Karl Retzlaw

SPARTACUS
Aufstieg und Niedergang

* * *

18. Vor dem Reichsgericht zu Leipzig


Die ersten beiden Tage der Gefangenschaft vergingen mit Ermittlungen des Erkennungsdienstes der Kriminalpolizei. Am dritten Tage wurde ich von den beiden Kriminalbeamten, die mich verhaftet hatten, in den Raum geführt, den ich vom Weltkriege her kannte. Es war das Zimmer des Untersuchungsrichters beim Reichsgericht. „Landgerichtsrat Vogt“ konnte ich an der Tür lesen. Als ich eintrat, saß er am Tisch, ein Assistent am Nebentisch und als dritter Mann ein Protokollführer vor seiner Schreibmaschine. Vogt las mir den Eröffnungsbescheid vor: „Vorbereitung zum Hochverrat.“ Es folgte die Protokollierung der Personalien, wie ich sie schon bei der politischen Polizei angegeben hatte. Einer der beiden Kriminalbeamten sagte, daß er inzwischen mit meinem Bild zu meiner Mutter gefahren war, um sich bestätigen zu lassen, daß ich es wirklich bin.

Nach der Protokollierung der Angaben zur Person erklärte ich, daß ich weitere Angaben erst nach Rücksprache mit meinem Rechtsanwalt machen werde. Ich nannte Paul Levi, der jetzt sozialdemokratisches Mitglied des Reichstages war, als meinen Verteidiger. Levi besuchte mich schon zwei Tage später.

In Vogt, einem untersetzten Mann mit rosigem Gesicht, Glatze und Spitzbauch, lernte ich in den folgenden fünfzehn Monaten einen gerissenen „Spezialisten“ für Kommunistenprozesse kennen. Vogt gehörte zu den Richtern, die neben der Verfolgung der Kommunisten auch das Ziel hatten, der Verfassung der Weimarer Republik einen Stoß zu geben. Wer Kommunist war, war für ihn schon zuchthausreif. Den Beweis für eine Straftat zu erbringen dünkte ihn eigentlich überflüssig. Die meist geübte Methode Vogts war das In-die-Länge-ziehen der Untersuchungshaft. Das konnte ein Untersuchungsrichter in der Weimarer Republik ohne Risiko tun; für den Fall, daß gegen den Häftling nichts Strafbares gefunden wurde, hatte die Justiz auf alle Fälle ihre Rache. Haftentschädigung gab es nicht für Kommunisten, bei denen wurde stets „dringender Tatverdacht“ angenommen. Bei alten Verhören machte Vogt geheimnisvolle, dunkle Andeutungen über angebliche Spuren, die er entdeckt habe. Mit diesen Zermürbungsversuchen hätte er zweifellos bei Kriminellen Erfolg gehabt, bei mir und anderen Politischen nicht. Solche Andeutungen erzeugen aber bei Angeschuldigten im allgemeinen eine nervöse Spannung, die nicht jeder erträgt. Die Untersuchungshaft wird daher von den meisten Häftlingen als zermürbender empfunden als die Strafhaft. Nach einigen Wochen oder Monaten entsteht die „Haftpsychose“; mancher Häftling meldet sich selber zur Vernehmung und redet dabei oft von Dingen, von denen der Untersuchungsrichter gar nichts gewußt hatte. Das hatte Vogt sicherlich auch von mir erwartet.

Mein Anwalt, Paul Levi verhielt sich Vogt gegenüber schneidend abweisend. Bei einem Besuch Levis erwähnte Vogt das schlechte Wetter. Sofort konterte Levi: „Ich wünsche mit Ihnen keine Privatgespräche zu führen“. Beiläufig bemerkt, es war derselbe Vogt der sieben Jahre später den Reichstagsbrand-Prozeß gegen Dimitroff, Torgler, van der Lubbe vorbereiten sollte.

