Victor Serge

 

Die sechzehn Erschossenen

 

III
Die Zeit der Verachtung

Brief an Magdaleine Paz

Brüssel, Mai 1936

Liebe Magdeleine Paz, liebe Freunde.

Die Jahre meiner Gefangenschaft in der UdSSR sind beendet. Ich verdanke es Euch. Meine Gefangenschaft begann 1928 unmittelbar nach meinem Ausschluß aus der russischen kommunistischen Partei mit der Verweigerung von Pässen für das Ausland, literarischem Boykott und verschiedensten quälenden Formen der Verfolgung. Eure Hilfsaktion setzte damals ein und wurde während meiner Verhaftung und Deportation zu einem tagtäglichen, beinahe physischen Kampf, ich weiß es, wie damals, als ihr Euer Wort au< einem Schriftstellerkongreß fordern mußtet, der sich versammelt hatte, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen (wahrscheinlich überall, nur nicht im Land der pervertierten Revolution ...). Unsere alte Freundschaft, die durch 15 Jahre langes Zusammenhalten während aller Krisen der Revolution in Rußland und Europa zementiert worden ist, konnte dank Eurer Hilfe die revolutionäre Solidarität erfolgreich mobilisieren.

Seit 10 Jahren habe ich viel Traurigkeit gesehen und erlebt; ich habe gesehen, wie die Oktoberkämpfer unter der Gewalt und Repression schwach wurden, wie sie ihre Hellsichtigkeit in der Unterdrückung verloren, wie sie sich zu Widerrufen hergaben, um dahinzuvegetiercn; ich habe gesehen, wie junge Kommunisten in der UdSSR erschossen wurden; ich habe gesehen, wie die große Partei Lenins zu dem wurde, was sie heute ist – ein mächtiger Regierungsapparat, begründet auf Privilegien und passivem Gehorsam; ich habe das Elend des Volkes erlebt, das seit einem halben Jahrhundert das meiste für die Befreiung der Menschen getan hat. Eine bittere Erfahrung, die mich weit von den Marktschreiern entfernt. Ich habe oft an Euch gedacht, voller Hoffnung, denn meine einzigen Aussichten auf Rettung beruhten auf Eurem Handeln. Das Regime läßt niemals einen Opponenten frei. Für den oppositionellen Kommunisten, für den freien Schriftsteller, für den lästigen Zeugen, der ich bin, wie für alle sozialistischen, anarchistischen, syndikalistischen, linkskommunistischen, trotzkistischen oder sonstigen Opponenten gibt es in der UdSSR weder Amnestie, noch Freilassung, noch die Möglichkeit, auf irgendeine Art zu leben, niemals. Konzentrationslager, Gefängnis, Deportationen, Sonderpässe, die strengste Überwachung und Aufenthaltsverbot bedeuten, wechseln in ihrem Leben ständig ab. Was mich betrifft, so sagte man mir, daß ich lange Zuchthausstrafen zu erwarten hätte ... Aber ich wußte, daß Ihr lebt, daß Ihr handelt; ich wußte es, auch als das schwarze Kabinett meinen gesamten Brief verkehr abschnitt und meine Isolierung absolut war. (Die Zensur ging soweit, mir die Humanité [1] zu verbieten ...)

Ich hoffte auf Euch, um wieder ein Lebender zu werden, das heißt natürlich auf meine An, also ein Kämpfer. Ich war sogar mit ganzem Herzen bereit, in diesem finsteren Kampf zu unterliegen, denn ich wußte, Ihr würdet nicht zulassen, daß es umsonst wäre. Der Revolutionär fragt nicht danach; da er leben und ausharren will, nimmt er die notwendige Gefahr hin. Bei all dem messe ich mir nur insofern eine Bedeutung bei, als ich – durch die Macht der Umstände – ein Prinzip und eine Minderheit vertrete: das Recht, in der Revolution zu denken und die Minderheit, die dieses Recht durchsetzt. Um welchen Preis!

Meine Befreiung erscheint mir wie ein Erfolg der Arbeitersolidarität, herbeigeführt durch Eure unnachgiebigen Bemühungen. Von allen – und alle wissen, daß ich dabei keinen einzigen vergesse – will ich hier einige Menschen und Kampfgruppen erwähnen: Jacques Mesnil, mit dem ich in Moskau seit 1921 gewisse Befürchtungen teilte, Marcel Martinet, der Verfasser von La Nuit so stark und hellsichtig auf seinem Krankenlager, so zuverlässig als Freund, so zuverlässig als Kämpfer; die Genossen von der Einheitsföderation für das Unterrichtswesen; die Genossen von der Révolution Prolétarienne, von den Humbles, der Verité, der Critique Sociale, dem Combat Marxiste; die um de Poulaille gruppierten proletarischen Schriftsteller ... Ich bin stolz darauf, die Unterstützung dieser in vielerlei Hinsicht unterschiedlichen Kameraden verdient zu haben, die zusammen alle Nuancen des revolutionären Geistes von heute widerspiegeln.

