Victor Serge

 

Brief an André Gide [1]

(Mai 1936)


Aus Victor Serge, Für eine Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Verlag Association, Hamburg 1975, S.128-31.
Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Brüssel, Mai 1936

Lieber André Gide,

Sie haben vor kurzem in Paris den Vorsitz eines internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur geführt. Die Frage der geistigen Freiheit in der UdSSR wurde dort erst auf meinen Vorschlag hin und, wie mir scheint, gegen den Willen der meisten Kongreßteilnehmer behandelt. Wie ich höre, haben Sie zur gleichen Zeit Schritte unternommen, um meine bei der Moskauer Zensur liegenden Manuskripte zu retten. Meine Manuskripte, die auch jetzt noch dort sind, ebenso wie meine persönlichen Papiere, all meine Erinnerungen, meine sämtlichen Entwürfe, alles was man so im Leben an wichtigen Papieren anhäuft ... Ich bin Ihnen dankbar für das, was Sie bisher für mich getan haben, ebenso für Ihre Objektivität gegenüber meinen Freunden, die mich verteidigten und denen man das Wort verweigerte.

Falls Sie mein persönlicher Fall interessiert, so finden Sie dazu einige Informationen in einem Brief an Magdaleine Paz. Eine Kopie dieses Briefes liegt bei. Im Übrigen bin ich stets bereit, mit Ihnen persönlich darüber zu reden. Es handelt sich jedoch eigentlich in diesem erregenden Geschehen, an dem wir teilnehmen, nur wenig um Sie und mich. Da Sie nun, André Gide, den Anspruch erheben, Revolutionär zu sein, erlauben Sie, daß ein Kommunist Ihnen in aller Offenheit sagt, in welchen übergeordneten Zusammenhängen wir stehen. Ich erinnere mich an Stellen in Ihrem Tagebuch, wo Sie 1932 aufzeichneten, wie Sie zum Kommunismus gestoßen sind, weil er freie Entfaltung der Persönlichkeit bedeutet. (Ich kann Ihre Gedanken nur der Erinnerung nach wiedergeben, da ich keines meiner Bücher mehr besitze und auch nicht die Zeit habe, die entsprechende Stelle wiederaufzusuchen.) Ich las diese Seiten in Moskau mit ziemlich gemischten Gefühlen.

Zum einen war ich glücklich, Ihre Annäherung an den Sozialismus festzustellen, da ich Ihre geistige Entwicklung – wenn auch von weitem – seit den Begeisterungsstürmen meiner Jugend verfolgt hatte. Zum anderen aber war ich traurig über den Widerspruch zwischen Ihren Aussagen und der Wirklichkeit, in der ich mich fand. Ich stieß auf Ihr Tagebuch zu einer Zeit, in der niemand in meiner Umgebung gewagt hätte, ein Tagebuch zu führen, wohlwissend, daß die politische Polizei es mit Sicherheit eines nachts abgeholt hätte ... ich konnte nicht umhin, bei der Lektüre ähnliche Gefühle zu haben wie Soldaten, die im Schützengraben Zeitungen aus der Heimat erhalten und dort auf lyrische Prosa über den letzten Rechtsstreit stoßen.

Könnte es sein, frage ich mich, daß Sie nichts über unsere Kämpfe wüßten, nichts von der Tragödie einer von der Reaktion im Inneren verwüsteten Revolution? Schon damals konnte kein Arbeiter mehr seine Meinung äußern, egal was für eine und sei es geflüstert, ohne deswegen sofort aus Partei, Gewerkschaft und Betrieb rauszufliegen, oder eingesperrt und deportiert zu werden ... Und seitdem sind drei Jahre vergangen, was für drei Jahre! Drei Jahre im Zeichen der Blutbäder nach dem Tod Kirovs, im Zeichen der Massendeportation eines Teils der Leningrader Bevölkerung, der Einkerkerung mehrerer tausend Kommunisten der ersten Stunde, der Überfüllung der Konzentrationslager, die bestimmt die größten der Welt sind ...

