Karl Retzlaw

SPARTACUS
Aufstieg und Niedergang

* * *

15. Kein „Roter Oktober“ 1923


Als der Parteivorsitzende Brandler in den ersten Septembertagen aus Moskau kommend wieder in Berlin eintraf, fand er nicht mehr die fieberhaft-brodelnde Stimmung vor, wie sie bei seiner Abreise geherrscht hatte, obwohl sich die politische und wirtschaftliche Lage Deutschlands weiter verschlechtert hatte. Unter dem sozialdemokratischen Finanzminister war die deutsche Währung noch mehr zerfallen, der Kurs der Goldmark stand am Tage der Rückkehr Brandlers auf neunzehn Millionen Papiermark. Die Reichsregierung konnte den „passiven Widerstand“ im Ruhrgebiet nicht mehr finanzieren, doch aus Furcht vor den Nationalisten wagte sie noch nicht, ihn offiziell zu beenden. Trotz der zahlreichen Streiks, die immer wieder in den Industriegebieten aufflammten, war die Erregung in der Bevölkerung, die „kochende Volksseele“, jetzt mehr im Mittelstand als in der Arbeiterschaft festzustellen. Die Disziplin der sozialdemokratisch und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter bewährte sich wieder einmal, weil ein Führer der SPD Finanzminister war.

Die Zentrale der KPD war am Tage der Rückkehr Brandlers in Berlin vollzählig beisammen. Brandler berichtet über die Verhandlungen mit der Exekutive der Kommunistischen Internationale, die ihm alle Vollmachten zugestanden habe, sowohl zum revolutionären Aufstand wie auch zum eventuellen Eintritt von Kommunisten in die sächsische Regierung, die von einem linksgerichteten sozialdemokratischen Ministerpräsidenten geführt wurde. Während der Sitzung der Zentrale sagte mir Brandler, daß er mich am folgenden Morgen treffen müsse, um mir eine wichtige Person vorzustellen.

Es war ein blonder mittelgroßer Mann mit frischer Gesichtsfarbe, mit dem wir uns in einem Berliner Vorort trafen. Ich schätzte sein Alter richtig Mitte dreißig Jahre. Brandler stellte ihn mir als Helmut Wolf vor. Ich erhob den Einwand, daß wir im „Apparat“ schon einige „Wölfe“ hätten, er möchte doch einen Namen außerhalb des Zoos wählen. Helmut Wolf verwahrte sich dagegen und behauptete, an seinem Namen seien seine Eltern schuld. Er bat mich, ihn nur mit Helmut anzureden. Wir plauderten zur Einführung belangloses Zeug, und ich erfuhr dabei, daß er seit einigen Tagen in Berlin sei und daß er sogar schon einige Museen besucht habe. Er sprach ein hartes, klares Deutsch.

Brandler kam zur Sache und sagte, daß Helmut Wolf zwar nicht mein „Vorgesetzter“ sei, aber ich solle ihn unverzüglich in alle Arbeiten einführen und ihn über jede Einzelheit der Apparate der Partei informieren. Im Fortgehen fügte Brandler noch hinzu, daß er außer mit mir direkte Verbindung auch mit Helmut Wolf halten werde. Ich blieb mit meinem neuen Mitarbeiter einige Stunden im Gespräch über die russischen und westeuropäischen Revolutionen und über die aktuelle Situation in Deutschland. Ich fand, daß Helmut Wolf vor seiner Reise nach Berlin gut vorbereitet worden war und ich merkte auch bald, daß er ein Militär war. Nur einige private Bemerkungen fielen zwischendurch, aus denen ich entnahm, daß er aus dem Baltikum stammte und daß er im Elternhaus und während seiner Lehrzeit in einer Maschinenfabrik Deutsch gelernt hatte. Obwohl er mir seine Identität erst einige Monate später enthüllte, füge ich hier gleich hinzu, daß ich es mit dem Generalmajor Skoblewski-Rose zu tun hatte.

Im Laufe des Gesprächs sagte mir Wolf-Skoblewski, daß er mich auf meinen Reisen begleiten und daß er die deutsche Arbeiterbewegung und, soweit wie möglich, auch Deutschland kennenlernen möchte. Über die deutschen Arbeiterparteien habe er in einer Akademie schon mehrere Vorlesungen gehört. Er frage mich, ob ich in der Lage sei, ihn täglich eine halbe Stunde über die deutschen Gewerkschaften zu unterrichten. Zu den O-D-Zusammenkünften in Berlin würde er zwar sehr gern kommen, aber Brandler habe diesen Wunsch entschieden abgelehnt. Wir vereinbarten, uns täglich vormittags zu treffen, jeweils an einer anderen Stelle. Nicht zu früh am Morgen, weil er morgens eine Stunde Eislaufen möchte. So ging er auch wirklich, wenn er in Berlin war, jeden Morgen zum Sportpalast. Wo er sich eingemietet hatte, sagte er mir nicht.

Unsere erste gemeinsame Reise führte uns nach Kiel, Hamburg, Bremen, Hannover, Magdeburg. Um „mit dem Volk“ zu sein, wie Wolf-Skoblewski es nannte, fuhren wir dritter Klasse, weil die Schnellzüge keine vierte hatten. Wir hatten vereinbart, unterwegs nur dann zu sprechen, wenn wir allein im Abteil saßen. Ich las Tages- und Sportzeitungen, Wolf-Skoblewski studierte die Reclam-Ausgabe von Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit.

Die Ortsgruppe der KPD in Kiel war zahlenmäßig schwach. Einige zuverlässige Funktionäre bildeten gleichzeitig den O-D und M-D-Apparat. Proletarische Hundertschaften gab es hier nicht. Mit den Funktionären, die binnen einer halben Stunde zusammengerufen werden konnten, sprach ich über die Situation, Helmut Wolf-Skoblewski, den ich hier und auch künftig als engen Mitarbeiter vorstellte, hörte wie unbeteiligt zu. Er hat sich auf allen Reisen, auf denen er mich begleitete, niemals an Gesprächen beteiligt. Wir übernachteten in Kiel in einem mittleren Hotel. Ich gab mich als kaufmännischer Angestellter aus, Wolf-Skoblewski als Techniker. Wolf-Skoblewski trug zudem eine Fensterglasbrille mit Messingrand. Ich genierte mich etwas, als er eine geladene und entsicherte Browningpistole auf den Nachttisch legte. Obwohl ich ihn zu überzeugen versuchte, daß unsere Papiere einwandfrei seien und daß, wenn es an der Tür klopfen sollte, es sicherlich nur der Hausdiener oder das Zimmermädchen sein könnten, bestand er doch auf seiner „Sicherung“. So hielt er es auch auf jeder weiteren Reise und in jedem Hotel. In Orten, in denen noch Gewerkschaftshäuser mit Zimmervermietungen bestanden, wollte er nur dort übernachten. Nicht weil er sich dort sicherer fühlte, sondern weil er „Proletarier“ sei.

