Karl Retzlaw

SPARTACUS
Aufstieg und Niedergang

* * *

16. Erster Besuch bei Trotzki


Unter dem „Ausnahmezustand“, der gegenüber der Kommunistischen Partei ein Kriegszustand war, konnte die jetzt wieder illegale Partei politisch wenig wirken. Am meisten lähmte die Gefangensetzung von mehreren tausend Mitgliedern die Tätigkeit der Partei. Die Parteizeitungen waren unterdrückt und die Druckereien besetzt worden. Jedoch viele Mitglieder kamen weiterhin in kleinen Zirkeln unter strengen Vorsichtsmaßnahmen zusammen. Im großen und ganzen verhielt sich der illegale Apparat während der Reichswehr- und Polizeirazzien auf Funktionäre und Mitglieder der Partei so diszipliniert, daß keiner der leitenden O-D- und M-P-Funktionäre verhaftet werden konnte. Die erwähnten großen Verluste erlitt die Partei unter den lokal allgemein bekannten Kommunisten und durch die bereits erwähnte Verhaftung der „Felix Neumann Gruppe“, in die Wolf-Skoblewski hineingerissen wurde. Es waren auch bei den zahllosen Durchsuchungen der Wohnungen von Parteimitgliedern und sympathisierenden Arbeitern einige Waffen beschlagnahmt worden.

Aber selbst die verbotene KPD hatte Möglichkeiten einer populären Agitation in der Bevölkerung. Die Herren der Schwerindustrie hatten im Stadium der schlimmsten Inflation durchgesetzt, daß der gesetzliche Achtstundentag aufgehoben und der Zehnstundentag eingeführt worden war. Außerdem waren weitere soziale Einrichtungen, oder wie es in der Gewerkschaftssprache hieß, „Errungenschaften“, wieder abgeschafft worden. Auch die Lasten der Kriegsreparationen waren auf die Arbeiterschaft abgewälzt worden. Die großen Arbeiterorganisationen, Gewerkschaften und SPD, erwiesen sich in den entscheidenden Tagen als ebenso machtlos wie die KPD. Die Kassen der Gewerkschaften waren durch die Inflation geleert, und die Bande der Solidarität unter den Mitgliedern waren gelockert worden. Eine für die Zukunft entscheidende Folge der Schwäche der Arbeiterorganisationen sollte sich in den nächsten Jahren zeigen. Infolge der Einführung des Zehnstundentages entstand die riesige Arbeitslosenreserve, die es der Großindustrie nicht nur ermöglichte, die radikalen Arbeiter aus den Betrieben zu entfernen, sondern die auch die Agitation der Nazis Nahrung gab. Hier ist der Beginn des Nazieinflusses in der Arbeiterschaft zu suchen. Die KPD wurde von nun an fast eine Partei der Arbeitslosen. Damit war auch für die nächsten Jahre die geplante neue Organisationsform der „Betriebszellen“ als Grundlage der Partei unmöglich geworden.

Allmählich begannen die Parteimitglieder das Ausmaß des Sieges der Reaktion im Jahre 1923 zu begreifen. Das Hauptthema der Diskussionen in der Partei wurde die „Oktoberniederlage von 1923“. Die Forderung der Opposition nach Änderung der Parteiführung fand jetzt viel Zustimmung. In diese Diskussion schlug die Nachricht vom Tode Lenins ein.

Daß Lenin seit langem krank war, war wohl allgemein bekannt, doch hatten das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Rußlands und die Exekutive der Kommunistischen Internationale es nicht für nötig gehalten, die Bruderparteien über die Schwere der Erkrankung Lenins zu informieren. Mir hatte der Sekretär der russischen Botschaft, Mirow-Abramow schon Wochen vorher gelegentlich erzählt, daß es sehr schlecht um Lenin stünde und daß deutsche Spezialärzte nach Moskau gerufen worden seien.

Für uns Mitglieder der KPD war der Tod Lenins ein ebenso schwerer Schlag wie für die russische Partei. Mit Lenin verlor der Kommunismus die einzige große Autorität seit dem Tode Rosa Luxemburgs. Trotzki war niemals populär geworden. Den Parteimitgliedern war er immer als ein beinahe unnahbarer Befehlshaber erschienen, weniger als ein Genosse und Freund. Die Mitglieder der KPD, ebenso die breiten Volksmassen in Deutschland, hatten den Sozialismus/Kommunismus/Marxismus, für mich synonyme Begriffe, mit dem russischen Sowjet-Regime identifiziert. Keine andere Partei der Kommunistischen Internationale machte die Politik der Bolschewiki so stark zu ihrer eigenen, wie die deutsche, obwohl umgekehrt die deutsche Partei nicht den geringsten Einfluß auf Entscheidungen der russischen Genossen hatte. Das führte vielfach so weit, daß wirtschaftliche Schwierigkeiten des Sowjet-Regimes, Armut und Hungersnöte in breiten Massen des russischen Volkes von der deutschen Partei geleugnet oder entschuldigt wurden. Die russische Revolution und das Sowjet-Regime waren in einem Maße religiös verklärt worden, daß die deutsche Partei auch offensichtliche Fehler und Irrtümer der Führer der Sowjet-Union verteidigte.

Die große Mehrheit der Mitglieder der KPD war mit der Politik der Exekutive der Kommunistischen Internationale einverstanden, als diese nun die linke Opposition offen gegen die Brandler-Zentrale unterstützte. In einem Schreiben an den geheim abgehaltenen Parteitag, der Ende März 1924 wiederum in Frankfurt am Main stattfand, forderte die Exekutive weiterhin, die „Organisierung der Revolution“ als Aufgabe des Tages. Obwohl der Ausnahmezustand inzwischen – seit Februar 1924 – aufgehoben worden war, mußte der Parteitag geheim abgehalten werden, weil die meisten leitenden Funktionäre von der Polizei gesucht wurden.