Nach jeweils drei Monaten beantragte mein Anwalt einen Haftprüfungstermin. Diese Haftprüfungstermine sollten eigentlich die übermaßig lange Untersuchungshaft eindämmen. Das gelang den Verteidigern bei der Mentalität der Richter in der Weimarer Republik nur in seltenen Fällen. Zwischen Levi und Vogt kam es jedesmal zu heftigem Wortwechsel. Der Untersuchungsrichter pflegte beim Termin zu erzählen, wo er in den vergangenen Monaten herumgereist sei, und daß er neues schwerwiegendes Material gegen mich in Händen habe, das noch überprüft werde. Doch die Anschuldigungen, auf die ich wartete, die den „Apparat“ „O-D“ und „M-P“ betrafen, kamen nicht. Levi brauchte mir nicht zu raten, die Nerven zu behalten. Wenn er irgendeine warnende Bemerkung machte, verstand ich ihn sofort. Ich hatte mittlerweile zwei Rechtsanwälte. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei hatte für mich noch den Rechtsanwalt Georg Cohn mit meiner Verteidigung beauftragt. Georg Cohn war der Sohn des damals sehr bekannten Reichstagsabgeordneten und Rechtsanwalts Dr. Oskar Cohn, der früher Mitglied des Zentralkomitees der USPD gewesen war. Die Besuche meiner Rechtsanwälte fanden in Gegenwart des Untersuchungsrichters statt. In der Weimarer Zeit konnte der Verteidiger in politischen Prozessen seinen Mandanten erst dann ohne Überwachung sprechen, wenn die Anklageschrift übergeben und der Gerichtstermin anberaumt war. Die vielen „Karls“, die im Apparat der Partei waren, wurden mir jetzt etwas unangenehm. Mir wurden mit „Karl“ bezeichnete Sachen aus allen Teilen Deutschlands und auch aus Wien vorgehalten, von denen ich nur zum Teil wußte. So war zum Beispiel in Berlin ein Flüchtling, Karl Frei aus Wien, der Leiter des dortigen Republikanischen Schutzbundes gewesen war. Das Diplomatische Korps in Wien hatte auf Antrag des französischen Botschafters von der österreichischen Regierung die Entwaffnung des „Republikanischen Schutzbundes“ verlangt. Karl Frei hatte sich dagegen gewehrt und mußte aus Österreich fliehen. Die Entwaffnung der weitaus rechtsstehenden „Heimwehren“ die unter Führung des Fürsten Starhemberg standen, verlangte der französische Botschafter nicht. Karl Frei hatte seine Artikel über Straßen und Partisanenkampfe mit K. F. gezeichnet. Ich hatte meine Artikel nie signiert. Es wäre mir nicht schwer gefallen zu beweisen, daß ich dieser „K. F.“ nicht bin, aber ich hatte keine Veranlassung, die Aufmerksamkeit der Kriminalpolizei und des Untersuchungsrichters auf einen weiteren K. F. zu lenken.

Auch Levi sagte mir, daß es vorläufig egal sei, was der Untersuchungsrichter mir alles anzuhängen versuche, je dicker die Akten und danach die Anklageschrift werden, je mehr könne er vor Gericht alle falschen Anschuldigungen zerpflücken, umso unglaubwürdiger würde die restliche Anklage gegen mich bleiben. Auf das Strafmaß hätten viele Einzelheiten sowieso keinen schwerwiegenden Einfluß.

Die alten Bolschewiki berichten in ihren Erinnerungen oft, daß die Gefängnisse ihre Universitäten gewesen seien. Unter dem Zarismus wurden in den russischen Gefängnissen und in der Verbannung hochgebildete Akademiker ich nenne nur Lenin, Trotzki, Sinowjew, Stalin, zusammen mit Arbeitern gefangen gehalten. Die Akademiker schrieben und dozierten, die Arbeiter waren dankbare, und wie die Geschichte bewiesen hat, gelehrige Zuhörer. Wir politischen Gefangenen in Deutschland, besonders Untersuchungshäftlinge, wurden jahrelang in Einzelhaft gehalten. Da konnten wir nur lesen. Hier las ich auch zum ersten Male die deutsche Originalausgabe von Marx: Das Kapital.