Hamburger O-D-Leiter war ein Redakteur Hommes. Von der Plattform des Turmes der St. Michaeliskirche bot Hommes uns einen großartigen Rundblick über Stadt und Hafen von Hamburg. Er erklärte uns die Positionen der Stadt in einer Form, als gehöre sie ihm schon. Ausgezeichnet informiert, ohne Notizen, zeigte er uns die Stadtviertel mit den stärksten Parteiorganisationen, die Werften mit Angabe der Belegschaftsstärken, Gewerkschaften, Parteigruppen und „Proletarischen Hundertschaften“. Er konnte uns von oben auch die Polizeireviere zeigen und erläuterte wie sie im Ernstfalle besetzt werden sollten.

Ich wußte das alles von früheren Besuchen. Wolf-Skoblewski war beeindruckt. Ernst Thälmann sprachen wir nicht. Der spätere KPD-Vorsitzende Thälmann war damals ein Kneipen-Volksredner. Weil der Alkohol in seinem Leben eine zu große Rolle spielte, wurde er nicht in Einzelheiten des „Apparates“ eingeweiht. Um diese Zeit war er auch nicht der politische Kopf der KPD in Hamburg, sondern das war ein Lehrer Hugo Urbahns. Urbahns gehörte zur Oppositionsgruppe Fischer-Maslow. Er war sofort mißtrauisch, als wir ihn besuchten, und wollte den „wahren Grund“ des Besuches wissen. „Ihr habt doch hoffentlich nichts vor“, fragte er immer wieder.

Am gleichen Nachmittag fuhren wir nach Bremen, wo wir am Abend die O-D-Leiter sprachen und wo wir auch übernachteten. Ich erzählte dem stets interessierten Wolf-Skoblewski von der Bremer revolutionären Tradition, von dem Wirken Karl Radeks, Paul Frölichs, Johann Kniefs, von der kommunistischen Künstlerkolonie Heinrich Vogelers, Worpswede, und von der sozialdemokratischen Parteischule vor dem Weltkriege, deren Sekretär Wilhelm Pieck gewesen war, in der Rosa Luxemburg lehrte, und vom gegenwärtigen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, der an einigen Kursen teilgenommen hatte und der in Bremen auch Gastwirt gewesen war.

Wir schafften es, am nächsten Tage noch die O-D-Leiter von Hannover und Magdeburg zu sprechen, so daß wir nach einer halben Nachfahrt am frühen Morgen in Berlin eintrafen. Wolf-Skobelewski sagte mir, daß er, anstatt auszuschlafen, seine Schlittschuhe holen und zum Eislaufen gehen werde. In der Unterredung nach seiner Eislaufstunde zeigte sich Wolf-Skoblewski sehr befriedigt, deutsche Kommunisten kennengelernt zu haben, aber er fragte, warum die ganze Organisationsarbeit nicht ausreiche, die Aufmärsche der reaktionären Wehrverbände, „Stahlhelm“, „Jungdeutscher Orden“, „Völkische“, „Nationalsozialisten“ (die Abkürzung „Nazis“ war noch nicht geläufig) zu verhindern. Ich versuchte ihm zu erklären, daß diese Verbände mit Unterstützung der Staatsmacht operierten, wenn wir zuschlügen, werde es zum Machtkampf kommen. Gegendemonstrationen und Zusammenstöße hatten wir in Deutschland ja alle Tage. Das Signal zum Machtkampf aber könne nur die Zentrale der Gesamtpartei geben. Wolf-Skoblewski hatte einen sicheren Instinkt für Personen und sich einige O-D-Funktionäre gemerkt, die ihm nicht gefielen, ich solle sie rechtzeitig auswechseln. Auch hierzu mußte ich ihm erklären, daß ich öfters Änderungen vorgeschlagen und durchgesetzt hatte, daß aber die leitenden O-D-Funktionäre von den Bezirksleitungen der Partei ausgesucht werden. Wenn ich gelegentlich Funktionäre ablehnte, mußte ich meine Bedenken konkret begründen. Die Bezeichnung „ungeeignet“ genügte nicht. Ich mußte begründen, daß die betreffenden Fianktionäre eventuell zu sehr der Polizei bekannt sind, also beobachtet werden, sie könnten andere Funktionäre in Gefahr bringen, oder daß sie geschwätzig, nachlässig, wichtigtuerisch seien. Dann erst willigten die Bezirksleitungen ein, andere Funktionäre vorzuschlagen. Es gab auch Bezirke, die überhaupt keinen geeigneten Mann als O-D-Leiter benennen konnten. Deshalb wurde zum Beispiel der „Freudianer“ Karl Frank, den ich 1920 im Jugendheim, Alte Jakobstraße kennengelernt hatte, als Leiter in München eingesetzt.

Wolf-Skoblewski sagte mir nach einigen weiteren kurzen Reisen, daß er im großen und ganzen die Überzeugung gewonnen habe, daß die Funktionäre der KPD von ihrer Aufgabe, Zurückschlagung der Reaktion, wirklich erfüllt wären. Das war zweifellos richtig geurteilt. Wohl jeder dieser Funktionäre war überzeugt, daß Gewaltanwendung im Kampf gegen die Reaktion gerechtfertigt ist, da eine kleine Minderheit von Großkapitalisten, die die Weltverbände unterhielt und die Politik der rechtsstehenden Parteien bestimmte, das arbeitende Volk mittels der Inflation ausplünderte und es in einen neuen Krieg hineinstoßen wollte. Ich hatte mir in meinen Vorträgen auch immer Mühe gegeben, die Mitglieder zu überzeugen, daß die Arbeit des O-D und der „Proletarischen Hundertschaften“ nur von der Reaktion als „illegal“ bezeichnet werden könne, daß die Arbeit als Teil der Parteiarbeit im Interesse des arbeitenden Volkes zwar konspirativ sein müsse, aber legal sei. Jedoch waren noch im September 1923 die Kampfformationen der KPD außerhalb industrieller Großstädte recht schwach. In vorwiegend ländlichen Gebieten wie Schlesien, Pommern, Ostpreußen und Bayern hatten wir zwar Parteiorganisationen, aber keine Massenbasis, keinen O-D und keine „Proletarischen Hundertschaften“. Dagegen waren in diesen Gebieten die verschiedenen gegnerischen Wehrverbände nach Zahl und Bewaffnung sehr stark.

