Victor Serge

 

Die sechzehn Erschossenen

 

IV
Die beiden Gesichter der Revolution

Die Revolutionäre sind deportiert oder verhaftet

Jeder, der sich für das Schicksal der Russischen Revolution interessiert, weiß heute, daß der Kommunismus gespalten ist. Die sowjetische Regierung hält seit 8 Jahren mehrere tausend Revolutionäre der ersten Stunde in ihren Gefängnissen. Der Organisator der Oktoberrevolution Trotzki hört nicht auf, aus seinem Exil heftige Anklagen an seine Nachfolger an der Macht zu richten, auf die man sich zu antworten hütet. Während die III. Internationale ihr früheres Programm aufgibt und sich dem Block der Linken, der nationalen Verteidigung im kapitalistischen Regime, der Verteidigung des Versailler Vertrages anschließt, propagiert er ein neues Bündnis der Revolutionäre in einer IV. Internationale. Stalin hingegen leitet den Aufbau des „Sozialismus in einem Land“, verteilt Titel und Orden, kündigt eine neue sowjetische Verfassung an, die zugleich dem Geschmack der westlichen Bourgeoisie und der Achtung vor der menschlichen Person besser gerecht wird ... Was wird bei all dem aus dem großen schweigenden Schläfer, dem russischen Proletariat? Die Sprecher des offiziellen Kommunismus behaupten, es sei „glücklich über seine zahlreichen begeisterten Erfolge unter der Führung des genialen Chefs ...“ Die Sprecher des verfolgten Kommunismus offenbaren uns, daß es schlecht gekleidet, schlecht untergebracht, schlecht ernährt und jeder Freiheit beraubt ist ... Weder die optimistischen Statistiken noch die Berichte der Touristen, die Eurasien im Schlafwagen durcheilen, können die schrecklichen Proteste aus den Gefängnissen und Elendsquartieren übertönen.

Ich hoffe, daß ich mit diesen Worten einige aufgeschlossene Menschen aufrütteln kann. Nichts zu machen, es muß sein. Die Unruhe soll Euch noch einmal vor der Verblendung bewahren und zwingen, zwischen dein leichten und dem schwierigen Weg zu wählen. Seit 10 Jahren kenne ich die Intellektuellen des Westens nicht mehr. Ich erinnere mich an ihre Angst vor der Enteignung der Reichtümer, den zerlumpten Armeen, der Eroberung der Macht durch eine ungebildete Klasse, der Erschießung der Großfürsten, der Bankiers, der Herren, der Meister der Schwerindustrie ... Ich habe das seltsame Gefühl dieselben Menschen heute mit einer anderen Binde vor den Augen vorzufinden. Es gefällt ihnen wieder einmal, die Mächtigen, eine Macht anzubeten, wobei sie hoffen, ein wenig und sei es nur durch ihre Zustimmung, mit geringen Kosten, wenn nicht sogar mit Profit zum revolutionären Werk beizutragen. Suchen sie in diesem Unwetter mehr als ihren eigenen Frieden? Diejenigen, auf die man zählen kann und wird, erstreben sicherlich weder neue soziale Vorteile noch neue aufheiternde Illusionen. Sie müssen die Wahrheit suchen, die zwei Gesichter der Revolution entdecken. 500.000 Arbeiter defilieren auf dem Roten Platz vor dem Leninmausoleum. Die Militärattachés mehrerer Nationen, Faschisten und andere, salutieren vor den roten Fahnen. Besichtigt die riesigen Fabriken, in 4 statt 5 Jahren von den Arbeitsbrigaden erbaut: Dnjeprostroj, Magnitogorsk, Traktorstoj; Kanäle, die Meere oder Flüsse miteinander verbinden (von den Strafgefangenen ausgegraben). Besichtigt eine aus dem Nichts geschaffene Automobilindustrie, eine Luftfahrt und eine motorisierte Artillerie, ebenso schön wie die schönsten Todesmaschinen des Kapitalismus. Der Bergarbeiter Borissow, der sogar Alexis Stachanow schlägt, fördert an einem Arbeitstag 800 Tonnen Öl, achthundert statt sieben Tonnen. 110 mal mehr als die Norm. Eine mächtige, stabile Regierung. Ein totalitärer Staat ohne Schwäche, eine Mannschaft von Diktatoren, die jeden Tag von der Presse verherrlicht wird. „Du kamst, oh Stalin“, deklamiert ein turkmenischer Dichter, „und die Sonne ging über der traurigen Erde auf ...“ Lächelnde Fallschirmspringer posieren vor der Kamera. Athleten defilieren unter Spruchbändern, die die Freude, nach den Worten des Chefs zu leben, proklamieren. Gut.