Hin und wieder ließ mich Vogt zu Vernehmungen vorführen, bei denen er nur eine einzige Frage stellte. Wenn ich sie mit Ja oder Nein beantwortet hatte, war die Vernehmung zu Ende. Der Untersuchungsrichter wollte wahrscheinlich nur prüfen, ob ich endlich redselig geworden bin. Ich verlor immer viel Zeit dabei, weil ich von meiner Zelle durch den berüchtigten Tunnel zum anderen Flügel geführt wurde. Dann kam ich in eine der sogenannten Vorführungszellen, die so klein waren, daß nur ein Schemel darin Platz hatte. Hier wartete ich manchmal stundenlang, bis ein Kriminalbeamter des Untersuchungsrichters mich abholte. Ich hatte schon beim ersten Male, als ich in einer solchen Zelle warten mußte vermerkt, daß sie von unten bis oben mit ekelhaften Schweinereien, Zoten und Flüchen beschrieben und bemalt waren. Bei einer Vernehmung, nachdem ich wiederum in einer solchen Zelle hatte warten müssen, sagte ich dem Untersuchungsrichter, daß ich nicht eher auf seine Fragen antworten werde, bis die Zellen neu getüncht worden wären, und verlangte, daß meine Anwälte benachrichtigt würden.

Mehrere Tage darauf kamen der Gefängnisdirektor nebst Inspektor und geleiteten mich zu den Vorführungszellen. Ich sollte mich überzeugen, daß sie frisch getüncht worden waren. Seit Jahren war das nicht geschehen. Die Sache sprach sich schnell herum, wie überhaupt im Gefängnis beinahe jeder über jeden Bescheid zu wissen schien. Dafür sorgten die „Kalfaktoren“. Der Direktor besuchte mich noch einige Male, auch der Inspektor, der Gefängnispfarrer wollte mit mir diskutieren und auch der Zahnarzt, der wöchentlich einmal in einer dazu eingerichteten Zelle praktizierte. Alle redeten mich mit „Edelkommunist“ an. Ich mußte mich gegen diesen dummen Ausdruck wehren und sagte jedem, daß der zur Zeit grassierende Ausdruck „Salonbolschewist“ als Modeerscheinung einige Berechtigung habe, aber der Ausdruck „Edelkommunist“ müsse für alle Kommunisten gelten, die gegen Krieg und Militarismus, für die Befreiung der Arbeiterklasse vom Kapitalismus kämpfen.

Die Bezeichnung „Salonbolschewist“ war in den zwanziger Jahren ziemlich beliebt und unter Literaten, Schauspielern, Kabarettisten, verbreitet. In „Salons“ alter und neuer Besitzbürger warfen diese Leute mit radikalen Redensarten um sich, die die Gastgeber, öfters waren es Gastgeberinnen, erschrecken liessen. Mitglieder der KPD waren diese „Bolschewisten“ nicht. Fritz Schönherr, der inzwischen Bankdirektor geworden war, besuchte mich einige Male im Gefängnis und erzählte mir von Diskussionen in diesen „Salons“, über die er sich, sofern sie „Politik“ machen wollten, weidlich belustigte.

Nach einem Jahr Untersuchungshaft brachte Paul Levi meine Sache im Rechtsausschuß des Reichstages vor, als Beispiel für das In-die-Länge-ziehen der Untersuchungshaft in politischen Sachen. Mir war das gar nicht recht, ich wollte keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Der Justizminister versprach, einen Bericht anzufordern. Jetzt ging es rasch. Einige Wochen später erhielt ich die Anklageschrift und die Mitteilung, daß der Prozeß vor dem Reichsgericht in Leipzig auf Anfang Juni mit vier Tagen Dauer anberaumt sei.

Die 48 Seiten starke Anklageschrift enthielt den Vermerk „Geheimsache“ und wimmelte von Märchen. Der Untersuchungsrichter Vogt, der mittlerweile Landgerichtsdirektor geworden war, hängte mir darin Dinge an, von denen ich nicht einmal gehört hatte. Meine Haltung und Verurteilung im Weltkriege wurden als belastend bezeichnet, meine Teilnahme an der Bayrischen Räterepublik wurde nur erwähnt, sie war nicht Gegenstand der Anklage. Merkwürdigerweise aber meine Tätigkeit bei der Abwehr des Kapp-Lüttwitz-Putsches. Weiter waren in der Anklageschrift Anschuldigungen enthalten, die von Felix Neumann stammten, die nahe an meine frühere Parteifunktion herankamen.