Es handelt sich hier, unter uns, nicht um Dankesworte, nicht einmal um Dankbarkeit, sondern um eine Tatsache, die in ihrer Konsequenz in anderer Weise tiefgreifend und ernsthaft ist, die Solidarität. Wir alle stehen dem Faschismus gegenüber, und wir haben eine Revolution hinter uns, die einer schrecklichen Reaktion im Inneren preisgegeben ist. Viele von uns leben zwischen zwei Strafverfolgungen. Ein eklatantes Beispiel bieten jene italienischen Genossen, die die UdSSR nur unter der Bedingung ausreisen läßt, daß sie sich in Odessa nach Italien einschiffen ... Schließen wir uns also eng zusammen. Seien wir Brüder, auch wenn wir verschiedenen Strömungen angehören. Solidarität vor allem.

Ist es notwendig, daß ich hier auf meinen persönlichen Fall zurückkomme? So wenig wie möglich. (Es sei denn, daß jemand darüber diskutieren will; dann stehe ich ihm voll zur Verfügung ...) Ihr habt darüber bereits alles gesagt, was es zu sagen gab; Jacques Mesnil hat in der R.P. [2] einen äußerst exakten Bericht geschrieben. Einige gewissermaßen professionelle Lügner haben so sehr gelogen, daß sie sich schließlich selber Lügen straffen ... Das ist die Verachtung. Vielseitig ist die Zeit der Verachtung; Malraux weiß vielleicht nicht, wie vielseitig sie ist. Kurz gesagt, wenn es eine sowjetische Gesetzmäßigkeit gäbe, hätte ich betonen können, daß ich ohne Haftbefehl verhaftet, ohne genaue Anklagen in Einzelhaft gesteckt, über meine Ideen, meine Bücher, meine Verbindungen ausgefragt und ohne genau zu wissen, warum, deportiert wurde. Aber ich hielt es für völlig vergeblich, mich zu erkundigen oder Berufung einzulegen ... bei wem? Es gibt nur ein sehr wichtiges Detail, das ich Euch mitteilen muß, weil ein Leben davon abhängt. Man legte mir schließlich eine Fälschung vor, aber eine himmelschreiende Fälschung, ohne Zweifel, unterschrieben (so schien es) von meiner Schwägerin und Sekretärin Anita Russakowa. Als ich zornig wurde, zog man sie zurück, und diese junge Frau wurde in Freiheit gesetzt. Aber als im letzten Dezember meint Abreise ins Ausland und folglich meine Durchfahrt durch Moskau bevorstanden, wurde sie von neuem verhaftet und nach dreimonatigen geheimen Ermittlungen für 5 Jahre nach Wjatka deportiert. Eine kleine, völlig unpolitische Angestellte von scheuem, ängstlichem Wesen. Das Spiel ist häßlich und leicht durchschaubar: es durfte nicht sein, daß ich sie in Moskau traf und die Hintergründe des mißlungenen Schlages, den man gegen mich verübt hatte, aufdeckte. Die Inquisitoren, die trotz allein zur Verantwortung über ihre Methoden herangezogen werden können – vor allem, wenn sie mißlingen – verteidigen ihre Karriere.

In der Deportation war ich wie mehrere tausend andere jeder Arbeitsmöglichkeiten beraubt ... Ich schrieb. Zensur und Post ließen alle Manuskripte, die ich ihnen anvertraute, verschwinden. Ich habe in Orenburg zwei Bücher geschrieben, ein Zeugnis (Les hommes perdusVerlorene Menschen) und ein Roman (La tourmenteDer Orkan), die Fortsetzung von Ville conquise (Eroberte Stadt) sowie einige Gedichte. Alle meine Manuskripte mitsamt allen meinen Dokumenten und persönlichen Erinnerungen liegen noch unbefördert in der Moskauer Zensurstelle.

Ich will nun von den anderen sprechen. Der Gedanke, daß die Solidarität der Schriftsteller mir so sehr geholfen hat und den anderen nicht helfen kann, ist demütigend für mich. Die anderen, das sind große und kleine Revolutionäre ohne Tintenfaß ... Von ihnen wollen die Schriftstellerkongresse vielleicht nichts hören. Die anderen sind zu Tausenden und Abertausenden. Jeder, der anders, als es die führende Bürokratie will, denkt oder vor 10 Jahren dachte, ist heute in einer Strafanstalt. Ich übertreibe nicht, ich wäge jedes Wort ab, ich kann jedes Wort durch tragische Beweise und mit Namen untermauern.