Wie hoch sind die Löhne der Millionen Arbeiter? Im Durchschnitt 130 bis 170 Rubel monatlich für einen Arbeiter, 80 bis 120 Rubel für eine Arbeiterin, wobei die Kaufkraft des Rubel s etwa der des belgischen Franc oder der von 50 französischen Centimes entspricht. Wieviele Millionen Menschen leben in der Verbannung oder in Konzentrationslagern, zu Zwangsarbeiten verurteilt? Wieviele tausend Revolutionäre sind im Gefängnis?

Halten wir diesen ersten Gegensatz fest.

Wenn wir von den Tatsachen der öffentlichen Versorgung zur Betrachtung des Regimes übergehen, erkennen wir einen weiteren, vielleicht noch schwerwiegenderen, weil tieferliegenden und weniger an äußere Notwendigkeiten gebundenen brutalen Gegensatz. In seinen Fragen des Leninismus (Gespräch mit einer amerikanischen Delegation) hebt Stalin hervor, daß die Diktatur des Proletariats in der UdSSR die größte Arbeiterdemokratie verwirklicht: 90 Millionen Wähler im Jahre 1928, wenn ich mich recht entsinne. Wozu dieses Wortspiel? Wer soll getäuscht werden? Entweder bedeutet das Wort demokratisch überhaupt nichts, oder aber es impliziert die Meinungsfreiheit. Entweder ist die Abstimmung nichts als eine leere Fassade, oder aber sie impliziert das Recht, gegen jemanden zu stimmen ... Anderes Beispiel aus dem Jahr 1935. Die Presse kündigt eine Wende zum Humanismus an. Wir müssen an den Menschen denken, sagt der Chef, und er schließt mit den Worten: „Die Kader entscheiden alles, kontrollieren wir die Kader ...“ Sofort wurden rote Transparente über den Straßen aufgehängt: Kontrollieren wir die Kader ... Genau zu diesem Zeitpunkt erlebe ich, wie Ingenieure, Architekten, Ärzte, Piloten, Schiffsbauer, Physiker, Chemiker, Künstler aus Leningrad „verdächtig“ genannt und zu Tausenden in die Gebiete der Wolga und nach Zentralasien deportiert werden ... ist das nicht Zynismus und Grausamkeit? Der Diktator ist weder so betrügerisch, noch ist er sich dessen, was er macht, so bewußt, noch ist er so mächtig. Diese Widersprüche zeigen im Regime mehr als eine gewisse Geringschätzung des Menschen und der Massen, denen man ungestraft ins Gesicht lügen kann; sie beruhen zum Teil auf der Überzeugung, daß man sie zu ihrem Besten belügen muß.