Vogt wollte mich gleich nach Überreichung der Anklageschrift nach Leipzig bringen lassen. Dann hätten mich meine Verteidiger kaum besuchen können. Scharfe Proteste verhinderten die vorzeitige Überführung, die dann erst einige Tage vor dem Prozeßbeginn erfolgte.

Das alte Leipziger Gefängnis lag mitten in der Stadt. Es war ein düsterer Bau mit sehr kleinen Fenstern. Auch der Hof war so klein, daß er nur als Luftschacht bezeichnet werden konnte.

Der Vorsitzende des vierten politischen Strafsenats des Reichsgerichts, Senatspräsident Niedner, begann mit meiner Vernehmung zur Person und Verlesung der Anklageschrift. Nach dem üblichen Anhören des Arztes des Berlin-Moabiter Gefängnisses, der meine Gesundheit attestierte, wurden die Zeugen aufgerufen; es waren elf Kriminalbeamte, ferner als Hauptzeuge der bereits genannten Felix Neumann. Neumann war noch nicht anwesend, der Vorsitzende teilte mit, daß Neumann am folgenden Tag vorgeführt werden würde. Danach wurde die Verhandlung vertagt. Während die Richter den Saal durch einen Hinterausgang verließen, wurden mir Blumensträuße zugereicht. Im vollbesetzten Zuhörerraum saßen auch Freunde aus Berlin. Mit der „grünen Minna“ fuhr ich ins Gefängnis zurück.

Am Morgen des zweiten Gerichtstages begannen die Aussagen der Kriminalbeamten. Nur vier von den elf kamen dazu, Aussagen zu machen. Was sie vorbrachten, waren dürftige Spitzelgeschichten aus zweiter Hand. Die beiden ersten Beamten waren Berliner. Sie erzählten unter anderem Vorgänge aus der Abwehr des Kapp-Lüttwitz-Putsches, die das Publikum zum Lachen brachten, weil sie auf die Frage Paul Levis, auf welcher Seite sie im Putsch gestanden hätten, die Aussage verweigerten. Der dritte Beamte war aus Stuttgart, der vierte aus Leipzig. Sie erklärten, daß sie mich persönlich zwar niemals gesehen hätten, aber sie hätten von zuverlässigen „Vertrauensleuten“ Informationen über mich erhalten. Auf Levis Antrag, die „Vertrauensleute“ als Zeugen zu laden, zog sich das Gericht zur Beratung zurück und verkündete nach ungefähr einer halben Stunde die Ablehnnug des Antrages Levis und gleichzeitig den Verzicht auf weitere Aussagen der Kriminalbeamten. Diese verließen daraufhin den Saal.

Nach der Mittagspause machte der Untersuchungsrichter Vogt längere Ausführungen über seine Ermittlungen und über mein Verhalten während der Untersuchungshaft. Zur Entlassung seiner Kriminalbeamten-Zeugen sagte er sehr gewichtig die kommenden Aussagen Felix Neumanns würden die Anklage erbitten.

Nun kam der bereits geschilderte Auftritt Felix Neumanns, der die weitere Verhandlung sprengte. Levi aber bestätigte wieder einmal seinen Ruf als erster deutscher Verteidiger in politischen Prozessen. Er hielt ein Plädoyer, das das Publikum zu Beifallskundgebungen hinriß. Levi beantragte teilweise Einstellung des Verfahrens, die Pressesachen seien nach sechs Monaten verjährt, die Führung des falschen Namens sei ein Akt der Notwehr gewesen. Es käme nur Festungshaft in Frage, die aber sei durch die lange Untersuchungshaft als verbüßt zu betrachten. Das Zentralkomitee der KPD hatte mir durch meinen zweiten Anwalt Georg Cohn sagen lassen, meine ganze Sache solle möglichst ohne Aufsehen und ohne Schlußwort abgeschlossen werden. Georg Cohn verzichte nach der Rede Levis auf ein Schlußwort. Ich wurde zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Sicherlich ärgerte sich Vogt am meisten darüber, er hatte mir während der Untersuchungshaft mehrmals angedeutet, daß ich mich „auf mindestens sechs Jahre Zuchthaus“ gefaßt machen solle.