Wenn ich Sie recht verstehe, lieber André Gide, bestand Ihr Mut immer darin, mit offenen Augen zu leben. Sie können sie nicht heute vor dieser Wirklichkeit schließen – oder Sie hätten nicht mehr das moralische Recht sich an die Arbeiter zu wenden, für die der Sozialismus viel mehr ist als ein bloßer Begriff: Eine Sache, für die sie mit Körper und Geist arbeiten, ja der Sinn ihres Lebens.

Die geistige Situation in der SU? Eine trockene Doktrin, ihres Inhalts gänzlich entleert und auf allen gebieten hart aufgezwungen; eine Doktrin, die in allem, was gedruckt wird, letztlich nichts anderes ist als die wörtliche Wiederholung oder die platteste Erläuterung der Worte eines einzigen Mannes. Die Geschichte wird jedes Jahr von Grund auf umgemodelt, die Enzyklopädien überarbeitet, die Bibliotheken gesäubert, und alles nur, um überall den Namen Trotzkis auszulöschen, um andere Genossen Lenins von der Bildfläche verschwinden zu lassen oder zu besudeln, um die Wissenschaft vor den Karren der Agitation des Augenblicks zu spannen, damit sie etwa gestern den Völkermord als Instrument des anglo-fronzösischen Imperialismus denunziere und ihn heute als Werkzeug des Friedens und des Fortschritts der Menschheit verehre!

Die Situation des Schriftstellers, das heißt letzten Endes desjenigen, der die Aufgabe hat, für viele andere zu sprechen, die stumm sind? Wir mußten zusehen, wie Gorki seine Erinnerungen an Lenin überarbeitete und zwar so, daß Lenin in der neuesten Ausgabe genau das Gegenteil von dem sagt, was an manchen Stellen der ersten seine Meinung ist ... Die Literatur wird selbst in ihren geringsten Äußerungen gegängelt, und es existiert eine literarische Führungsclique, die bewundernswert organisiert ist, fett bezahlt wird und, ganz wie es sich gehört, konformistisch denkt ... Und was ist aus den anderen geworden? Was aus Ivanov-Razumnfk, Autor einer Geschichte des zeitgenössischen russischen Denkens und intellektuell unserem großen Alexander Blok sehr nahestehend? Er war zur gleichen Zeit wie ich im Gefängnis, 1933. Ob es stimmt, wie viele behaupten, daß der alte symbolistische Dichter Vladimir Piast sich während der Deportation umgebracht hat? Sein Verbrechen war kein Geringes: Er tendierte zum Mystizismus. Nun was ist mit den Materialisten verschiedener Schattierungen: Was ist aus Hermann Sandormirski geworden, Autor anerkannter Werke über den italienischen Faschismus, der schon unter dem Zarismus zum Tode verurteilt worden war? In welcher Strafanstalt, wohin deportiert mag er sich befinden und warum? Wo ist Novomiski – auch er Zuchthäusler unter dem alten Regime – Initiator der ersten sowjetischen Enzyklopädie, kürzlich zu zehn Jahren KZ verurteilt – warum? Alle beide sind anarchistische Kämpfer. Können Sie ertragen, daß ich Ihnen auch Kommunisten nenne, Kämpfer der Oktoberrevolution, Intellektuelle von Format (ich leide selbst daran, sie nennen zu müssen): Anychew, dem wir den einzigen ehrlichen und klaren Versuch über die Geschichte des Bürgerkriegs verdanken, den es in Russisch gibt; Gorbatschow, Lelewitsch, Vardin, alle drei Literaturhistoriker und -kritiker. Die vier sinowjewscher Abweichungen verdächtigt. Konzentrationslager! Die folgenden sind Trotzkisten. Weil sie die Entschlossenheit waren, wurden sie am härtesten verfolgt. Sie sind seit acht Jahren eingekerkert oder deportiert: Fedor Dingelstedt, Professor der Agronomie in Leningrad; Gregory Jakowinow, Professor der Soziologie; unser junger und großer Sointzew starb im Januar an den Folgen eines Hungerstreiks. André Gide, ich beschränke mich darauf, Schriftsteller zu nennen, wo man mit den Namen von Helden eigentlich Seiten füllen müßte. Es trifft mich ein wenig, diese Konzession an den Kastengeist der Männer der Feder machen zu müssen, verzeihen Sie mir das bitte. Was ist aus dem vorbildlichen Basarov beworden, Pionier des russischen Sozialismus, seit fünf Jahren verschwunden? Was ist aus Rjasanov, den Gründer des Marx-Engels-Instituts geworden? Ob der Historiker Soukhanov, dem wir eine monumentale Geschichte der Februarrevolution 1917 verdanken nach seinen langen Kämpfen im Gefängnis von Verkhnéouralsk tot ist oder noch lebt? Welchen Preis er wohl dafür zahlt, daß er sein Gewissen verriet? Denn das verlangte man von ihm, und er war schwach genug, nachzugeben.