In dem Schreiben der Exekutive vom März 1924 hieß es:

»Die Losungen des Kampfes für die proletarische Diktatur, für die Eroberung der Rätemacht und zu diesem Zwecke die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes bleiben voll und ganz in Kraft ... Die Bewaffnung der Arbeiter bleibt die wichtigste Aufgabe der Partei.

Es ist unbedingt notwendig, den deutschen Arbeitern den Gedanken beizubringen, daß die Roten Hundertschaften auch im alltäglichen Kampf nötig sind.«

Die neue Zentrale unter Führung Maslow, Ruth Fischer, Thälmann, akzeptierte diese Losungen „voll und ganz“. Die bisherigen Stützen Brandlers Pieck, Eberlein und Walter Ulbricht blieben jedoch Mitglieder der neuen Zentrale. Einige neue Männer kamen hinzu, darunter der Historiker Arthur Rosenberg und ein früherer Lehrer aus Chemnitz, Ernst Schneller. Ich nenne nur diese beiden, weil sie eine besondere Bedeutung bekommen sollten.

Die Losung: „Organisierung der Roten Hundertschaften“ wurde weiterhin für besonders aktuell gehalten, weil einige Wochen vorher, im Februar 1924, in Magdeburg eine neue Wehrorganisation das „Reichsbanner Schwarz-Rot Gold“, gegründet worden war. Gründer und Vorsitzender waren die sozial-demokratischen Funktionäre Otto Hörsing, Oberpräsident der Provinz Sachsen, dessen Maßnahmen im März 1921 die „Märzaktion“ provozierte, und Karl Höltermann, der als Freiwilliger eines Freikorps im Mai 1919 an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt gewesen war. Die SPD schuf sich damit ihre eigene Wehrorganisation. Auch Mitglieder und Wähler der bürgerlichen Parteien, „Zentrumspartei“ und „Deutsche Demokratische Partei“ (diese änderte ihren Namen in „Staatspartei“), traten dem Reichsbanner bei. Das Reichsbanner Schwarz Rot-Gold wurde uniformiert und militärisch gegliedert. In Preußen halfen aktive Polizeioffiziere und Beamte der sozialdemokratischen Preußenregierung am Aufbau mit. Schon die ersten Wochen der Existenz des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold ließen erkennen, daß seine Politik hauptsächlich gegen links gerichtet war. Bald wurde die neue Organisation vom Volksmund in „Reichsjammer“ umgetauft.

In der Bevölkerung war das Ansehen der KPD durch die „Oktoberniederlage“ nicht gesunken. Die revolutionäre Sprache der Partei wurde von breiten Massen anerkannt. Den Beweis erbrachten die Wahlen zum zweiten Reichstag im Mai 1924. Die KPD erhielt 3.693.139 Stimmen und 62 Abgeordnete. Diesen großen Erfolg hatte die Parteileitung nicht erwartet. Ich war in den letzten Wochen des Wahlkampfes in meinen früheren Kreisen in der Provinz Brandenburg wieder als Redner, Plakatkleber und Flugblatt-verteiler tätig gewesen.

Am stärksten hatten jedoch die nationalistischen Rechtsparteien zugenommen, und deren Wehrverbände wurden nun auch in Preußen aggressiver. Ich will ein Beispiel erwähnen: Eine Woche nach den Reichstagswahlen veranstaltete „Der Stahlhelm“ einen Aufmarsch in Halle an der Saale und mehrere Gruppen dieser Organisation überfielen eine Protestversammlung der KPD, töteten und verletzten zahlreiche Versammlungsteilnehmer. Dieser Überfall ging als der „Blutsonntag von Halle“ in die deutsche Geschichte ein. Vierzehn Tage später, am 25. Mai, auf einem weiteren „Stahlhelmtag in Mitteldeutschland“, predigte der Domprediger Martin aus Magdeburg:

»Seid Männer, seid stark. Laßt jene pöbeln, die das Gebot der Stunde nicht begriffen haben. Deutsche sind sie nicht. Ein Volk besteht aus Nullen und einzelnen Führern. Wenn ihr noch so viele Nullen aneinanderhängt, bleiben es nur Nullen. Erst wenn die Eins, der eine Mann, der eine Führer davor tritt, so werden es zehntausende und Millionen.«

Der vom Domprediger ersehnte eine Führer brauchte zwar noch neun Jahre, um zum Zuge zu kommen und zu erfüllen, was der Domprediger das „Gebot der Stunde“ nannte: Vernichtung der Arbeiterbewegung und Polens. Mit seiner Bemerkung „Deutsche sind sie nicht“, zielte der Domprediger nicht nur auf die Kommunisten hin, sondern auch auf den Kreis um die Weltbühne und auf die „Deutsche Friedensgesellschaft“ und die Liga für Menschenrechte“.

Die Militärorganisation „Der Stahlhelm“ hatte sich außenpolitisch ganz auf den Krieg gegen Polen „spezialisiert“. In fast jeder seiner öffentlichen Kundgebungen wurde die Vernichtung Polens gefordert. Um diese Zeit war die „Stahlhelm“-Organisation weitaus gefährlicher und auch zahlenmäßig stärker, als die Völkischen und die Nazis zusammen.

Bei den Instruktionsreisen, die ich im Jahre 1923 gemacht hatte, hatten die leitenden „Apparat“-Funktionäre immer wieder bedauert, daß zu wenig Zeit für die grundsätzliche Aussprache über die Arbeit blieb. Sie hatten öfter beantragt, daß außer über die Tagesaufgaben ausführlicher über die Lehren des Weltkrieges und der vergangenen fünf Jahre gesprochen werden sollte. Die rastlose und zeitweilig fieberhafte Tätigkeit im vergangenen Jahr hatte eine theoretische Untermauerung der Arbeit gar nicht zugelassen. Gewiß hatten die leitenden Mitarbeiter wie Wolfgang von Wiskow, Wilhelm Zaisser, Erich Wollenberg, Otto Steinbrück, ihre Clausewitz- und Engelszitate ebenso im Kopf wie Lenins Lehren über den Aufstand. Wir wurden uns einig, eine Art Kursus von mindestens einigen Monaten Dauer zu organisieren. Otto Steinbrück fuhr nach Moskau, um darüber zu sprechen. So ging die Anregung zu diesem ersten Kursus über revolutionäre Militärfragen von uns aus, nicht von den russischen Genossen. Der Kursus wurde genehmigt.