Das war mein Zusammentreffen mit dem berüchtigten vierten Strafsenat des Reichsgerichts und seinem Präsidenten Niedner gewesen. Andere „Linke“, Kommunisten und Pazifisten waren schlechter weggekommen. Niedner war mehr noch als Vogt der Prototyp des reaktionären Richters, der mit juristischen Vokabeln seine politische Einstellung kaum verdeckte. Niedner war einer jener Richter des Reichsgerichts, die Enthüllungen über die Rüstungen der Wehrverbände zu Verbrechen stempelten, die als Landesverrat geahndet wurden. Der Vierte Strafsenat des Reichsgerichts stand in der Weimarer Republik an der Spitze in der unverhüllten Rechtsbeugung der deutschen politischen Justiz.

Vierzehn Tage nach meinem Prozeß geleiteten mich zwei Kriminalbeamte zum Gefängnis Berlin-Plötzensee. Ich beantragte bei der Direktion Anerkennung als politischer Gefangener und Freistellung von der Gefängnisarbeit. Die „Rote Hilfe“ erbot sich, für Verpflegung und Wäsche zu zahlen. Nach mehreren Tagen konnte ich den Hof zum einstündigen Rundgang betreten. Hier traf ich zwei weitere „Politische“, die ich von ihren Berliner Bezirken her kannte. Jeder war wie ich in Einzelhaft, nur der tägliche einstündige Rundgang auf dem Hof war gemeinsam. Wir durften erst dann auf den Hof, wenn die anderen Gefangenen ihren Rundgang hinter sich hatten und zur Arbeit waren. Ich erfuhr, daß auch Fememörder im gleichen Bau waren, sie trugen ebenfalls Zivilkleidung und machten ihren Rundgang gesondert. Mein erster Besucher war mein Rechtsanwalt Paul Levi, der sich erkundigen wollte, ob ich den politischen Status habe. Er erzählte mir gleich lachend, daß der Direktor des Gefängnisses ihn empfangen und gebeten habe, die Mittagssuppe zu kosten und daß er die Kostprobe abgelehnt habe. „Ich weiß selber“, hatte Levi dem Direktor geantwortet, „daß ein Löffel Erbensuppe anders schmeckt als ein Napf voll, besonders dann, wenn man die Erbsensuppe fast jeden Tag bekommt.“ Levi wollte mich bedauern. Ich versicherte ihm, daß es hätte viel schlimmer kommen können.

Das Reichsgericht hatte mir nur ein Jahr der Untersuchungshaft angerechnet, obwohl diese Haft etwas mehr als 15 Monate gedauert hatte. Dadurch hatte ich drei Monate zusätzlich erhalten. Ich wollte die Zeit ausnützen, um zu studieren: Geschichte, Literatur und vor allem, um später im Verlagsberuf bleiben zu können, die einschlägige Verlags- Literatur. Dazu war um diese Zeit die deutsche Übersetzung des Buches eines Engländers, Stanley Unwin, Das wahre Gesicht des Verlagsbuchhandels in einem Stuttgarter Verlag erschienen. Dieses Buch ist wohl bis auf den heutigen Tag das instruktivste Werk über den Beruf des Verlegers geblieben.

Die Gefängnisbibhothek enthielt nichts, was ich zum Studium benötigte. Der Gefängnislehrer, ein dicker, unaufhörlich Pfeife rauchender Mann, der die Bibliothek verwaltete, war auch der Zensor der Bücher, die von außen geschickt wurden. Manchmal brachte er die Bücher selbst, um mit mir zu sprechen.