Und die allgemeinen Lebensbedingungen? Sie sind sicherlich auch der Meinung, daß es so nicht weitergehen kann. Keine innere Gefahr rechtfertigt diese wahnsinnige Repression, es sei denn, eine, die im Finstern eigens für den Staatssicherheitsdienst erfunden worden wäre. Ja, man kann sogar feststellen, daß dieser phantastische Polizeiapparat eine solche Eigendynamik entwickelt, daß er nicht nur ständig neue Opfer schafft, sondern dadurch auch die sowjetischen Straflager zu wahren Schulen der Konterrevolution macht, wo die Bürger von gestern zu Feinden von morgen werden. Es gibt dafür nur eine Erklärung, daß nämlich die herrschende Bürokratie in ihrer Gewöhnung an die Ausübung absoluter Macht über rechtlose Massen und aus Angst vor den Konsequenzen ihrer eigenen Politik die Kontrolle über sich selbst verloren hat. Man müßte an dieser Stelle auch über das Problem der im allgemeinen extrem gesunkenen real Löhne reden; über den skandalösen Eingriff in die Arbeiterrechte per Gesetzgebung, über das System der Vergabe von Inlandspässen, das der Bevölkerung ihr Recht nimmt, sich frei zu bewegen; über die Sondergesetze, die Arbeiter und selbst Kinder mit der Todesstrafe bedrohen; über das System der Geiselnahme, das unerbittlich eine ganze Familie für den Fehler eines Einzelnen bestraft; über das Gesetz, das den Arbeiter mit dem Tode bestraft, der versucht, die Grenze der UdSSR ohne Paß zu überschreiten (wie sie wissen, bekommt er keinen Paß für das Ausland) und das die Deportation all seiner Angehörigen anordnet.

Wir bekämpfen den Faschismus. Wie aber können wir ihm mit so vielen Konzentrationslagern im Rücken den Weg verstellen? Die Aufgabe ist nicht mehr einfach, wie Sie sehen. Niemand hat mehr das Recht, sie zu vereinfachen. Kein neuer Konformismus, keine heilige Lüge könnte das Schwärzen dieser Wunden verhindern. Die Revolution wird nicht mehr ausschließlich an der Weichsel und der mandschurischen Grenze verteidigt. Die Aufgabe, die Revolution nach innen gegen das reaktionäre Regime zu verteidigen, das sich im Arbeiterstaat breitgemacht hat und die Arbeiterklasse nach und nach um den größten Teil ihrer Eroberungen prellt, drängt nicht weniger. Nur in einem einzigen Sinne bleibt die UdSSR die größte Hoffnung der Menschen unserer Zeit: und zwar weil das russische Proletariat noch nicht sein letztes Wort gesprochen hat.