Ich reiste Anfang Juni 1924 in Begleitung eines diplomatischen Kuriers nach Moskau. Als der Zug den letzten Berliner Bahnhof verließ, verrammelte der Kurier mit Riemen und Stäben, die er seinem Koffer entnahm, Tür und Fenster unseres Schlafwagenabteils, untersuchte die Toilette und verhängte Ritzen. Eine Mappe legte er unter sein Kopfkissen, eine entsicherte Pistole in Reichweite auf den Koffer vor dem Bett.

Wir fuhren ungestört. Genügend ausgeschlafen passierten wir am folgenden Morgen die ostpreußisch-litauische Grenze. Jetzt erst sprachen wir miteinander. Der Kurier sprach Deutsch, er war ein freundlicher Typ, ungefähr dreißig Jahre alt. Er erzählte mir, daß die Vorsichtsmaßnahmen der vergangenen Nacht vorgeschrieben seien, weil es schon mehrere Überfälle auf russische diplomatische Kuriere gegeben habe. Derartige Überfälle würden geheimgehalten.

In Dünaburg wechselten wir in den russischen Zug über, der die einspurige, endlos scheinende Strecke über Welikije Luki nach Moskau fuhr. Auf dem Bahnhof in Dünaburg sah ich August Thalheimer, Walter Ulbricht und Albert Schreiner in den Zug steigen. Ich setzte mich tagsüber zu ihnen. Thalheimer und Ulbricht fuhren zum fünften Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, Schreiner zu meinem Kursus. Ulbricht redete stundenlang auf Thalheimer ein, um ihn zu überzeugen, daß jetzt Kommunalpolitik und Steuerfragen, überhaupt tagespolitische Dinge, am ehesten breite Volksmassen zur KPD bringen würden. Wenn ich heute sagen soll, welchen Eindruck ich damals von Ulbricht hatte, so kann ich wahrheitsgemäß nur sagen, er wirkte schlicht gediegen. Ich kannte ihn ja bereits als einen sehr eifrigen Funktionär der Partei. In Moskau angekommen, traf ich mich mit Otto Steinbrück an der verabredeten Stelle. Er zeigte mir sein Mandat als Kursusleiter. Er war der älteste von uns und sprach Russisch. Wir gingen zu unserem „Internat“. Es war eine einstöckige Villa am zweiten weitläufigen Parkring, der mit seinen Grünflächen und mehreren Baumreihen die innere Stadt im großen Bogen von der Moskwa zur Moskwa umschließt. Die Villa mit dem gepflegten Vorgarten machte den Eindruck einer Privatklinik. Das größte Zimmer im Parterre war als Vortragsraum eingerichtet, in jedem Zimmer des ersten Stockwerkes standen mehrere Feldbetten.

Die im Laufe der Woche eintreffenden Teilnehmer erhielten Verhaltensratschläge. Sie sollten sich in der Stadt nicht auffällig benehmen, nicht ins Hotel Lux und nicht ins Kominternhaus gehen und auch nicht die Straße betreten, in der sich die deutsche Botschaft befand. Die Delegierten des fünften Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, der um die gleiche Zeit im Kreml begann, sollten von unserem Kursus nichts erfahren. Das war uns recht, wir waren alle diskrete „Illegale“. Dieser erste Kursus über revolutionäre militärische Aufgaben ist auch niemals bekannt geworden. Für einige Teilnehmer aber war der Kursus der Beginn einer militärischen und politischen Karriere. (Dieser Kursus hatte nichts mit der internationalen „Lenin-Schule“ zu tun, die wenig später zum Studium der Werke Lenins eingerichtet wurde.)

Ich hatte mehrere Tage Zeit, meine Moskauer Freunde Waldemar Rackow, Alexander Dworin, Willi Budich, Max Levien zu besuchen, mit denen ich ermüdende Diskussionen über das Jahr 1923 hatte. Ich bat Rackow, mich in das Lenin-Mausoleum zu führen, vor dem ich jeden Tag, wenn ich über den Roten Platz ging, Tausende Menschen in langen Reihen stehen sah. Ohne Rackow hätte ich mich schon zu früher Stunde anstellen und mehrere Stunden warten müssen. Der wachhabende Offizier salutierte, als Rackow seinen Ausweis zeigte, und ich konnte mich gleich an der Mausoleumstür in die Reihe der langsam Vorrückenden einfügen. In der Kühlhauskälte folgte ich meinem Vordermann die niedrigen Stufen hinunter und, ohne stehen zu bleiben, am offenen Sarge Lenins vorbei, die nächste Treppe wieder hinauf.

Rackow erwartete mich am Ausgang und sagte, daß er mich absichtlich nicht ins Mausoleum begleitet habe. Er billige die Zurschaustellung von Lenins Leiche nicht. Er habe mit einigen anderen Genossen beim Zentralkomitee der russischen Kommunistischen Partei und auch in Sitzungen des „Parteiaktivs“ dagegen Einspruch erhoben. „Das ist Götzendienst“, sagte Rackow; Lenins Schriften, die zahllosen „Lenin-Ecken“ und „-Nischen“ in den Parteibüros, Arbeiterklubs, Fabrikkantinen seien ausreichend, um das Andenken an Lenin unmittelbar wachzuhalten. Die russische Parteileitung lehnte diese Anträge ab, sie sah in der Tatsache, daß Hunderttausende von Menschen, mittlerweile sind es viele Millionen geworden, aus allen Teilen der Sowjetunion und der ganzen Welt keine Kosten und Mühen scheuen, um am Sarg Lenins defilieren zu können, eine Verehrung, die dem Kommunismus gilt.