Ein nicht uninteressanter Typ war der Gefängnisarzt. Er war ungefähr Ende Dreißig, hochgewachsen, blond, mit Schmissen im Gesicht. Wie jeder Gefangene wurde ich in den ersten Tagen von ihm untersucht und wahrscheinlich, weil er auf der Karteikarte gelesen hatte „politischer Gefangener“ erzählte er mir dabei seine politischen Ansichten. Er gab sich burschikos und schimpfte über die „Zustände“ in Ausdrucken wie sie manchmal von Ärzten gebraucht werden. Ich konnte auch mit der Zeit mehrmals recht erkennen ob er ganz „links“ oder ganz rechts stand, er wollte mit keiner Partei etwas zu tun haben. Er sagte mir, daß er kein Geld für eine eigene Praxis habe, er arbeitete aber noch in einem Krankenhaus.

Eines Tages kam er aufgeregt in meine Zelle und sagte, daß er unterwegs zum Gefängnis auf der Straße in Charlottenburg den früheren deutschen Kronprinzen im Auto habe vorbeifahren sehen. „Sie wissen doch“, sagte er, „ich bin Republikaner, aber als der Kronprinz vorbeifuhr habe ich unwillkürlich Haltung angenommen und militärisch gegrüßt, schließlich war ich ja einmal Leutnant gewesen.“ Er überlegte und fügte hinzu: „Ich kann es mir schwer erklären, aber hinterher ärgerte ich mich; es war eine unwillkürliche Bewegung und ein Beweis dafür, wie tief der preußische Untertanengeist in den Knochen steckt.“

Die persönlichen Gespräche mit dem Arzt und dem Lehrer dauerten stets nur wenige Minuten. Es war jedoch nicht so, daß eine persönliche Sympathie entstand. Wochenlang wurde kein Wort gewechselt. Beide, Arzt und Lehrer, mußten sich auch hüten bei den Gefängnisbeamten, die ja jeden Besuch beobachteten, „ins Gerede“ zu kommen.

Das Verhältnis zu meinen politischen Mitgefangenen war nicht immer freundlich. Ich hatte unter anderen Büchern Tolstois Krieg und Frieden in meiner Zelle und bot den Roman auch meinen Genossen an. Das hatte eine unerfreuliche Diskussion zur Folge, die sich durch Wochen hinzog. Einer meiner Genossen behauptete, Tolstoi sei ein Konterrevolutionär und ich mache mit meiner Empfehlung ihn zu lesen, „konterrevolutionäre Propaganda“. Der Genosse schrieb sogar an die Bezirksleitung der KPD Berlin-Brandenburg und beantragte ein Parteiverfahren gegen mich. Der Bezirkssekretär Hans Pfeiffer erhielt als Abgeordneter Sprecherlaubnis außer der Reihe. Um den Streit zu schlichten sagte er, daß es keinen Parteibeschluß gäbe, der besagt, daß Tolstoi ein Konterrevolutionär sei. Trotzdem sei meine Empfehlung befremdlich. Es gäbe wichtigere Schriften. Er selbst habe Tolstoi nicht gelesen.

Fast drei Jahrzehnte später besuchte eine diplomatische Mission der DDR unter Führung eines Botschafters im Auftrage des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht die Grabstätte Tolstois in Jasnaja-Poljana, die ebenso wie Tolstois Haus noch zu Zeiten Lenins zum Museum und Nationaldenkmal erklärt worden war. Die Nazis haben Jasnaja-Poljana im Kriege teilweise zerstört. Inzwischen war alles wieder aufgebaut worden. Der Botschafter bezeichnete in seiner Rede die Schriften Tolstois als „unvergängliche Werke“ und die Nazis als Kulturbarbaren.

In der Verfassung der Weimarer Republik sollte die Todesstrafe zuerst abgeschafft werden, ihre Vollstreckung war suspendiert worden. Aber nachdem in Schlesien, Hannover und Düsseldorf mehrere grausige Mordtaten begangen worden waren, wurde sie wieder eingeführt.