Nach den Großsprechereien der kommunistischen Tagespresse zu urteilen, könnte ein kritischer Leser den Eindruck gewinnen, als ob ich die Dinge verniedliche. Die Großsprecherei der kommunistischen Presse wie auch die Vergötzung des „klassenbewußten Proletariat“ war ein Bestandteil der kommunistischen Propaganda. Die Parteipresse heroisierte jede noch so geringe Protestdemonstration. Für mich hatte das Erscheinen Wolf-Skobelewskis den großen Vorteil, daß ich nicht vor jeder Reise bei Brandler um das Fahrgeld zu betteln brauchte. Nicht einmal der zentrale „Apparat“ hatte einen „Etat“. Die Geldsummen, die von der Komintern gegeben wurden, wurden zu 80 % für die Parteizeitungen und –häuser ausgegeben. In den Parteizeitungen gab es wenig Inserateneinnahmen, die Einnahmen kamen fast nur aus dem Verkauf, und diese deckten nur einen Bruchteil der Kosten. Wolf-Skoblewski sorgte weiterhin dafür, daß mir für meine Fahrten in Berlin ein Auto zur Verfügung gestellt wurde, im Herbstregen und wegen der frühen Dunkelheit konnte ich schlecht mit dem Fahrrad herumfahren.

Als ich an einem dieser Tage ins Zimmer Brandlers trat, sagte er mir, daß er mich erwartet habe und daß ich ihn sogleich nach dem Mittagessen nach Leipzig begleiten solle. Er hatte schon meine Fahrkarte mitbesorgen lassen. Wie üblich fuhren wir in verschiedenen Abteilen. Auf dem Bahnhof in Leipzig angekommen sagte er, daß unser Ziel Jena sei und daß wir dort eine streng vertrauliche Unterredung mit Offizieren haben würden. Vom Bahnhof in Jena geleitete uns ein Parteimitglied zu einer Villa, in der vier Personen, drei Offiziere und Wolf-Skoblewski, auf uns warteten. Die drei Offiziere stellten sich ganz unkonspirativ mit richtigem Namen und Rang vor. Die Wände des Konferenzzimmers waren mit Generalstabskarten von Nordbayern, Sachsen, Thüringen und Hessen behängt. Der Wortführer der Gruppe hatte sich als Hans von Hentig vorgestellt und er hielt einen ausführlichen Vortrag über den bevorstehenden Einmarsch der bayrischen Wehrverbände mit Unterstützung von Reichswehrteilen in Thüringen und Sachsen. Dieser Vormarsch müsse mit einem Aufmarsch der Roten Hundertschaften bei Kassel beantwortet werden und er kam zum Schluß: „Unsere Verbände marschieren durch das ‚Kasseler Loch‘ und stehen im Rücken des Gegners, der kapitulieren muß.“ Damit wäre auch der ganze Kampf beendet, denn nach seinen Berichten wurden die bayrischen Wehrverbände mit ihrem gesamten Kräften marschieren und keine Reserven haben. Alles wurde mit einer recht eindrucksvollen Sicherheit vorgetragen. Wolf-Skoblewski und Brandler stellten zahlreiche Fragen und es entwickelte sich eine Diskussion über Hunderte von Einzelheiten die bis in die Morgenstunden hinein dauerte. Ich stellte nur die eine Frage, ob Aussicht bestünde, daß sich Formationen der Reichswehr uns anschließen werden. Stimmungsgemäß bestimmt antwortete von Hentig, der von seinen Begleitern einige Male als „Herr Major“ angesprochen wurde, dafür bürgen diese beiden Offiziere, und wir hätten dieses Gespräch sonst nicht gesucht. Aber welche Formationen kann sich erst im Moment des Aufstandes herausstellen.“ Genaues wußte der Herr Major also auch nicht Brandler vereinbarte mit ihm eine weitere Besprechung in Berlin.

Es war bereits heller Morgen als wir das Haus verließen. Von Jena bis Leipzig fuhr ich mit Brandler zwar in einem Abteil, doch konnten wir nicht miteinander reden, weil noch andere Reisende im Abteil waren. Da Brandler in Leipzig noch einen Besuch machen wollte, verabredeten wir eine Aussprache zum späten Abend in Berlin.

Hierbei hatte ich meine ersten ernsthaften Differenzen mit Brandler und Wolf-Skoblewski. Ich sagte ihnen, daß alles, was in Jena besprochen wurde, erst für die zweite und dritte Etappe der Revolution in Frage käme. Ein Aufmarsch der „Proletarischen Hundertschaften“ im „Kasseler Loch“ könne doch erst erfolgen, wenn die KPD vorher die Macht übernommen hätte. Sollten die „Faschisten“ – wie der Sammelname für die Nazis, die Wehrverbände und die reaktionären Parteien immer noch lautete – wirklich in München losschlagen und den Marsch auf Berlin antreten, so müßte die Partei die gesamte Arbeiterschaft aufrufen, die unfähige und verräterische Reichsregierung zu stürzen. Ich wies darauf hin, daß nur wenige O-D-Mitglieder Waffen hätten. Nennenswerte Mengen Waffen kaufen konnten wir gar nicht. Die Waffen müßten erst von der Polizei und aus den Kasernen geholt werden. Ich betonte, daß die Reichswehr sicherlich wie im Kapp-Lüttwitz-Putsch den Putschisten gegenüber passiv bleibe, aber gegen die „Proletarischen Hundertschaften“ mit Waffengewalt vorgehen werde. Die Reichswehr mindestens neutral zu halten, sollten sich die Offiziere der Jenaer Konferenz bemühen. Die „strategischen Betrachtungen“ über das „Kasseler Loch“ seien für mich ganz uninteressant.