Mittlerweile waren alle Kursusteilnehmer in Moskau eingetroffen. Wir waren einschließlich des Leiters zwölf Genossen. Steinbrück begann mit einem Vortrag über den russisch-polnischen Krieg von 1920. Er sprach sehr in Einzelheiten gehend, vom militärisch-technischen Standpunkt über die Kriegsführung, er behauptete, daß nur das Eingreifen der Franzosen unter General Weygand entscheidend für die russische Niederlage gewesen sei und stellte zum Schluß als Aufgabe einer Diskussion die „Annahme“, was zu tun sei, wenn erneut ein russisch-polnischer Krieg ausbrechen würde. Ich sprach als erster Diskussionsredner und wies die „Annahme“ entschieden zurück. Ich erklärte, daß wir hier eine Diskussion über die Organisation der deutschen Revolution führen wollten. Daraus ergäben sich alle anderen Aufgaben. Setzt sollten wir uns mit den Aufstandsvorbereitungen, dem Verhalten der Partei und der Arbeiterklasse im Jahre 1923 beschäftigen. Ich sagte, daß ich den Ausdruck „Oktoberniederlage“ nicht gebrauche, da er nach meiner Ansicht falsch sei. Die Niederlage im Jahre 1923 erfolgte Schritt für Schritt und erschreckte sich über das ganze Jahr, weil die Partei und die Arbeiterschaft sich stets in die Defensive haben drängen lassen. Die Ursachen der Passivität sollten untersucht werden: warum die Bevölkerung sich widerstandslos durch die vom Großkapital herbeigeführte Inflation habe enteignen lassen und wie es möglich war, daß zahlreiche protestierende Arbeiter von der Polizei und der Reichswehr niedergeschossen wurden, ohne daß ein Auflodern der Empörung der breiten Massen erfolgte; diese Tatsachen sollten diskutiert werden. Wir müßten davon ausgehen, sagte ich weiter, daß revolutionäres Handeln politisch bestimmt werde, daß es demnach ohne Politik kein revolutionäres Handeln geben könne. Ich erinnerte daran, daß es bei Lenin ebenso wie bei Clausewitz eindeutig heißt, daß ihre Lehren „kein Dogma“, sondern „Anweisungen zum Handeln“ seien. Es komme jetzt darauf an zu lernen, wie die Lehren durchzuführen seien. Eine deutsche Revolution werde in jedem Falle die wirksamste Unterstützung der Sowjet-Union sein. Es entwickelte sich eine Diskussion die sich über drei Tage streckte und mehr und mehr turbulent wurde. Der spätere Historiker Albert Schreiner unterstützte als einziger die „Annahme“ Steinbrücks. Er sagte, „gegen eine Annahme könne nicht polemisiert werden – selbst wenn die Annahme Besetzung des Mondes laute“. Als Kippenberger aufgefordert wurde seine Meinung zu sagen, verließ er den Raum mit der Bemerkung, er käme erst wieder, wenn über die deutsche Revolution gesprochen werde. Wilhelm Zaisser sprach langatmig trocken, er las seitenlange Zitate vor. Nach seiner Rede beteiligte er sich nicht mehr an der weiteren Aussprache.

Wir ließen das Thema fallen. Ich verfaßte ein Memorandum, in dem ich auf den ursprünglichen Vorschlag über den Zweck eines Kursus himwies und meine Ansichten ungefähr so darlegte, wie ich sie in meiner ersten Diskussionsrede entwickelt hatte. Steinbrück gab das Memorandum an die Stelle ab, die den Kursus ermöglichte.

Am folgenden Tag kam Steinbrück in Begleitung eines Mannes namens Unschlicht. Er begrüßte mich sogleich, und ich erinnerte mich, daß ich ihn in Berlin bei Thomas gesehen hatte. Thomas hatte ihn mir allerdings nicht mit seinem Namen und auch nicht als den stellvertretenden Chef der russischen Staatspolizei vorgestellt, sondern als einen Jugendfreund. Das stimmte auch. Unschlicht stammte aus Polen, aus den gleichen Kreisen wie Thomas. Er sprach ebenfalls Deutsch. Er sagte, daß er mit dem Inhalt meines Memorandums im Grunde einverstanden sei. Der Kursus sei zu kurzfristig organisiert worden, darum seien nicht genügend Vortragende zur Verfügung, es sei aber noch Zeit genug, auf alle Themen einzugehen. Steinbrück schlug am folgenden Tag vor, wir sollten vorerst den von ihm eingeschlagenen Kurs weiterlaufen lassen, über Spezialgebiete sprechen und später zu den Problemen der deutschen Revolution kommen. Danach hielt er einen Vortrag über Nachrichtenwesen, wieder hauptsächlich nach militärischen Gesichtspunkten, so daß es zu neuen Auseinandersetzungen kam.

Unschlicht hatte anscheinend dem russischen Zentralkomitee berichtet, daß ich ein „störender Faktor“ sei. Ich erhielt einige Tage nach seinem Besuch die Einladung, zum Sekretariat der Sowjet-Regierung in den Kreml kommen. Das Mitglied des Obersten Sowjet, Yenukidse, ein persönlicher Freund Stalins, sagte mir durch einen Dolmetscher, daß ich durch die jahrelange illegale Arbeit eine Erholung verdient habe und daß ich vom Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei eingeladen sei, vier Wochen in seinem Erholungsheim Zuuk-Zu, auf der Halbinsel Krim, an der Küste des Schwarzen Meeres, zu verleben. Das war mir ein willkommenes Angebot. Bereits am nächsten Tag saß ich im Zug Richtung Süden.

Die Fahrt ans Schwarze Meer gehört vielleicht nicht zum Thema. Ich will nur kurz von dieser Reise erzählen: ich sah ein schönes Stuck Rußland, interessante Menschen und Einrichtungen. Auf der dreißigstündigen Fahrt nach Sewastopol sah ich in der Ukraine auch die erbarmungswürdigen Scharen obdachloser Kinder, die Besprisornys, die, wenn der Zug an den zahlreichen Baustellen langsam fuhr, sich auf die Trittbretter schwangen oder sich an die Fenster hängten und Brot verlangten. Sie bettelten nicht, sie forderten. Dieses bedrückende Erbe des Krieges und des Bürgerkrieges war immer noch nicht bewältigt worden. Einige Jahre später wurde die Lösung des Problems der Besprisornys im russischen Film Der Weg ins Leben behandelt.

