generalkommission der Gewerkschaften“, Carl Legien, unterzeichnet war.

Wir beschlossen, sogleich alle erreichbaren Funktionäre zusammenzurufen und mit Mitgliedern der Zentrale, soweit sie sich in Berlin aufhielten, zu beraten, wie wir uns verhalten könnten. Die Jüngeren von uns übernahmen es, in der Stadt herumzufahren, um die Funktionäre zusammenzuholen. Das war nicht schwierig, die meisten Funktionäre saßen arbeitslos zu Hause. Überrascht war niemand, alle hatten sich seit Tagen darauf eingerichtet, jederzeit bereit zu sein.

Am frühen Nachmittag kamen ungefähr 40 Funktionäre zusammen. Friesland referierte: „Die Ebert-Noske-Bauer sind stumm und widerstandslos in die Grube gefahren, die sie sich selber gegraben haben ... Die Arbeiterschaft darf keinen Finger rühren für die in Schmach und Schande untergegangene Regierung der Mörder Karl Liebknechts und Rosa Luxemburg.“ Budich, der am mißtrauischsten war, erinnerte ironisch an einen früheren Ausspruch Legiens: „Generalstreik ist Generalunsinn!“ Er riet abzuwarten und sprach die Vermutung aus, daß es sich bei diesem Militärputsch um eine abgekartete Sache zwischen Noske und der Reichswehr handeln könnte, um auch die USPD und die Gewerkschaften zerschlagen zu können. Budich hatte den stärksten Beifall, als er ausrief: „Die Wahl zwischen den Ebert- und den Ehrhardtleuten ist eine Wahl zwischen Cholera und Pest, wir müssen uns zurückhalten, bis wir eine eigene Aktion durchführen können.“ Die Auffassungen Frieslands und Budichs wurden von allen Anwesenden unterstützt.

Am späten Nachmittag war eine weitere Sitzung der in Berlin anwesenden Mitglieder der Zentrale der KPD, die einen Aufruf an die Arbeiterschaft beschloß, in dem die Formulierungen Frieslands und Budichs wörtlich übernommen wurden. Der Aufruf wurde am folgenden Tag, einem Sonntag, in der Roten Fahne veröffentlicht. Es wurde beschlossen, die Versammlung der Berliner Organisation und der Zentrale Sonntag früh fortzusetzen und in Permanenz zu tagen. An alle Parteimitglieder erging die Weisung, sich ständig in einigen Lokalen zu versammeln; bekanntere Mitglieder sollten sich eventuell verbergen, um nicht verhaftet zu werden.

Der erste Putschtag war ein Sonnabend, die Arbeiter hatten die Betriebe bereits mittags verlassen. Der Verkehr auf der Straße ebbte ab. Das war noch kein Streik. Die Aufrufe der Gewerkschaftsleitung und der USPD waren noch nicht verbreitet. Als ich im Jugendheim Alte Jakobstraße ankam, waren dort mehrere Jugendliche versammelt. denen ich von den Vorgängen des Tages berichtete und die daraufhin sofort bereit waren, die aktiven Parteimitglieder zum nächsten Morgen, Sonntag früh, zusammen zu holen. Die stärkste Unterstützung fand ich in Fritz Schönherr, der mit seiner Studentengruppe zum Jugendheim kam. Er berichtete, daß den Studenten durch Anschläge am „Schwarzen Brett“ in der Universität mitgeteilt worden war, daß die Universität geschlossen sei und daß die Studenten sich bei den Militärbehörden der Putschisten als „Zeitfreiwillige“ melden sollten. Die Studenten waren mit der abwartenden Haltung der Zentrale der KPD durchaus nicht einverstanden, sie wollten unbedingt mit der Waffe gegen die Kapp-Lüttwitz-Putschisten kämpfen. Einige von ihnen waren im Felde gewesen und wußten mit Waffen umzugehen. Nur sie hatten keine; die Partei konnte ihnen auch keine geben. Nur mit größter Mühe konnte ich sie überzeugen, daß es am zweckmäßigsten sei, abzuwarten, bis die KPD zum Kampf aufrufen werde. Alte erklärten sich bereit, ebenfalls am folgenden Morgen teils in ihrem Stammcafé, teils im Jugendheim zusammenzukommen.