Ich war einverstanden, als Brandler sagte, daß ich an weiteren Besprechungen mit den Jenaer Leuten nicht mehr teilzunehmen brauche. Nach meiner Rückkehr hatte ich sogleich Wiskow aufgesucht, der die erreichbaren O-D-Leiter Ernst Günther, Josef Gutsche, Otto Steinbrück, Gustl Mayer zusammenrief. Ich gab einen Bericht über die Jenaer Konferenz, ohne Namen und Ort zu nennen und um meine Kritik gegenüber Brandler und Wolf-Skoblewski vorzutragen. Alle teilten meinen Standpunkt. Der in jeder Situation bissige Günther erbot sich sogleich zum Warenhaus zu gehen und eine Armee Blechsoldaten zu kaufen und sie im „Kasseler Loch“ aufzustellen.

Ich glaubte zwar weiterhin das volle Vertrauen Brandlers und der Zentrale zu haben, doch merkte ich bald, daß Nebenapparate geschaffen wurden. Bei der Redaktion der Zeitschrift Vom Bürgerkrieg begann es. Brandler und Wolf-Skoblewski verlangten, daß die Hefte in schnellerer Folge erscheinen und mehr militärische Artikel gebracht werden sollten. Ich warnte vor Überfütterung, unsere Arbeitermitglieder hätten gar nicht die Zeit, die Schriften zu lesen. Es wurde beschlossen, in der Partei nach einem Redakteur für die Zeitschrift zu suchen. Da nur von der Bezirksleitung Hamburg ein Vorschlag kam, übernahm dieser Hamburger, ein früherer Offizier, der sich Dorn nannte, die Redaktion ab Nr. 5. Ich war demnach nur für die Hefte 1 bis 4 verantwortlich gewesen. In den weiteren Heften habe ich nur noch je einen Artikel über die Bauernkriege 1515–1525, über den „Roten Soldatenbund“, über die Kämpfe im Vorwärts und über den Aufbau der „Proletarischen Hundertschaften“ in den Betrieben geschrieben.

Gleichzeitig wurde auch die M-P abgezweigt und in Zersetzung (Z) umbenannt. Diese Abteilung übernahm Heinz Neumann. Einige Wochen später traf ich den Drucker unserer illegalen Blätter. Er fragte mich entrüstet:

„Warum wurden die 50.000 Flugblätter nicht abgeholt, die Ihr Nachfolger bestellt hatte?“

Ich wußte von nichts, doch prüfte ich die Sache nach und stellte fest, daß Heinz Neumann anstelle der unterzubringenden Menge 2–3.000 Blätter gleich 50.000 bestellt hatte und damit Brandler, dem er vorgehalten hatten, daß ich „zu kleinlich arbeite“, beeindruckte. Die 50.000 Flugblätter waren zwar sofort bezahlt, aber nicht zum vereinbarten Termin abgeholt worden. Der beunruhigte Drucker hatte sie dann in Paketen verpackt in die Spree geworfen. Neumann hatte nie danach gefragt. Der Drucker aber lehnte es ab, weiterhin für uns zu arbeiten.

Der Parteivorsitzende Brandler war wieder einmal aus Dresden zurückgekehrt, wohin er mehrere Male in der Woche fuhr, und ließ mir sagen, daß er mich sprechen wolle. Als ich zur vereinbarten Stunde in sein Zimmer kam, stellte er mir, ohne einen Namen zu nennen, einen Mann mit den Worten vor: „Dieser Genosse ist für eine spezielle Arbeit vorgesehen. Ich kenne ihn und habe volles Vertrauen in seine Fähigkeiten und seine persönliche Zuverlässigkeit. Seine Aufgabe geht Dich nichts an, Du hast nichts mit ihm und seiner Arbeit zu tun, aber ich wünsche, daß Du mit ihm sprichst und ihn kennenlernst!“ Das war in zwei Minuten alles.

Ich ging mit dem Mann in ein freien Zimmer. Er nannte mir seinen Namen: Felix Neumann. Mit Heinz Neumann sei er nicht verwandt, antwortete er auf meine Frage. Felix Neumann mochte 35–40 Jahre alt sein, er hatte ein asketisch blasses Gesicht. Von Beruf war er kaufmännischer Angestellter; er war seit längerer Zeit arbeitslos. Felix Neumann schien sehr nervös zu sein; ich hatte den Eindruck, daß er unablässig mit sich selbst sprach. Auf die Frage, wie er zu Brandler gekommen sei, erzählte er mir, daß er Brandler schon öfters in Sachsen gesprochen und ihm wiederholt Pläne einer besonderen revolutionären Arbeit vorgetragen habe. Mit welchen Aufgaben er betraut sei, könne er mir laut Weisung Brandlers nicht sagen, auch Mitglieder des Zentralkomitees seien nicht informiert. Seine Arbeit würde völlig außerhalb der Partei geleistet werden.

Als ich Felix Neumann nach seiner bisherigen Parteiarbeit und seinen politischen Ansichten zur Situation fragte, überraschte er mich mit der Erklärung, daß er nicht „Marxist“ sei, sein Leitbild sei Thomas Münzer. „Ich bin aus der Gegend, in der Thomas Münzer wirkte, und obwohl Jahrhunderte vergangen sind, ist das Leben und das Werk Thomas Münzers in uns lebendig,“ sagte er. Auf meine Frage, wer „uns“ ist, antwortete er, daß er eine Gruppe aktiver Genossen habe, mit der er auch die neugeplanten revolutionären Arbeiten durchführen werde. Er fragte mich, ob mir der Name Thomas Münzer ein Begriff sei. Ich bejahte und sagte, daß ich mit meinen Freunden im Jugendbildungsverein über das Leben, Wirken und Ende Thomas Münzers aus dem großen Werk Zimmermanns und den Essay Friedrich Engels’ über den deutschen Bauernkrieg diskutiert hatte und daß ich die negativen Urteile von Historikern, die wie üblich gehässig über eine Person und eine Sache urteilen die unterlegen ist nicht teile. Darauf hin begann er mir einen Vortrag zu halten der mehr als zwei Stunden dauerte. Er redete sich dabei in eine Erregung des Fanatikers hinein. Felix Neumann entwarf nun ein eindrucksvolles Bild vom Leben und Wirken Thomas Münzers. Er schilderte seine Kampfe, zitierte aus seinen Predigten, berichtete von Münzers Unterstützung des Bauernkrieges – im Gegensatz zu Luther – bis zu seinem Ende durch Henkershand. Ich war wohl ziemlich belesen in der Geschichte des Bauernkrieges doch so gründlich in allen Einzelheiten des Wirkens Thomas Münzers – wie er die Bauern die Bergarbeiter und die arme Stadtbevölkerung zum Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung durch die Fürsten, den Adel und der ebenso grausamen Kirchenherrschaft aufzurütteln versuchte – hatte ich seine Geschichte nie studiert. Als ich Felix Neumann fragte welche Nutzanwendung er aus der Geschichte ziehe, sagte er „Münzer hat es zustande gebracht, Bauern und Bergarbeiter und die besitzlose Stadtbevölkerung zu vereinigen. Das müsse und könne auch heute geschehen.“ Das war allerdings auch meine Meinung.