Der märchenhaft schöne Erholungsort Zuuk-Zu liegt am Abhang des Jaila-Gebirges an der Küste des Schwarzen Meeres. Es waren, als ich dort zu Gast war, sieben Villen, die von den Bäumen des Parks verborgen, in weitem Halbkreis um das Kasino gruppiert waren. Das Kasino stand auf einem Felsen, die großen gebogenen Fenster des Speisesaales ließen den Blick ungehindert nach drei Seiten über das Meer und die Küste schweifen. Der Park war ein botanischer Garten mit der üppigen Flora des subtropischen Klimas. Zum Strand hinunter führten eine Serpentinenstraße und eine Treppe.

An den ersten Tagen wurde ich in der zum Heim gehörenden Klinik von mehreren Ärzten untersucht, die mich als körperlich Gesunden aber Erholungsbedürftigen einstuften. Beim ersten Gang zum Kasino traf ich auf Hermann Duncker, der mir erzählte, daß er schon seit drei Wochen am Ort sei und daß er nach einer weiteren Woche abreisen müsse. Beim Mittagessen kam ich neben dem Präsidenten der Belorussischen Sowjet-Republik zu sitzen, einem ungefähr siebzig Jahre alten Mann, der Deutsch sprach und bereitwillig meine Wünsche an die Bedienung übersetzte. Am Nachbartisch saß der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine, Lazar Kaganowitsch, der später einer der engsten und brutalsten Mitarbeiter Stalins wurde. Kaganowitsch bat mich, mit ihm Deutsch zu üben, einige Brocken kannte er bereits. Ich gab ihm bis zu meiner Abreise mehrmals in der Woche deutschen Unterricht. Dabei gingen wir im schattigen Park spazieren. Er war sehr empfindlich, er vertrug weder die direkte Sonne noch den starken Wellenschlag des Meeres. Einige Jahre später, als Kaganowitsch einmal inkognito Berlin besuchte, lud er mich zum Tee in die die Russische Botschaft ein. Er wollte gern in einige Arbeiterhaushalte geführt werden, um zu sehen, wie deutsche Arbeiterfamilien leben. Der Mann, der mir am Tisch gegenübersaß, wurde mir nach einigen Tagen, als wir gemeinsam einen Ausflug zu einem Felssturz machten, als der Präsident des Obersten Militärgerichts der Sowjet-Union vorgestellt. Insgesamt waren wir wohl vierzig Gäste; alle waren mehr oder minder hohe Staats- oder Parteifunktionäre. Nur von Kaganowitsch hatte ich den Eindruck eines „Karthothekowitsches“, die anderen waren in zaristischen Gefängnissen, in der Verbannung oder in der Emigration gewesen und hatten sehr zwanglose Umgangsformen. Es versteht sich somit von selbst, daß hier von morgens bis abends über politische Angelegenheiten gesprochen wurde. Ich stand dabei öfters im Kreuzfeuer der Fragen über die deutsche verpaßte oder verpatzte Revolution von 1918 bis zur Gegenwart. An anderen Abenden saßen alle um Schachbretter herum, dann durfte stundenlang kein Wort fallen. Abends waren auch einige Sänger und Musiker anwesend, die mehrere Konzerte gaben. Ich weiß nicht, ob sie zur Erholung oder zur Unterhaltung der Gäste eingeladen waren.

Das Regime des Heims war ziemlich streng. Raucher durften nur einige Zigaretten pro Tag verpaffen. Alkohol war ganz verboten. Doch das Verlangen nach einem Glas Wein war da. Eines Tages sagte mir ein Gast, daß einer der Gärtner eine Flasche sehr guten Krimwein beschaffen könne. Ich möge doch eine Flasche „zum Einstand“ bringen lassen, mir als Ausländer würde man das nicht krumm nehmen.

Ich sagte zu und mußte im voraus einen ziemlich hohen Preis zahlen. Am späten Abend brachte der Gärtner die Flasche auf mein Zimmer. Es war eine Zehnliterflasche. Der „Nachrichtendienst“ funktionierte nun großartig. Kaum war der Gärtner gegangen, da waren schon ungefähr zwanzig Gäste mit Gläsern im Zimmer. Jeder probierte den Wein und gratulierte mir, als ob ich ihn selber angebaut hätte. Für mich blieb nicht mehr als ein halbes Glas übrig. Die ganze „Party“ hatte kaum zehn Minuten gedauert. Nachdem ich mich akklimatisiert hatte, beteiligte ich mich an den Fahrten kleiner Gruppen mit dem Motorboot aufs Meer hinaus oder mit dem Auto auf den Uferstraßen nach Jalta, dem Mittelpunkt der „russischen Riviera“. Vom Meer aus sah ich die unvergleichlich urwüchsige Schönheit dieser Küste. Der vom Meeresstrand bis zum Kamm über zwanzig Kilometer breite Abhang des bis zu 1500 Meter hohen Jaila-Gebirges ist bedeckt mit Wäldern, Büschen und Weingärten, aus denen die weißen Paläste der früheren Herrscher, des Zaren und der Großfürsten herausleuchteten. Die Paläste sind heute Sanatorien oder Museen.

Wir besuchten den berühmten Eichen- und Pinienwald von Massandra, den in aller Welt einmaligen Botanischen Garten Nikitske Sad mit seinen uralten Zedern und den Rosenalleen mit über 2.000 Rosenarten; die Ruinen des antiken Taurus, die Reste des Tempels der Iphigenie, die Orte Alupka, Aluschta, Gursuf. Im Zarenpalast Livadia waren die Zimmer im Zustand belassen, wie sie die Zarenfamilie verlassen hatte, um nie wiederzukehren. Auf dem Tisch lag noch der Kantschu, mit dem der bigotte Zar seine Kinder und die Dienerschaft zu schlagen pflegte.