In einer Gemeinschaftzelle im obersten Stockwerk befand sich ein Mann, der in Berlin eine Frau getötet hatte und zum Tode verurteilt worden war. Der Mann hatte bislang auch mit anderen Gefangenen zusammen gearbeitet. Eines Tages wurde er plötzlich in eine Einzelzelle im Erdgeschoß, neben dem Ausgang zum Hof eingeschlossen. Ein Arzt kam am gleichen Tag, ihn zu untersuchen. Es war nicht unser Gefängnisarzt, dieser sagte mir eine Woche später, daß er sich habe beurlauben lassen, als er den Zweck der Untersuchung erkannt hatte. Am Abend des nächsten Tages nach der ärztlichen Untersuchung wurden wir politischen Gefangene für eine Nacht in ein anderes Stockwerk geführt. Den Zweck dieser Maßnahmen erkannten wir erst am folgenden frühen Morgen, als im Gefängnis ungewohnte Unruhe aufkam. Wir hörten Singen und Klopfen, bis eine Glocke zu läuten begann. Der Vormittagsrundgang der kriminellen Gefangenen fiel aus, nur wir politischen gingen erst am Nachmittag auf den Hof. Der Wachtmeister, der uns auf den Hof führte, sagte uns, daß der Verurteilte mit dem Handbeil hingerichtet worden sei. Der Direktor und ein weiterer Zeuge hätten dabei erbrochen.

Ich hatte den Hingerichteten niemals gesehen, jetzt aber hörte ich Geschichten über ihn, die mich in meiner Auffassung bestärkten, daß die meisten Verbrecher Psychopathen oder zumindest psychisch labile Menschen sind, die in einer aufgeklärten Gesellschaft als Kranke behandelt werden müßten, und daß die Todesstrafe unbedingt abzuschaffen ist. Die Wachtmeister in „meinem“ Haus sagten nur, der Hingerichtete sei ein sehr frommer Mann gewesen. Die ganze letzte Nacht habe er gebetet. Ein „Kalfaktor“ erzählte mir, daß der Delinquent schon in der Gemeinschaftszelle seinen Mitgefangenen gesagt habe, daß er mit seiner Hinrichtung rechne, und er habe, da er an ein Leben nach dem Tode glaubte, mit seinen Zellengenossen Signale vereinbart, die er ihnen vom Himmel geben werde. Trotz seiner Mordtat glaubte er, bestärkt durch den Gefängnispfarrer, in den Himmel zu kommen.

Seine Zellengenossen glaubten es auch. Sie waren anscheinend ebenso geistesgestört wie der Hingerichtete. Sie stiegen durch Wochen hindurch, Nacht für Nacht, auf das Bettgerüst der Gemeinschaftszelle, um durch das Gitter auf die Zeichen am Himmel aufzupassen. Trotz Androhung von Disziplinarstrafen gelang es der Gefängnisdirektion nicht, sie von dem Unfug abzubringen. Mit der Zeit aber wurde sie müde.

Was mich in der Zeit der Einzelhaft am meisten beschäftigte und bedrückte war die Entwicklung, die die Partei und Regierungspolitik der Sowjet-Union nahm. Das Grübeln, ohne informiert zu sein, war eine schwer zu ertragende seelische Belastung. Tageszeitungen und Zeitschriften erhielt ich im Gefängnis nicht. Die Diskussionen, die mittlerweile zu Diadochenkämpfen um die Nachfolge Lenins ausgewachsen waren konnte ich mithin nicht verfolgen. Meine mitgefangenen Parteigenossen wichen Diskussionen über die Vorgänge in der Sowjet-Union aus. Sie wußten auch nichts, sie konnten mir nur von Gerüchten erzählen, die sie bei Besuchen von Angehörigen erfahren hatten. Paul Levi hatte meine Unsicherheit noch verstärkt, als er mir bei einem Besuch sagte, daß die Dinge in der Sowjet-Union sich so zu entwickeln schienen wie er, Levi, sie in den Jahren 1921/22 befürchtet hatte. Levi meinte, im isolierten Rußland entstehe eine neue Kaste, die zum Faktor der Konterrevolution werden konnte. Er ging weiter zurück und meinte, die Art, wie der Kronstädter Aufstand niedergeworfen wurde, sei eigentlich schon der Beginn der Konterrevolution gewesen. Ich wußte aus allen Nachrichten nur soviel, daß Trotzki nachdem er aus seinem Amt als Kriegsminister ausgeschieden war, die Leitung der Wirtschafts-Plankommission innehatte. Der erste Fünfjahresplan der Sowjet-Union entstand unter seiner Federführung. Ich wußte auch, daß Trotzki Vorsitzer der der „China-Kommission“ war. Die China Frage war zu dieser Zeit das wichtigste außenpolitische Problem der Sowjet-Union und auch der Kommunistischen Internationale.