Ich mochte solche Typen wie Felix Neumann, aber mir war doch nicht ganz wohl bei der Sache, und ich verabredete mit ihm eine nochmalige Unterredung für den nächsten Tag.

Inzwischen konnte ich noch Brandler erreichen und ihm meine Bedenken sagen. Brandler wehrte ab:

„Ich weiß, daß Neumann eine Marotte hat, seinen Vortrag über Thomas Münzer habe ich mir auch angehört, aber für die Arbeit, die er übernommen hat, ist ein gewisser religiöser Eifer sogar von Nutzen, alles andere geht Dich nichts an.“

Zur Unterredung am folgenden Tag hatte ich Wolfgang von Wiskow hinzugezogen. Bereitwillig wiederholte Felix Neumann seinen Vortrag und sprach wieder über zwei Stunden. Er beeindruckte auch Wiskow, der sich meiner Auffassung anschloß: „Keineswegs verrückt, aber so lange wir nicht Wissen, was er vorhat, kann ich auch nicht sagen, ob er ein Unheil anrichten wird.“

Wie ich schon sagte, hatte ich nichts weiter mit Felix Neumann zu tun. Da ich auch nicht übermäßig neugierig war, kümmerte ich mich auch nicht weiter um ihn. Ich sah ihn nur einige Male, gesprochen habe ich ihn aber nicht mehr. Was nach einigen Monaten aus seinem Unternehmen geworden war, erfuhr ich aus der Presse und später aus Protokollen beim Untersuchungsrichter des Reichsgerichts. Es wurde ein unwürdiges Drama. Ich entnahm den Berichten, daß Felix Neumann und seine Gruppe einen Spitzel ermordet hatten, dann mit einem Auto nach Stuttgart gefahren waren. Dort angekommen, wurde ein Lokal gesucht. Einige seiner Genossen tranken zu viel. Es gab Streit und Handgemenge mit anderen Gästen. Der Wirt rief die Polizei. Diese fand im Auto, das vor dem Lokal stand, Sprengstoff. Damit war die Tätigkeit der Gruppe Neumann beendet. Übrig blieb nur ein schönes Foto, das sie unterwegs, stolz vor ihrem Auto stehend, von einem „Schnellfotografen“ halten aufnehmen lassen. Dieses Foto hatte jeder in der Tasche.

Der (politische) Vierte Senat des Reichsgerichts konnte sich gegenüber der Gruppe Neumann mit Schreckensurteilen austoben und seine Untätigkeit gegenüber den rechtsstehenden Fememord- und illegalen Militärorganisationen verstecken. Felix Neumann, Wolf-Skoblewski und ein dritter wurden zum Tode verurteilt, die Mitglieder der Gruppe erhielten langjährige Zuchthausstrafen. Die Todesurteile wurden nach einigen Monaten in lebenslang Zuchthaus umgewandelt.

Während Felix Neumann in Untersuchungshaft saß, veröffentlichte das neue Zentralkomitee, unter Führung von Fischer-Maslow in der Roten Fahne eine Erklärung, in der Neumann abgeschüttelt und als Spitzel und Provokateur bezeichnet wurde. Das war ein Fressen für den Untersuchungsrichter. Er gab Neumann die Rote Fahne mit der Erklärung des Zentralkomitees. Jetzt erst brach Neumann zusammen und „packte aus“. Er wurde in einer Reihe von Prozessen gegen Mitglieder der KPD zum „Kronzeugen“ des Reichsgerichts. Auch Wolf-Skoblewski denunzierte er. Unverständlicherweise hatte Wolf-Skoblewski nach der Verhaftung Neumanns einige – Neumann bekannte – Treffpunkte beibehalten, dadurch konnte er eines Tages auf der Straße verhaftet werden.

Nachdem ich in der Gewalt des Reichsgerichts war, ließ mir der Untersuchungsrichter Protokolle vorlesen, aus denen hervorging, daß Neumann auch mich als „wichtigen illegalen Funktionär“ bezeichnet hatte.

Um das Kapitel Felix Neumann abzuschließen, überspringe ich einige Jahre und berichte, wie im Prozeß gegen mich Neumanns Rolle als Kronzeuge endete.

1927. Vor dem Vierten Politischen Strafsenat des Reichsgerichts. Im Zeugenstand erschien Felix Neumann. Er kam aus dem Zuchthaus Sonnenburg und trug Gefängniskleidung. Nach Angabe seiner Personalien erklärte er auf Befragen, daß er mich persönlich kenne, mit mir im Hause des Zentralkomitees gesprochen habe und daß er aussagen wolle. Hier brach Niedner, der Präsident des Vierten Strafsenats, die Verhandlung ab mit der Erklärung, daß wegen der vorgeschrittenen Zeit mit der Vernehmung Neumanns gleich am folgenden Morgen begonnen werden solle.

Wie am Vortage erhielt ich wiederum Blumensträuße. Auf Antrag Levis hatte der Vorsitzende zugestimmt, daß ich meine Bekannten kurz sprechen durfte. Dann wurde ich von zwei Beamten wieder zum Wagen geführt. Zu meiner Überraschung saß Felix Neumann darin. Ich setzte mich ihm gegenüber. Die vier Begleitbeamten hatten sich an die Tür gesetzt und sprachen lebhaft über irgendeine Sache. Neumann starrt vor sich hin. Er sah aus wie vom Tode gezeichnet. Er hatte bei der Vernehmung zur Person an gegeben, daß er sehr magenleidend sei. Mich überkam ein Mitleid und ich legte ihm einen Blumenstrauß auf die Knie. Neumann begann zu schluchzen und dann hemmungslos zu weinen. Die Beamten fragten was passiert sei; ich konnte nur mit den Achseln zucken. Anscheinend waren die Beamten an solche Zwischenfälle gewöhnt, sie beachteten uns nicht weiter. Nach einigen Minuten waren wir bereits in das Tor des Gefängnisses eingefahren. Neumann war so schwach, daß die Beamten ihn beim Aussteigen stützen mußten.