Die vier Wochen von Zuuk-Zu vergingen schnell. Zurück fuhr ich mit einem weiteren Gast mit dem Auto über das Jaila-Gebirge nach Simferopol. Wir wurden von einer Militäreskorte begleitet. Man sagte mir, daß in den Wäldern Räuber seien. In Simferopol stieg ich in den Zug Sewastopol-Moskau.

Ich kam rechtzeitig zurück, um an der Abschlußfeier des Kursus teilnehmen zu können. Das Programm war mittlerweile meinen Vorschlägen entsprechend umgestellt worden. Die Teilnehmer selber hatten über Themen der deutschen Revolution referieren müssen.

Einige Kursus-Teilnehmer reisten ab, andere, die in Deutschland von der Polizei gesucht wurden, darunter Kippenberger, blieben in Moskau. Ich siedelte ins Hotel Lux über und wartete auf meine Rückreisepapiere. Eines Nachmittags saß ich bei einen Glas Tee im Restaurant des Hotels, als der Direktor aufgeregt meinen Namen in den Saal rief, und einige im Hotel wohnende Deutsche kamen zu mir gelaufen und sagten: „Trotzki wartet draußen.“ Es war nicht Trotzki, sondern ein Ordonanzoffizier mit dem Auto Trotzkis. Der Offizier sagte, daß Trotzki mich erwarte, ich möge ihn begleiten. Im Kriegsministerium führte mich ein anderer Offizier, ohne mich noch einmal anzumelden, ins Zimmer Trotzkis. Er stand vom Schreibtisch auf und kam mir einige Schritte entgegen. So stand ich eigentlich unvorbereitet dem Organisator des Sieges der Russischen Revolution gegenüber.

Nach einigen Begrüßungsworten sagte er, daß er dreißig Minuten für mich reserviert habe, wir würden zwischendurch einige Male für wenige Minuten unterbrochen werden. Ich hatte schon von Trotzkis Zeiteinteilung und Arbeitsweise gehört. Gleich beim Betreten des Kriegsministeriums hatte ich gemerkt, daß hier ein anderer Stil herrschte, gar nicht der vermeintlich „echt russische“. Hier war völlige Ruhe und die Sauberkeit eines Elektrizitätsschaltraumes, nicht die bienenkorbähnliche Betriebsamkeit wie im Bürohaus der Kommunistischen Internationale.

Ich sah Trotzki nicht zum ersten Male. Bereits im November 1922 hatte ich ihn während des vierten Weltkongresses im Saale und bei der Revolutionsparade auf dem Roten Platz gesehen und gehört. Über seine damalige Wirkung auf mich hätte ich nicht so einprägsam berichten können wie der Amerikaner John Reed in seinem Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten:

» ... dann stand Trotzki auf der Tribüne, selbstsicher, faszinierend, das ihm eigene sarkastische Lächeln um den Mund. Er sprach mit weithin schallender Stimme, die Massen zu sich emporreißend ...«

So wirkte er auch noch 1922, als er auf der Gästetribüne stand. Trotzki hatte 1922 auf dem Roten Platz nicht nur zu den paradierenden Truppen der Roten Armee gesprochen, sondern auch zu den Moskauern, die zu Hunderttausenden den Platz umsäumten. Ich wußte wohl, daß Trotzki als der eindrucksvollste Redner neben Jean Jaures galt, den die sozialistische Bewegung aller Länder je besessen hatte. Und bestimmt wird seit Bestehen dieses groß angelegten Roten Platzes kein Redner mit solch leuchtenden Augen und tief wurzelndem Vertrauen gehört worden sein, wie Trotzki in den Revolutionsjahren von 1917 bis 1924.

Trotzki sprach mich im besten Deutsch an. Ich wußte, daß er die deutsche Sprache gut beherrschte; beim vierten Weltkongreß hatte er seine zuerst Russisch gehaltenen Reden stets deutsch, französisch, englisch wiederholt.

Trotzki begann die Unterredung, indem er sagte, daß er gelegentlich von mir gehört habe, daß er auch mein Memorandum über den Zweck des soeben beendeten Militär- Kursus gelesen habe. Ich erzählte ihm von meiner ersten Bekanntschaft mit seinem Buch Russische Revolution 1905 im Gefängnis und daß ich seine Theorie der „Permanenten Revolution“ sicherlich richtig verstanden habe, als den bis zum Siege andauernden Kampf um die sozialistische Gesellschaftsordnung, das heißt um Humanität und Kultur.

Trotzki lenkte das Gespräch auf die Ereignisse des Jahres 1923 und sagte, daß er gern meine Meinung über das Versagen der Partei hören möchte. Er habe über die „Oktoberniederlage“ zahlreiche Diskussionsreden gehört und Artikel gelesen. Er möchte gern von mir auch Einzelheiten über die technischen Vorbereitungen dieser Zeit wissen und wie sich die Arbeiterschaft zur Partei verhielt. Radek und auch einige Offiziere hätten die technischen Vorbereitungen gelobt. Hier unterbrach ich ihn und sagte, daß die Offiziere, die zur Unterstützung des Generals Skoblewski nach Deutschland geschickt worden waren, soweit ich sie kennengelernt habe, zu unpolitisch gewesen seien. Er antwortete, die Offiziere seien auch nur für den Aufbau der zweiten Etappe der Revolution bestimmt gewesen, die erste Etappe, der Aufstand selber, sei doch Sache der deutschen Partei als Führerin der deutschen Arbeiterklasse. Nach den Berichten der Zentrale der Partei und besonders nach Brandlers persönlichen Berichten hatte er die Entwicklung in Deutschland als viel weiter gediehen angesehen.