Am Sonntagmorgen begleitete mich Wricke auf seinem Fahrrad in die Stadt. Unterwegs bei der Durchfahrt durch Oberschöneweide, suchten wir noch Parteimitglieder auf, die wir baten, die übrigen Mitglieder zu informieren und Verbindung mit den Funktionären der USPD und den Gewerkschaften aufzunehmen. Das waren fast immer die selben Männer. Die meisten unserer Mitglieder waren ebenso wie die Unabhängigen gleichzeitig Gewerkschaftsfunktionäre: alle kannten sich untereinander. Sie waren hellsichtig genug, um zu erkennen, daß es sich jetzt um eine unmittelbare Bedrohung ihrer Existenz handelte. Die Rote Fahne mit dem Aufruf der Zentrale war in der Nacht gedruckt und ausgegeben worden. Die Druckerei war den Kapp-Lüttwitz-Truppen nicht bekannt und nicht besetzt worden. In Berlin war es von jeher üblich, daß die Sonntagsausgaben der Zeitungen Sonnabend abends bis Mitternacht gedruckt wurden.

Die Jugendlichen und die Studenten hielten ihr Wort. Als ich am folgenden Morgen ins Heim kam waren sie schon beisammen. Die Studenten brachten auch den ersten Aufruf der Ebert Noske mit, den diese von Dresden aus, ihrer ersten Fluchtetappe, nach Berlin geschickt hatten. Jetzt redete die geflüchtete Reichsregierung die Bevölkerung mit „Arbeiter, Genossen“ an und proklamierte „Lahmlegung des Wirtschaftslebens und Generalstreik auf der ganzen Linie“. Der Auftrag trug die Unterschriften nur der sozialdemokratischen Minister, die bürgerlichen Minister hatten die Unterzeichnung abgelehnt. Für den Vorstand der SPD zeichnete Wels. Später bestritten die sozialdemokratischen Minister, den Aufruf unterzeichnet zu haben. Uns erschien der Aufruf Eberts und Genossen so grotesk, als ob Henker ihre Opfer um Hilfe bäten. Noske hatte kürzlich erst erklärt, er werde „jedem Streikenden die Knochen zerbrechen“. Jetzt aber sollte durch „Lahmlegung des Wirtschaftslebens“, also durch Streik, die politische Karriere dieser Bankrotteure gerettet werden. In dem Hilferuf an die „Arbeiter, Genossen“ stand kein Wort über die zukünftige Politik nach der Niederwerfung der Kapp-Lüttwitz-Putschisten.