Endlich schickte mir Wolfgang von Wiskow einen Bericht über die Verbannung Trotzkis nach Alma Ata an der Grenze Asiens. Ein Besucher konnte ihn mir zustecken. Ich schrieb daraufhin einen Protestbrief an die Kommunistische Internationale, zu Händen Piatnitzkis. Den Wortlaut weiß ich nicht mehr, aber an den Schlußsatz: „Trotzki und Lenin gehören so zusammen wie Marx und Engels,“ erinnere ich mich genau. Ich schrieb in diesen Brief unter anderem, das die Leistungen des einen ohne die Fähigkeiten des anderen nicht möglich gewesen waren. Der Brief war eine stark emotionale Solidaritätserklärung mit Trotzki. Es wurde wirklich nach Moskau befördert. Leon Sedow, der Sohn Trotzkis sagte mir Jahre später, daß auch er ihn gelesen habe.

Der im Mai 1928 neu gewählte Reichstag diskutierte einige Wochen darauf eine Amnestie für politische Delikte. Die Rechtsparteien lehnten sie zuerst ab, dann wollten sie einen Gefangenen Austausch. Von den rechtsstehenden Organisationen waren nur einige Fememörder im Gefängnis. Gegen andere lagen angeblich nicht vollstreckbare Haftbefehle vor, so zum Beispiel gegen den General von Lüttwitz. Der Zufall wollte es, daß ich zum „Austausch“ gegen diesen Mann vorgeschlagen wurde. Paul Levi der mich besuchte, fragte mich, ob ich mir eine so absurde Situation vorstellen konnte, gegen einen General ausgetauscht zu werden. Ich lehnte ab. Levi brachte meine Ablehnung im Ausschuß des Reichstages vor.

Der Fall des Generals Lüttwitz war eine typische und besonders krasse Verhöhnung der sozialdemokratischen Preußenregierung. Von General Lüttwitz hieß es offiziell, er lebe im Exil in Ungarn. Es war aber allgemein bekannt, daß Lüttwitz längst wieder aus Ungarn zurückgekehrt war und seelenruhig auf seinem Gut lebte. Levi hatte mir erzählt, daß sogar in den Wandelgängen des Reichstages darüber gesprochen werde und daß die Abgeordneten, je nach ihrer politischen Einstellung, darüber lachten oder sich empörten. Tatsächlich war es so, daß man den Kriminalbeamten, die zum Gut kamen, nach Lüttwitz zu fragen, jedesmal eine Postkarte aus Ungarn zeigte und sagte, daß der General nach wie vor in Ungarn sei. Später, nach seiner Amnestierung, wurde die Wahrheit erzählt. Lüttwitz selbst hatte von Zeit zu Zeit derartige ungarische Postkarten an seine Familie und an die Gutsverwaltung adressiert in Briefen nach Ungarn geschickt und sie dort in Postkästen werfen lassen. Entweder tanzte die politische Polizei des sozialdemokratischen Innenministers Severing ihrem obersten Chef auf der Nase herum oder Severing wußte von der Komödie. Die Amnestie wurde am 14. Juli 1928 verkündet. Der Reichstagsbeschluß wurde dem Gefängnisdirektor noch am Tage der Annahme übermittelt. Sein Stellvertreter kam sogleich zu uns Politischen, um uns mitzuteilen, daß wir nach Hause gehen könnten. Die Gefängnisverwaltung war sichtlich erleichtert, die politischen Gefangenen los zu sein. Die Fememörder kamen gleichzeitig mit uns frei.

 


Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023