Die Blumen hielt er im Arm. Als am folgenden Morgen der Senatspräsident Niedner die Verhandlung eröffnete und Neumann aufrief, ging dieser in den Zeugenstand und erklärte, daß er jede Aussage verweigere und daß er auch die früheren Aussagen gegen mich zurücknehme. Darob großer Lärm im Saal. Beifallklatschen, Lachen und Aufregung bei den Journalisten. Nach Aufforderung Niedners Ruhe zu halten, fragte er Neumann was sein Verhalten bedeuten solle. Neumann wiederholte seine Erklärung, daß er keine Aussage zu machen habe und daß er seine früheren Aussagen zurücknehme. Das Gericht zog sich zur Beratung zurück, währenddessen der Reichsanwalt und der Untersuchungsrichter aufgeregt miteinander sprachen.

Levi fragte mich lachend, was eigentlich passiert sei. Ich erzählte ihm von den Blumen. Das Gericht erschien wieder und ließ Neumann abführen. Felix Neumann hat in keinen weiteren Prozeß mehr ausgesagt. Er wurde 1928 begnadigt. Einige Zeit später trat er der Nazipartei bei. Er wurde ihr Propagandaredner und soll es zum Bürgermeister einer mittleren westdeutschen Stadt gebracht haben. Skoblewski aber war inzwischen gegen deutsche Gefangene in der Sowjetunion ausgetauscht worden.

Nach dieser Vorwegnahme der Affäre Felix Neumann möchte ich die Ereignisse des Jahres 1923 zu Ende berichten. Ich reiste in der ersten Oktoberhälfte Tag und Nacht herum, um die O-D-Leiter zu beraten und sie aufzufordern, bereit zu sein, wir müßten jeden lag losschlagen. Doch ich mußte öfters energisch den schon erkennbaren Ermüdungserscheinungen entgegenwirken, die ebensooft auftraten, wie die Äußerungen der Ungeduld. Wolf-Skoblewski begleitete mich nicht mehr. Die O-D-Bezirke wurden zu Oberbezirken zusammengelegt, mit „Fachleuten“ als Oberleiter. Zum Beispiel wurden Kiel und Bremen der „Oberleitung Wasserkante“ unterstellt, die aus Albert Schreiner und einem früheren österreichischen Offizier, Lazar Stern, bestand. Stern war der spätere General Kleber im Abwehrkampf der spanischen Republik gegen die Konterrevolution des Generals Franco.

Wiederum kam alles anders. Die Nazis in München ließen sich Zeit mit ihrem täglich erwarteten Putsch und Vormarsch auf Berlin. Statt dessen versuchte Anfang Oktober die „Schwarze Reichswehr“ in Küstrin und den umliegenden Forts unter Führung eines Majors Buchdrucker loszuschlagen. Auf Befehl des Oberbefehlshabers der Reichswehr General von Seeckt wurden die aufständischen Truppen von der Reichswehr binnen 48 Stunden umstellt und entwaffnet. Unter den entwaffneten Offizieren war ein Teilnehmer der Konferenz in Jena. Die anderen Offiziere, die an der Jenaer Konferenz teilgenommen hatten meldeten sich nicht mehr. Die schnellste Liquidierung der Meuterei der „Schwarzen Reichswehr“ bewies, daß die Reichsregierung nicht kopflos war, sie wurde auch in den selben Stunden weiter nach rechts umgebildet. Stresemann blieb Reichskanzler, der völlig versagende Finanz- und Wirtschaftsexperte der Sozialdemokratie, Finanzminister Hilferding wurde rausgesetzt. Der sozialdemokratische „Kolonialminister“ durfte noch einige Wochen bleiben. Die Teilnahme der SPD an der „Reichsregierung des Hungers und der Inflation“, wie sie vom Volke genannt wurde, hatte die Sozialdemokratie so schwer belastet, daß für die folgenden Jahre keine sozialdemokratischen Minister in die Reichsregierungen eintreten konnten. Mittlerweile verhandelte die Regierung Stresemann längst mit der französischen Regierung Poincaré und kam mit dieser zu einer Einigung.

Die KPD war in diesen Wochen politisch äußerst aktiv. Kein Tag verging ohne Aufrufe zu Protestdemonstrationen gegen Inflation und Hunger, zu Versammlungen und Streiks. Doch in der Frage eines allgemeinen Aufstandes blieb die Zentrale der Partei weiterhin unschlüssig. Die Ungeduld in einigen Parteikreisen ging bereits so weit, daß in einer Sitzung der Berliner Leitung des O-D einige Ungeduldige den Vorschlag machten, Brandler zu entführen und selbständig zum Aufstand aufzurufen. Ein Teilnehmer berichtete Brandler von dieser Drohnung. Ich konnte Brandler versichern, daß es sich um Äußerungen der Ungeduld handele und nicht um Machenschaften der „linken Opposition“. Ich habe ja auch Brandlers Haltung auf Grund meiner Einsicht, daß der O-D und die „Proletarischen Hundertschaften“ nur unter bestimmten Voraussetzungen die Arbeitermassen zu Aktionen mitreißen könnten, unterstützt. Brandler fragte mich fast täglich, ob die Zentrale es riskieren könne, zum offenen Kampf aufzurufen. Ich habe ihm ebensooft geantwortet, daß der O-D zahlreiche Hundertschaften und Teile der Partei zum Kampf und zu jedem Opfer bereit sein, daß aber die Arbeitermassen sich nur in der Abwehr eines Putsches der Nationalsozialisten und der Wehrverbände den Kämpfen anschließen würden.

Brandler reiste zwischendurch wieder einmal mit einer Delegation nach Moskau. Er kam am 8. Oktober 1923 zurück, aber nicht, um an die Spitze einer revolutionären Reichsregierung zu treten, sondern er ging als Staatssekretär, ein anderes Mitglied der Zentrale, Paul Böttcher, als Minister in die sächsische Landesregierung unter der Ministerpräsidentschaft des Sozialdemokraten Zeigner. Ich begleitete Brandler nach Dresden. Brandler veranlaßte sofort, daß die sächsischen und auch die thüringischen „Proletarischen Hundertschaften“ als eine Art Hilfspolizei legalisiert wurden.