Im Jugendheim wurde nun mit Begeisterung ein Beobachtungs- und Nachrichtendienst organisiert. Die Studenten und Jugendlichen wurden zu zweit eingeteilt, zum Regierungsviertel, zu den Kasernen, Versorgungs- und Verkehrsbetrieben und zu den großen Werken am Stadtrand zu eilen, die Bewegungen der Putschtruppen zu beobachten und die Reaktion der Bevölkerung zu erfahren. Ungefähr alle zwei Stunden kam einer der beiden zurück, um zu berichten. Aus den südöstlichen Vororten berichtete Wricke, der mit seinem Fahrrad ständig unterwegs war. Hinzu kamen dann noch mehrere Mitglieder meiner früheren Moabiter Jugendgruppe und jüngere Genossen aus anderen Bezirken. So entstand ein zuverlässiger Nachrichtendienst, der bald mehr als vierzig Mitglieder zählte. Diese waren von nun an täglich vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein unterwegs und berichteten zahlreiche Einzelheiten über das Treiben der Kapp-Lüttwitz-Putschisten, die zum Teil in die Geschichte dieses Putsches eingegangen sind. Friesland, Budich und die Distriktsleiter der Berliner KPD tagten mit Mitgliedern der Zentrale in Permanenz. Mit dem Fahrrad fuhr ich mehrmals zur Sitzung, um die gesammelten Berichte weiterzugeben. Da der zweite Tag ein Sonntag war, wurde in den Betrieben sowieso nicht gearbeitet. Doch die Verkehrsbetriebe, teilweise auch die Elektrizitäts- und Gasversorgung, waren bereits stillgelegt, die Bahnhöfe waren verlassen. Die Gewerkschaftsführer, die Mehrheits- und Unabhängigen Sozialdemokraten hatten durch den Sonntag eine willkommene Vorbereitungszeit. Am Montag früh legte der Generalstreik das gesamte Wirtschaftsleben wirklich still. Da fast alle Mitglieder der KPD gleichzeitig Gewerkschaftsmitglieder und auch Funktionäre waren, richteten sie sich nach den Parolen der Gewerkschaftsleitung, um nicht gegen die überwältigende Mehrheit der Arbeiter zu stehen. Deshalb hatte die erste abwartende Parole der Berliner KPD auf den Verlauf des Abwehrkampfes faktisch keine Bedeutung gehabt.

Schon am folgenden Montag änderte sich auch die Haltung der Zentrale. Paul Levi hatte noch am Sonntag ein Exemplar der Roten Fahne mit dem Aufruf erhalten. Levi war nicht Strafgefangener, sondern „Präventivhäftling“. Er konnte Besuche empfangen und sein eigenes Essen kommen lassen. Es ging auch täglich eine Angestellte seines Anwaltsbüros zum Gefängnis. Dadurch war es möglich, ihm noch am Sonntag die Zeitung in die Zelle zu schmuggeln. Levi schrieb sofort einen Brief an die Zentrale mit der Forderung, die Losung des Abwartens sofort zurückzunehmen und aktiv für den Generalstreik einzutreten. Dieser Brief konnte noch Montag früh aus dem Gefängnis geschmuggelt werden. Zwei Tage später war Levi frei, und er übernahm wieder die Führung der Partei.

Der alles lahmende Generalstreik traf die Putschisten mit unerwarteter Wucht. Während wir in Permanenz tagten, brachte Schönherr das Ultimatum der Kapp-Lüttwitz-„Regierung“, welches die Aufforderung zum Streik und das Streikpostenstehen ab folgendem Tag, Dienstag, mit dem Tode bedrohte. Die Androhung der Todesstrafe schreckte keinen Studenten und keinen Jugendlichen meiner Gruppe ab. Im Gegenteil, die Gefahr verstärkte den Eifer, am Sturz der Militärdiktatur mitzuwirken. Die Zentrale der KPD schrieb einen neuen Aufruf für den Generalstreik, gleichzeitig gegen die Wiederkehr der Ebert-Noske-Regierung und für die Wahl von Arbeiterräten. Eine Bewaffnungsparole lehnte die Berliner Leitung jedoch weiterhin entschieden ab.

In den nächsten Tagen erhielten wir Berichte, daß die KPD in anderen Gebieten, besonders im Ruhrgebiet und in Sachsen, sofort am ersten Tag zum Generalstreik aufgerufen hatte und daß ihre Vertreter fast überall in den Streikleitungen saßen. Demgegenüber aber hatte in Bayern die Regierung unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hoffmann sich gegen den Generalstreik ausgesprochen, woraufhin die Arbeiter Bayerns prompt die Reichsregierung im Stich ließen. Die Hoffmann-Regierung wurde trotzdem einige Tage später von der bayrisch-monarchistischen Volkspartei weggejagt, die einen unpolitischen Beamten namens von Kalir als Ministerpräsidenten einsetzte.