Ich schilderte ihm den Aufbau der Kampforganisationen der KPD seit dem Leipziger Parteitag im Januar 1923. Daß der Aufbau zuerst stark gefördert, dann einige Male gestoppt und wieder angekurbelt worden sei. Ich sagte, daß, wenn überhaupt die Absicht bestanden hatte loszuschlagen, wir zu lange gewartet hätten, auch eine Revolution müsse einen Termin haben, man könne sie nicht mehrmals hinausschieben; die revolutionäre Ungeduld oder besser: Energie von Massen lasse sich nicht in Flaschen verkorken. Die Disziplin der Mitglieder der Kommunistischen Partei dürfe nicht überschätzt werden. Auf die Frage Trotzkis, ob ein Losschlagen im Sommer 1923, auf dem Höhepunkt der deutschen Krise Erfolg gehabt hatte, antwortete ich: „Nein, die Menschen waren durch die lange Dauer der Krise zerrüttet. Auch wenn wir im Oktober losgeschlagen hatten, wären wir vernichtet worden, wie es gerade der Aufstand in Hamburg bewiesen hat.“ Ich erzählte Trotzki, der nun sehr erstaunt war, daß weit mehr Arbeiter zur Polizei gingen, um sich als Hilfspolizisten zur Niederschlagung des kommunistischen Aufstandes anzubieten als zu den kämpfenden Kommunisten. Er sagte, daß er derartiges zum ersten Male höre. Ich erinnerte an die Rede des Mitgliedes der Zentrale, Hermann Remmele, im Zentralausschuß der Partei, in der er gesagt hatte: „Millionen riefen, nur der Kommunismus kann uns retten, dreihundert Arbeiter kämpften in Hamburg.“ Remmele habe damit ungewollt das Problem angezeigt: Millionen riefen und demonstrierten, aber kämpften nicht. Ich sagte, ebenso habe es sich mit dem Ruf nach Waffen verhalten, wer kämpfen will, dem sei jede Waffe gut, wer nicht kämpfen will, in dessen Händen sei die beste Waffe wirkungslos. So aber sei es im Jahre 1923 in Deutschland gewesen. Nachdem, was ich im Jahre 1923 erlebt habe, könne ich einmal mehr feststellen, daß dem deutschen Arbeiter das Ingenium zum Revolutionär fehlt. In erster Linie könne die Passivität eine Unfähigkeit der bis 1914 auch von Lenin falsch eingeschätzten, nur auf Disziplin eingeschworenen Organisationen der Arbeiterschaft ein. Trotzki antwortete: „Die geistige Anlage zum Revolutionär ist eine Sache der politischen Erziehung und des Beispiels.“ Dazu konnte ich nur sagen:

„Dann brauchen wir eben mehr Zeit, Zähigkeit und Schulung.“ Er antwortete: „Ja.“

Die dreißig Minuten waren herum. Persönliche Dinge hatten wir nicht erwähnt, er hatte auch keine persönliche Frage an mich gerichtet. Trotzki sagte beim Abschied, daß wir uns sicherlich noch öfters sprechen würden. Ich solle mich melden, wenn ich wieder nach Moskau kommen sollte. Wir haben uns auch noch gesprochen, aber nicht in Moskau, sondern im Exil. Trotzkis distanzierte Art ist ihm oft als Arroganz unterstellt worden. Es war sein nervöser Intellekt, der stets auf Distanz hielt. Während wir miteinander sprachen, wurden wir zweimal unterbrochen. Es waren Offiziere im Generalsrang, wie ich aus den Rangabzeichen ersehen konnte. Beide waren noch junge Männer, höchstens Mitte Dreißig. Trotzki hörte sie auf die Uhr schauend an. Nach jeweils zwei Minuten gingen die Offiziere. Ich sagte zu Trotzki nach dem Besuch des zweiten Offiziers: „Meinetwegen brauchen Sie doch nicht so kurz zu sein.“ Er antwortete: „Es sind dienstliche Meldungen, keine politischen Gespräche, die Offiziere haben Zeit gehabt, ihre Meldungen zu formulieren.“ Freunde machte sich Trotzki auf diese Art nicht. In Zuuk-Zu war ich einmal mit meinem Tischnachbarn, dem Präsidenten der Belorussischen Republik, über Trotzki ins Gespräch gekommen. Dieser Mann, selber Jude, sagte damals zu mir: „Trotzkis jüdische Intelligenz und Tüchtigkeit provoziert manche Genossen, sie schadet ihm sehr.“ Mein Tischnachbar hatte das nicht im ablehnenden Sinne gesagt, aber doch mit ungeduldigen Gesten.

Für mich war Trotzki der Organisator der aus zahlreichen zum Teil wüsten Haufen schlecht oder gar nicht bewaffneter Arbeiter und Bauern eine diziplinierte Armee geschaffen hatte, die an vierzehn Fronten gleichzeitig kämpfte und siegte. Das aber war nicht allein das Werk eines Organisators dazu gehört die Tätigkeit des Politikers und des Propheten. Trotzki verkörperte die „Dreieinigkeit“ der Revolution, der Philosophie und der Politik. Trotzkis Worte hatten das Gewicht von Kanonen. Aber neben den mit-reißenden zukunftsweisenden Worten standen die harten Worte des obersten Befehlshabers. Trotzkis Stil ist auch in seinen Armeebefehlen zu finden; er begründet Befehle mit folgenden Worten:

„Soldaten! Panik ist die sinnlose, blinde Herdenfurcht. Ein paar Schüsse, ein unklares Gerücht und die Panik ist da. Wir werden angegriffen ... Wir werden angegriffen und in sinnloser Furcht weicht der Truppenteil zurück.

...der Panik unterliegt der unbewußte, feige, unwissende Soldat. Und er geht am ehesten drauf, weil die sinnlose Furcht eine schlechte Ratgeberin ist. Erfaßt von panischer Furcht stürzt der Mensch Hals über Kopf ohne nachzudenken los und gerät mitunter in eine wirkliche Gefahr und geht zugrunde. Es gehen mehr Feiglinge zugrunde als Tapfere.“

Die Macht Trotzkis lag in seiner Persönlichkeit und in seiner Sprache. Diese Sprache gewann Autorität bei den Freunden und Mitläufern und schüchterte die Gegner ein. Das war nicht nur eine Erfahrung Trotzkis, das hatte er auch aus der Geschichte der Französischen Revolution erfaßt, von Saint Just und Danton, und auch von dem preußischen Junker Karl von Clausewitz und dem französischen Soziologen Le Bon.