Doch schon nach wenigen Tagen nahm die Reichsregierung Stresemann die bloße Aufnahme einiger Kommunisten in die Landesregierung zum Vorwand gegen die legal gewählten Regierungen in Sachsen und Thüringen mit Waffengewalt vorzugehen, und der sozialdemokratische Reichspräsident Ebert gab dem Oberbefehlshaber der Reichswehr die Vollmacht zu dieser „Reichsexekution.“

Überrascht wurden wir nicht. Wir hatten täglich Warnzeichen erhalten. Von verschiedenen Garnisonsorten waren Meldungen gekommen, daß die Truppen im Alarmzustand standen und daß verschiedene Formationen bereits nach Mitteldeutschland „in Marsch gesetzt“ seien. Außerdem kamen mit der Post bündelweise Morddrohungen gegen Brandler.

Da ich nebenbei noch für die Sicherheit Brandlers und der Zentrale verantwortlich war, kaufte ich in Berlin ein Auto für Brandler, für das ich einen zuverlässigen Chauffeur aus dem Apparat fand. Diesen Wagen ließ ich Tag und Nacht besetzt in der Nähe von Brandlers jeweiligem Aufenthaltsort warten. Für Brandler besorgte ich für alle Fälle eine Briefträgeruniform. Das Schicksal Liebknechts sollte Brandler nicht erleiden. Er starb im Herbst 1967 in Hamburg, 86 Jahre alt.

Die Zentrale der KPD hatte noch am 20. Oktober, zwei Tage vor dem Einmarsch der Truppen in Sachsen in Berlin getagt, aber keinen Beschluß zum Generalstreik oder Abwehrkampf gefaßt. Jeder war sich darüber einig, daß die Parole Generalstreik in dieser Situation offener Kampf bedeutete. Anschließend an die Berliner Sitzung fuhr die Zentrale nach Chemnitz, wo ein Kongreß von Betriebsräten, Gewerkschaftlern, sozialdemokratischen und kommunistischen Delegationen stattfand. Brandler referierte in dieser Konferenz und beantragte den Generalstreik gegen die am 22. Oktober einmarschierenden Truppen. Aber in Sachsen ebenso wie auch in Thüringen waren die Sozialdemokraten den Kommunisten zahlenmäßig um das Zweifache überlegen; sie stimmten gegen den Gereralstreik und ließen auch ihren Parteigenossen, Ministerpräsidenten Zeigner im Stich. Aus diesen Tagen stammt der anscheinend unsterbliche Witz Radeks, der mal Lenin mal Stalin zugesprochen wird: „Der kommunistische Minister Paul Böttcher wollte mit einer „Roten Hundertschaft“ den Hauptbahnhof Dresden besetzen. Davor angekommen, kommandierte er: Halt, erst Bahnsteigkarten kaufen!“ Infolge des Aufmarsches der deutschen Reichswehr gegen Sachsen und Thüringen war der Norden Deutschlands von Truppen entblößt. Die Zentrale glaubte daher, daß es am zweckmäßigsten sei, den Generalstreik von Norddeutschland her auszulösen. Sie schickte das Mitglied der Zentrale, Hermann Remmele nach Kiel. Remmele aber hielt es für richtig, erst in Hamburg mit der dortigen O-D-Oberleitung zu sprechen. Diese überzeugte Remmele davon, daß es sinnlos sei, nach Kiel zu fahren, die dortige Partei könne keinesfalls irgendeine Aktion unternehmen, sie habe auch auf die Arbeiterschaft Kiels keinen Einfluß. So wurde beschlossen, den O-D und die „Proletarischen Hundertschaften“ von Hamburg zu mobilisieren. Das geschah noch in der Nacht zum 13. Oktober. In den Morgenstunden des 23. Oktober, einen Tag nach dem Einmarsch der Reichswehr in Sachsen wurde in Hamburg losgeschlagen. Brandler waren aber Bedenken gekommen, er schickte einen Kurier hinter Remmele her, der ihn aber nicht mehr erreichte. Der Kurier fuhr nach Kiel. Remmele aber war in Hamburg geblieben. Der Hamburger O-D-Leiter Hommes verlor die Nerven, er ließ alles liegen und flüchtete aus der Stadt. Die Leitung der Kämpfe und das Besetzen der Polizeiwachen übernahm der O-D Leiter des Stadtteils Barmbek, der Lehrer und frühere Offizier Hans Kippenberger. Nach Plan wurden die Waffen aus den Polizeirevieren geholt. Doch der Aufstand blieb isoliert. Der „Führer der Werftarbeiter“, Ernst Thälmann, war nicht einmal in der Lage, die Werftarbeiter zum Eingreifen zu bewegen. Dagegen geschah etwas Unerwartetes: Während nur ungefähr 300 Arbeiter kämpften, meldeten sich über tausend sozialdemokratische Arbeiter als Freiwillige zur Polizei für Absperrungen, damit die Polizei alle Kräfte zur Niederschlagung der aufständischen Arbeiter einsetzen konnte. Wieder standen Arbeiter gegen Arbeiter. Daraufhin beschloß die Leitung der KPD Hamburg am dritten Tage den Kampf abzubrechen.

Da der Funke des Kampfes von Hamburg nicht sofort auf die Arbeiterschaft in ganz Deutschland übersprang, gab die Zentrale auch nicht die Parole „Generalstreik“ oder „Aufstand“ aus. Sie hatte in ihrer Zurückhaltung das Einverständnis der Exekutive der Kommunisten Internationale. Ich war in diesen Tagen auf einer „Blitzreise“ durch Deutschland, um von den O-D-Leitern zu erfahren, ob sie im Falle eines Aufrufes der Zentrale sofort losschlagen könnten. Nur vier Bezirke bejahten die Frage ohne Bedingungen, alle anderen erklärten mir: „in der Abwehr werde gekämpft werden, nicht in der Offensive.“ Auf der Rückfahrt nach Berlin las ich in einer Zeitung die Nachricht vom Ausbruch der Kämpfe in Hamburg. Nach der Niederschlagung der Hamburger Kämpfe gab es wieder die sinnlos heroisierende Darstellung der Ereignisse. Jedoch das Mitglied der Zentrale, Remmele hat einige Monate später ungewollt die Wahrheit über den schwachen Einfluß der KPD ausgesprochen. Er sagte in einer Rede vor dem Zentralausschuß der Partei: „Millionen riefen, nur der Kommunismus kann uns retten; dreihundert Arbeiter kämpften im Hamburg auf den Barrikaden.“ So war es tatsächlich; Millionen riefen, aber nur Dreihundert kämpften. Auch der Historiker der revolutionären Kämpfe in Deutschland, Paul Frölich, schrieb mit anderen Worten dasselbe: „Die Arbeiter riefen nach Waffen.“ – Revolutionäre rufen nicht nach Waffen, sie beschaffen sich welche.