Meine Nachrichtengruppen brachten laufend Meldungen, daß es auf den Straßen und Plätzen, wo die Kapp-Lüttwitz-Truppen durchmarschierten oder auf Lastwagen durchrasten, vielfach zu erregten Kundgebungen der Bevölkerung gegen die Putschisten käme. Zu blutigen Kämpfen kam es jedoch nicht, obwohl wieder, ähnlich wie im März des vergangenen Jahres, eine Falschmeldung verbreitet wurde, die besagte, daß in Schöneberg zwölf Offiziere von der Menge erschlagen worden seien. Diese Falschmeldung konnte diesmal keine Blutbäder erzeugen. Die Demonstranten verschwanden jedesmal von den Straßen und rannten in die Hausflure, wenn die Soldaten ihre Gewehre anlegten. In einigen Straßen wurden von den Bewohnern improvisierte Sperren errichtet, quergestellte und umgekippte Wagen sollten die Durchfahrt der Truppen behindern. Der passive Widerstand entnervte allmählich die Putschtruppen. Auf Schritt und Tritt von einer feindlichen Menge umgeben, geschlossene Läden, abends kein Licht und kein Kneipenbesuch, das alles ließ das Selbstbewußtsein der Truppen schnell absinken.

Schon nach drei Tagen Generalstreik zweifelten die Offiziere und die höheren Beamten am Erfolg ihres Putsches; sie waren bereits uneinig geworden und begannen mit der in Stuttgart wartenden Ebert-Regierung zu verhandeln. Die Ebert-Noske-Regierung war ebenso beunruhigt wie die Putschisten, daß bei längerer Dauer des passiven Widerstandes beide die Verlierer sein könnten. Der Innenminister der Putschisten, der frühere Berliner Polizeipräsident von Jagow, hatte es auch nicht vermocht, den Dienst des Verwaltungsapparates im Gang zu halten. Er versuchte ebenso erfolglos an das Geld der Reichsbank heranzukommen. Ohne Geld keine Freikorps! Am Donnerstag, nach drei Tagen Generalstreik verschwanden die Kapp-Lüttwitz-von Jagow aus Berlin. Die gerettete Ebert-Regierung aber ernannte den General von Seeckt, der sich zu Beginn des Putsches geweigert hatte, die Regierung zu schützen, zum Oberbefehlshaber der Reichswehr. Bald rächte die Reichswehr ihre erfolglosen Kapp-Lüttwitz-Kameraden. Beim Abmarsch aus dem Regierungsviertel schossen die Erhardttruppen am Brandenburger Tor in die lachenden Zuschauer und töteten zwölf Personen; in Steglitz schossen Offiziere auf Straßenpassanten und töteten sieben; in Köpenick, nicht weit von meiner Unterkunft entfernt, besetzte die Soldateska das Rathaus und erschoß den Stadtverordneten Futran und vier weitere Bürger. Kämpfe hatten in Köpenick nicht stattgefunden. Der Platz vor dem Rathaus in Köpenick heißt heute Futran-Platz.