Vielleicht, lieber André Gide, macht Ihnen dieser bittere Brief etwas klar. Ich hoffe es. Ich beschwöre Sie, die Augen nicht zu verschließen. Schauen Sie hinter die neuen Marschallsuniformen, hinter die gekonnte und aufwendige Propaganda, die Paraden, die Aufmärsche, die Kongresse – wie alt, wie der alten Welt verhaftet das alles doch ist! – schauen Sie dahinter und sehen Sie die Realität einer Revolution, die in ihrem Lebensnerv bedroht ist, einer Revolution, die unser aller Hilfe braucht. Sie müssen mir zugeben, daß man ihr keinen Gefallen dadurch erweist, daß man ihr Leiden verschweigt, oder sein Gesicht verhüllt, um es nicht zu sehen.

Kein Besserer denn Sie repräsentiert die große abendländische Intelligenz, die, wenn sie auch viel für die Zivilisation getan hat, sich doch viel vom Proletariat verzeihen lassen muß, verzeihen lassen muß dafür, daß sie nicht verstanden hat, was der Krieg 1914 wirklich war, daß sie die große Bedeutung der Russischen Revolution zu Beginn verkannt hat, daß sie die Freiheiten der Arbeiter nicht genügend verteidigt hat. Jetzt, da sie sich schließlich der sozialistischen Revolution, verkörpert durch die UdSSR, mit Sympathie zuwendet, muß sie sich in ihrem tiefsten Innern entscheiden, für Blindheit oder Klarsicht. Lassen Sie mich Ihnen sagen, daß man der Arbeiterklasse und der UdSSR nur mit völliger Klarsicht nutzen kann. Im Namen aller, die dort allen erforderlichen Mut haben, lassen Sie mich Sie bitten, den Mut zu dieser Klarheit zu haben.

Ihr brüderlich ergebener

Victor Serge

 

 

Anmerkung des Verlags

1. André Gide sympathisierte schon vor den Volksfrontbemühungen der französischen KP mit dem Kommunismus. Doch erst die Gefahr des sich ausbreitenden Faschismus führte ihn schließlich ganz zum Kommunismus. Im Gegensatz zu anderen französischen Schriftstellern (auf bürgerlicher Seite z.B. Romain Rolland und auf sozialistischer Louis Aragon) setzte sich Gide auch als Kommunist für verfolgte Oppositionelle ein. Sein Ansehen als weltberühmter Schriftsteller machte seine Bemühungen von Zeit zu Zeit sogar erfolgreich, so auch im Falle Serge. Auf diese Umstände ist auch der freundliche Ton Serges zurückzuführen. Vielleicht haben die in diesem Brief enthaltenen Aufforderungen Serges Gide beeinflußt; wir wissen es nicht. Sicher ist jedenfalls, daß Gide 1936 als Gast des sowjetischen Schriftstellerverbandes in die UdSSR fuhr und daß er von dieser Reise total desillusioniert zurückkehrte. Was bei anderen – bürgerlichen und kommunistischen Schriftstellern – so unfehlbar wirkte, die bevorzugte Behandlung, die Abschirmung vor dem täglichen Leben der Sowjetbevölkerung, die Vorführung von Musterfabriken und -gütern, die Zurschaustellung des Wohllebens der sowjetischen Intellektuellen, stieß Gide nur ab. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er sein Buch Retour de l’URSS (Zurück aus der Sowjetunion), daß lediglich phänomenologisch die Bruchstellen zum offiziellen Propagandabild aufzeigte. Die hysterische Reaktion der offiziellen sowjetischen und der mit ihr sympathisierenden Presse veranlaßte Gide dann, seinem Buch einen Artikel Retouches a mon retour de l’USSR (Retuschen zu meinem Rußlandbuch, dt. in: A. Gide, Reisen, Stuttgart 1966, S.413-415) hinzuzufügen. Nun galt er endgültig als verabscheuenswürdiger Konterrevolutionär und faschistischer Speichellecker. (Einen hervorragenden Aufsatz zum Problem des Revolutionstourismus liefert H.M. Enzensberger in: Kursbuch 30, Wagenbach Berlin 1973. S.155-181)

 


Zuletzt aktualiziert am 22.10.2004