In einem Film über das Leben Ernst Thälmanns, der in der DDR gedreht wurde, wird Thälmann als der politische und militärische Leiter des Aufstandes in Hamburg dargestellt. Ich möchte hier wiederholen, daß diese Darstellung unrichtig ist. Thälmann hatte auf die Ereignisse keinen Einfluß, seine Zeit kam später.

Kippenberger konnte sich nach Abbruch des Kampfes verbergen und in die Sowjet-Union flüchten. Dort traf ich ihn ein halbes Jahr später. Weitere Jahre später, nachdem Thälmann inzwischen der führende Mann der KPD geworden war, wurde Kippenberger Leiter des illegalen Apparates der Partei. Gejagt von der Gestapo konnte er sich nach der Machtübernahme Hitlers nicht lange in Deutschland hatten und flüchtete wiederum in die Sowjet-Union. Während der Stalinschen Konterrevolution wurde er verhaftet und erschossen. Unter Chruschtschow wurde er rehabilitiert. Auch der Reichstagsabgeordnete Remmele kam in Rußland ums Leben. Hortimes aber wurde Redakteur in einer sozialdemokratischen Zeitung.

Die Zentrale der KPD hielt den Kampf noch nicht für verloren und gab die Aufstandspläne nicht auf. Als aber nach der Niederwerfung des Hamburger Aufstandes auch Thüringen besetzt und die dortige Regierung abgesetzt wurde, leisteten die „Proletarischen Hundertschaften“ hier ebensowenig Widerstand wie vorher in Sachsen; sie wurden aufgelöst, ihre Führer größtenteils verhaftet.

Später hieß es in den Diskussionen über die Ursache der Niederlage von 1923 in der kommunistischen Presse:

»Das Versagen der Hundertschaften in Thüringen und Sachsen beim Einmarsch der Reichswehr während der Militärdiktatur 1923 ist darauf zurückzuführen, daß diese „Proletarischen Hundertschaften“ einen gewissen Prozentsatz Sozialdemokraten und Indifferente enthielten. Die Hundertschaften waren also von vornherein dem Verrat der SPD-Führer und der Bespitzelung ausgesetzt. Solche Hundertschaften müssen zusammenbrechen.«

Das war Unsinn. Die „Proletarischen (oder Roten) Hundertschaften“ sollten ursprünglich Organe der Einheitsfront der Arbeiterklasse sein. Sie sollten demnach möglichst viele Parteilose und Sozialdemokraten in ihren Reihen aufnehmen. Die Schwäche war, daß zu wenig kamen.

Die Inflation wütete weiter und auch die Hungerdemonstrationen, lokale Streiks und Zusammenstöße mit der Polizei dauerten an, doch sie wuchsen nicht zu einem großen Kampf zusammen. Am 9. November versuchten die Hitler–Ludendorff in München loszuschlagen. Sie wurden von der Polizei überwältigt, der Vormarsch nach Berlin blieb aus. Die Reichsregierung vollendete bis zum 21. November die Inflation bei einen Stand von einer Billion Papiermark zu einer Goldmark und zwei Tage später wurden die KPD und auch die Nationalsozialistische Bewegung verboten und aufgelöst. Die KPD war wieder einmal illegal. Die Jagd nach den kommunistischen Funktionären hatte schon nach dem Hamburger Aufstand begonnen, sie wurde jetzt verstärkt fortgesetzt. Bald waren wiederum mehr als achttausend Mitglieder der Partei in den Gefängnissen und Zuchthäusern.

Die Reichsregierung und die SPD warfen der KPD die Opfer von Hamburg und der Hungerdemonstrationen vor, aber sie erwähnte niemals die vielfach größere Anzahl von Opfern, die täglich aus Hunger und Not Selbstmord begingen.

Mir hat die Parteiführung niemals Vorwürfe gemacht. Ich hatte meinen Auftrag ausgeführt und hatte einen Apparat geschaffen, wie er vorher und nachher nicht bestanden hat. Aber ich kommandierte ihn nicht. Der Apparat war ein Teil der kommunistischen Partei, und er konnte nicht selbständig revolutionäre Politik machen. Der Einsatz des Apparates war Sache der politischen Führung der Partei. Nach dem Debakel bestand meine Tätigkeit wieder darin, Verstecke für die leitenden Funktionäre zu suchen. Sitzungen zu sichern, Verbindungen wiederherzustellen. Der O-D löste sich nicht auf. Ich blieb noch vorläufig verantwortlicher Leiter. Brandler wurde Steckbrieflich verfolgt. Es gelang ihm nach Moskau zu entkommen. Nachdem er in der Sitzung des Präsidiums der Exekutive der Kommunistischen Internationale im Januar 1924 seine Politik im Oktober 1923 erfolgreich verteidigt hatte, nahmen ihn die russischen Genossen sogar in ihre Partei auf. In der KPD dagegen verlor Brandler jeden Einfluß. Auf dem geheimen Parteitag im März 1924 in Frankfurt am Main stimmte nicht ein einziger Delegierter für ihn.

1928, nach der politischen Amnestie, kehrte Brandler nach Deutschland zurück. Wir waren nur einige Freunde, die ihn auf dem Schlesischen Bahnhof empfingen. Kurz darauf wurde er aus der KPD ausgeschlossen. Nach Jahren im Exil in Paris saßen wir öfters auf der Terrasse des Café Le Dame am Boulevard Montparnasse und sprachen über die Folgen der Niederlage von 1923. An Nachbartischen diskutierten sozialdemokratische Funktionäre, die diesmal die Folgen der Niederlage der Arbeiterbewegung mittragen mußten. Unter ihnen saß auch der Finanzminister der Inflation vom Jahre 1923, Rudolf Hilferding.

 


Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023