Den Ausgang des Kapp-Lüttwitz-Putsches habe ich vorweggenommen. Letzten Endes hatte sich die Taktik Frieslands und Budichs als richtig erwiesen, daß sie anfangs mißtrauisch-zurückhaltend waren. Die Berliner Arbeiter waren nicht bereit gewesen, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen. Das hatten die Dutzende von Berichten, die ich aus den großen Betrieben und aus allen Bezirken Berlins zusammengebracht hatte, eindeutig ergeben. In Berlin hatte sich nichts „Heroisches“ ereignet. Nach meinen Erfahrungen in diesen Tagen ist es sinnlos, von einer „verpaßten revolutionären Gelegenheit“ zu reden, wie es Jahre hindurch in internen und öffentlichen Parteidiskussionen geschah. Die KPD hatte in diesen Tagen in Berlin keine Massen hinter sich und keine Waffen; die Parteimitglieder hätten in einem Kampf allein gestanden. Auf ihre Isolierung wäre ein weiteres Verbluten gefolgt, wie es dann auch mit der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet geschah. Die Legende, daß die Arbeiterschaft durch den Generalstreik einen großen Sieg errungen habe, wird weiter gepflegt. Gewiß, der Anschlag auf die gesamte Arbeiterschaft wurde abgewehrt. Der Kapp-Lüttwitz-Putsch hatte Arbeitermassen in Bewegung gebracht, die sich seit den Novembertragen 1918 im Kampf um die sozialistische Revolution nur zuschauend verhalten hatten. Doch mehr als die Abwehr des Anschlages erreichte die Arbeiterschaft durch den Generalstreik nicht. Mehr kann ein Streik auch nicht erreichen. Ich sah damals die Situation so, wie sie Trotzki in seinem Buch über die erste Revolution in Russland 1905, das ich im Militärgefängnis gelesen hatte, darstellte:

»Es ist im Kampf äußerst wichtig, den Feind zu schwächen; diese Aufgabe vollbringt der Streik ... Gleichzeitig bringt er auch die Armee der Revolution auf die Beine. Aber weder das eine noch das andere schafft eine staatliche Umwälzung.«

Wie alles weiterging, ist bekannt. Die Putschisten wurden nicht entwaffnet. Das von der Kapp-Lüttwitz-Regierung verhängte Standrecht und die zahlreichen Erschießungen wurden von den Gerichten der Republik als rechtens erkannt. Die Verbrechen der Putschisten wurden nicht gesühnt. Mörder brauchten damals nur anzugeben, daß sie einen Ermordeten für einen „Spartakisten“ gehalten hätten, um freigesprochen zu werden. Im ganzen gesehen war der Kapp-Lüttwitz-Putsch eine voreilige Machtprobe gewesen, ein vorzeitiges Vorprellen der Reaktion, die noch keine Massenbasis in der Bevölkerung hatte. Alles, was die Kapp-Lüttwitz-Putschisten forderten und noch mehr, sollte erst 13 Jahre später in Erfüllung gehen: Zerschlagung der gesamten Arbeiterbewegung, Wiederaufrüstung, Vernichtung der europäischen Juden und Revanchekrieg.

Ungefähr eine Woche nach Beendigung des Kapp-Lüttwitz-Abenteuers kam Schönherr zu mir und fragte, ob er mir einen jungen Studenten vorstellen könne, der sich in den Putschtagen als besonders eifrig und mutig erwiesen habe. Der Student gehöre zu seiner Gruppe, er, Schönherr, kenne ihn schon seit einigen Monaten und er bürge für seine Zuverlässigkeit. Ich willigte gern ein, und Schönherr brachte den Studenten an einem der nächsten Abende zum Jugendheim, Alte Jakobstraße mit. Der junge Mann stellte sich vor: Heinz Neumann. Er war wohl 18 Jahre alt und gab sich sehr selbstbewußt. Er äußerte den Wunsch, ständig mitzuarbeiten und in die KPD aufgenommen zu werden. Ich bestellte ihn einige Tage später zum Jugendheim und ließ ihn einen Aufnahmeschein ausfüllen. Ich unterzeichnete als Bürge und gab die Beitrittserklärung an Friesland weiter. So wurde Heinz Neumann Mitglied der KPD. Einige Wochen später fragte er mich, ob ich ihn auch „höheren“ Parteileuten vorstellen könne. Das konnte ich. So begann die politische Laufbahn Heinz Neumanns, die achtzehn Jahre später in Stalins Gefängnissen endete, nachdem er im Laufe der Zeit Mitglied des Zentralkomitees der KPD, Reichstagsabgeordneter, Kominternbeauftragter bei der unglücklichen Aufstandsaktion Dezember 1927 in Kanton (China) und kurze Zeit auch Günstling Stalins gewesen war.

 


Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023