Trotzkis Tatkraft war aus seinem revolutionären Optimismus erwachsen. Als er sich nach Eroberung der Macht in Petrograd mit dem Revolutionskomitee im „Smolny Institut“ eingerichtet hatte und Lenin noch mit falschem Bart und Perücke zu ihm ins Zimmer trat, sagte Trotzki: „Die Sieger verstecken sich nicht.“ Der skeptische Lenin fragte zurück: „Sind Sie sicher, daß wir gesiegt haben?“

Der Sieg mußte mehrmals errungen werden. Mehrere Male stand die Sowjet-Republik vor ihrem Ende und immer mußte der Mann, der am liebsten Journalist gewesen wäre, dessen liebster Arbeitsplatz die Redaktionsstube einer Zeitung und der Umbruchtisch einer Druckerei waren, dort eingreifen, wo die Gefahr am gegenwärtigsten war. Trotzki war Außenminister als es galt, die deutschen Militaristen hinzuhalten, er war Minister für Eisenbahnen und Verkehr, als kaum noch ein Zug fuhr, Oberbefehlshaber der Roten Armee, die erst im Kampfe gegen die innere Konterrevolution und ausländische Invasion geschaffen werden mußte. Nichts übernahm er fertig, alles mußte erst geschaffen werden. Allen Mitarbeitern lebte er ein Beispiel vor, und er konnte mit Recht ein Maximum an Gewissenhaftigkeit und Schaffensfreude von ihnen verlangen.

Im März 1918 war die Sowjet-Republik besonders gefährdet, als die deutsche Armeen weite Teile Rußlands besetzt hielten, die bewährtesten revolutionären Arbeiter an die Fronten mußten, die Arbeiterschaft in den Städten und Betrieben nicht genügend erfahrene Kräfte hatte, um die Wirtschaft im Gang zu halten und zudem die Beamtenschaft die Verwaltung sabotierte. Selbst führende Revolutionäre zweifelten in diesen Tagen, ob die Oktoberrevolution nicht doch ein Abenteuer oder ein Irrtum war. Sogar bei Trotzki klang dieser Zweifel durch, als er in einer Rede sagte, daß „Wenn die Bolschewiki jetzt von der Macht weggeschleudert würden, sie in kürzester Frist wieder unvermeidlich an die Macht kommen würden.“ In dieser Situation hatte Trotzki die berühmte Rede gehalten, in der er der früheren Beamtenschaft und den Offizieren die Mitarbeit anbot. Die Sabotage der Verwaltungsbürokratie zwang und ermöglichte einerseits die Arbeiterschaft, einen neuen Staatsapparat aufzubauen, andererseits aber war keine Zeit zu verlieren, die Menschen wollten leben und arbeiten. Der Sinn dieser Rede Trotzkis, die unter dem Titel Arbeit, Disziplin und Ordnung werden die Sowjet-Republik retten veröffentlicht wurde, war der: „Alles was aus den alten Einrichtungen lebensfähig und wertvoll war und ist, muß verwertet werden“.

Die Kader der Armee und der Wirtschaft bestanden jedoch aus Mitgliedern der Partei, unter diesen suchte und fand Trotzki die Quellen der Kraft der russischen Arbeiterklasse.

In seiner ganzen Art verkörperte Trotzki die höchste russische Kultur. Seine Ideen gaben dem russischen Leben Impulse weit über den Rahmen der regierenden Partei hinaus. Er propagierte unter anderem die Vereinigten Staaten von Europa, das allerdings ein sozialistisches Europa sein müsse, zu einer Zeit, als in Deutschland und anderen Ländern die „christlichen“, kapitalistischen und konservativen Parteien von Landesverrat schrien, wenn von einem vereinten Europa die Rede war.

Am Abend nach dem Gespräch mit Trotzki war ich bei Alexander Dworin zu Gast, und ich erzählte von in einer Unterredung mit Trotzki. Dworin sagte mir, daß in internen Parteikreisen die Diskussion über die Nachfolge Lenins bereits harte Formen annehme, Trotzki beteiligte sich auffallend wenig daran, er Dworin wisse nicht einmal, ob Trotzki eine Unterstützung seiner Kandidatur überhaupt wünsche. Trotzki habe auch Warnungen von Freunden über Intrigen als belanglos belächelt. Die Parteifunktionäre verübelten es Trotzki besonders, daß er es abgelehnt hatte, am soeben beendeten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale teilzunehmen; er nehme sich nicht Zeit, Freunde zu gewinnen.

Ich war noch zur Schlußfeier des Kongresses im Kreml. Thälmann, Ruth Fischer und ein junges, sehr forsches deutsches Mädchen, Grete Wilde, erhielten „Ehrenuniformen“ der Roten Armee. Ruth Fischer ließ sich in der Uniform, umgeben von ihren Freunden, im Schlafzimmer Katharinas II. Photographieren.

Beim Abschiedstee bei Radek sagte er in seiner ironischen Art zu mir:

„Du hast mit Deinem Apparat keine Bäume ausgerissen, aber wenigstens kein Unglück angerichtet.“

Durch Radek lernte ich die schöne Schriftstellerin Larissa Reissner kennen, die in der Oktoberrevolution so tapfer gekämpft hatte. Ich sah sie einige Monate vor ihrem frühen Tod in Berlin wieder. Kurz darauf erkrankte sie auf einer Asienreise an Typhus und starb.

Die Rückreise führte mich über Reval. Dort stieg ich in den aus Helsinki kommenden Dampfer. Bei der Paß- und Zollkontrolle in Stettin trug ich nichts bei mir, das auf einen Besuch in Moskau hinwies. Wie üblich nahm ich ab Stettin einen Personenzug, der auch auf Vorortstationen hielt und mied so den stark überwachten Stettiner Bahnhof im Norden Berlins.

 


Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023