Von dieser Masse von Opfern und Opponenten, die meisten schweigend, ist mir eine heldenhafte Minderheit besonders nahe; sie zeichnet sich aus durch ihre Energie, ihre Hellsicht, ihre Unerschütterlichkeit, ihre Verbundenheit mit dem Bolschewismus der großen Epoche. Es sind einige tausend, Kommunisten der ersten Stunde, Kameraden Lenins und Trotzkis, Erbauer der Sowjetrepubliken, als es noch Sowjets gab, die die Grundsätze des Sozialismus gegen den inneren Verfall des Regimes heraufbeschwören, die die Rechte der Arbeiterklasse verteidigen so gut sie können (und heute können sie nur noch alle Opfer auf sich nehmen).

Ich überschritt die Grenze unter dem quälenden Eindruck des Todes einer der begabtesten unter meinen Kameraden der russischen kommunistischen Opposition, Ssolznew; Seine Überzeugungen hatten ihm zunächst drei Jahre Gefängnis eingebracht; dann verlängerte man die Haft um zwei Jahre (denn man hat das erfunden: verlängern!) 1934 freigelassen und natürlich in einen verlorenen Winkel Westsibieriens deportiert, wo es ihm unmöglich war, Arbeit zu finden. Nach einigen Monaten ohne einleuchtenden Grund wieder verhaftet (aber über genaue Gründe nachzudenken, ist absurd und sogar ein wenig lächerlich), wiederum mit sinnlosen 5 Jahren Zuchthaus bestraft. Er weigert sich und tritt in einen tödlichen Hungerstreik. Am 18. Tag seines allmählichen. Selbstmordes hat er das Glück, wiederum deportiert zu werden, diesmal in die Nähe seiner Frau und seines Kindes, ebenfalls deportiert, das versteht sich von selbst. Er fährt los und stirbt unterwegs. (Zu einer Zeit, wo die ganze sowjetische Presse eine Rede Stalins kommentiert und eine neue Wende zum Humanismus ankündigt ...) Lang und vielseitig ist die Zeit der Verachtung!

Denken wir an sie, an die Lebenden und die Toten. Die Arbeiterklasse des Westens darf sie nicht aufgeben. Die Intellektuellen haben kein Recht, sie zu ignorieren. Es gibt niemanden, der mehr für die Revolution getan hat, der sich ihr vollständiger geopfert hat. Indem das bürokratische Regime ihnen das Recht zu leben aberkennt, tritt es die Grundsätze der Oktoberrevolution mit Füßen. Die Partei Lenins hat die Diktatur des Proletariats niemals anders verstanden als die Demokratie der Arbeiter. Diktatur, um den Widerstand der enteigneten Klassen zu brechen, Demokratie, um das neue Bewußtsein der befreiten Klassen zu entwickeln, um den Sozialismus aufzubauen, um das neue Haus ständig zu lüften ... Was bleibt übrig von der Oktoberrevolution, wenn jeder Arbeiter, der es wagt, eine Forderung zu stellen oder ein kritisches Urteil abzugeben, mit Gefängnis bestraft wird?

Ah, dann kann man gut irgendwelche geheimen Abstimmungen einführen!

Liebe Freunde, ich will nicht polemisieren. Ich überbringe Euch die Botschaft derer, die dort eingesperrt sind. Sie werden durchhalten, so lange es sein muß, bis zum Ende, selbst wenn sie die neue Morgenröte über der Revolution nicht aufgehen sehen können. Sie wissen, daß sie wenig Chancen haben, sie zu sehen ... Sie grüßen Euch brüderlich. Die Revolutionäre des Westens können auf sie zählen: die Flamme wird hochgehalten, wenn auch nur in den Gefängnissen. Sie zählen auch auf Euch. Ihr müßt, wir müssen sie verteidigen, um die Arbeiterdemokratie in der Welt zu verteidigen, um der Diktatur des Proletariats ihr befreiendes Antlitz wiederzugeben, um der UdSSR eines Tages ihre moralische Größe und das Vertrauen der Arbeiter wiederzugeben, um den Sozialismus nicht im Dreck versinken zu lassen ...

Liebe Freunde und Kameraden, ich drücke Euch brüderlich die Hände. In Treue Euer V.S.

 

Anmerkungen

1. Tageszeitung der französischen KP. Anm. des Verlages.

2. Révolutlon Prolétarienne, franz. anarchosyndikalistische Zeitschrift, gegr. von Pierre Monatte. Anm. des Verlages.

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003