Unnötig, lang und breit auf die Texte und Fakten einzugehen. Beide sind vorn selben Geist beseelt. Die Konzeption, die sich daraus ableitet, kann so definiert werden: Produktion ist das Wichtigste, das Interesse der Produktion hat vorrangig vor dem der Produzenten und steht über allen Erwägungen der Humanität. Um die Produktion nach einem einheitlichen Plan zu steuern und das Proletariat auf menschliches Material zu reduzieren, was dieses nicht freiwillig akzeptieren würde, ist eine sehr starke Macht notwendig, die bei der Wahl ihrer Methoden frei von Skrupeln ist. Der Zweck heiligt die Mittel. „Wir erstreben die Abschaffung dies Staates durch die Festigung des Staates“, proklamieren Stalin und sein Ideologe Stetski. Es ist nicht mehr die Rede von der Staatskommune, von der Räterepublik der Arbeiter und Bauern ohne vom Volk getrennte Armee, Polizei und Bürokratie (Lenin). „Wir allein können diese starke Macht im Interesse des Sozialismus ausüben.“ Mit dieser Argumentation setzt die führende Kaste ihre eigenen Interessen mit den höherstehenden Interessen der Revolution gleich. Dies ist zugleich ein Zeichen ihres Mißtrauens und ihrer Verachtung gegenüber den werktätigen Klassen, die als unfähig betrachtet werden, sich selbst zu führen, und ein ziemlich klares Bewußtsein von dem Gefühl, das diese Klassen gegenüber den Emporkömmlingen hegen. Diese starke Macht formuliert die These vom Sozialismus in einem Land, die für die Bourgeoisie beruhigend ist Sie hält es für besser, sich mit den trotz allem stabilen kapitalistischen Regierungen zu verbünden, als die aktive Sympathie der Arbeiterklassen zu gewinnen. Beitritt der UdSSR zum Völkerbund. Eintritt der UdSSR in das diplomatische und militärische Spiel der alten Mächte, Aufgabe des revolutionären Internationalismus. Das hängt alles zusammen.

Wir stehen einer sozialistischen Politik gegenüber, die kapitalistische Denk- und Handelsweisen in ihrer letzten Konsequenz hervorbringt und damit ihre antisozialistische Natur offenbart. Während der Sozialismus die Abschaffung der Ausbeutung dies Menschen durch den Menschen erstrebt, behält sie diese Ausbeutung zu Gunsten der Gemeinschaft bei, die im übrigen von Privilegierten repräsentiert wird. Anstatt auf die Abschaffung des alten Staates hinzuarbeiten, der im wesentlichen ein durch herkömmliche Lügen zementierter Polizeiapparat ist, baut sie ihn auf totalitärer Basis wieder auf. Anstatt das Nationalbewußtsein abzubauen, kristallisiert sie es in einem sogenannten autarken System. Anstatt den durch die Revolution befreiten Menschen zu einer neuen Würde zu erheben, verweigert sie ihm sogar die dürftigen Freiheiten, die ihm die bürgerliche Gesellschaft gewährt, solange sie sich nicht zu bedroht fühlt. Anstatt die Trennung zwischen Handeln und Denken, die Trennung des Menschen von sich selbst (Marx) aufzuheben, führt sie neue Heucheleien ein, so daß das Wort nur noch zur Verschleierung der Gedanken bestimmt zu sein scheint.

Dieser Sozialismus der Emporkömmlinge erlangt seine Erfolge nur aufgrund der Negation des anderen, der Negation des Sozialismus der Arbeiter, für die die Oktoberrevolution 1917 der erste dauerhafte Sieg in der Welt war. Er behält scheinbar deren Flaggen, Embleme, Namen, Texte bei, was ihn oft in krassen Widerspruch zu sich selbst stellt; aber nicht ohne sie in hinterhältiger und hartnäckiger Arbeit zu entstellen, vor allem auf geistigem Gebiet. Der Marxismus hat in den letzten 10 Jahren eine vollständige Umwandlung erlebt: man mußte den Ideen von früher einen völlig anderen Sinn geben als den, den sie in Wirklichkeit hatten. Die erste Ausgabe von Lenins Werken mußte aus dem Verkehr gezogen werden sowie mehrere Bände der sowjetischen Enzyklopädien. Die Geschichte des Weltkrieges kann heute, nach der französisch-sowjetischen Annäherung, nicht mehr so geschrieben werden wie zu der Zeit, als die UdSSR sich weigerte, den Versailler Vertrag anzuerkennen. Mehrere geschichtliche Werke über die Partei sind erschienen und wurden regelmäßig umgearbeitet, um der Geschichte Gewalt anzutun, Die Geschichte des Bürgerkrieges wurde gründlich umgearbeitet, um Trotzkis Name überall durch Stalins zu ersetzen, der zu der Zeit fast unbekannt war. Und um endgültig mit der großen revolutionären Tradition zu brechen, schleudert Stalin dem amerikanischen Journalisten Howard die folgenden Antworten entgegen:

Howard: Bedeutet ihre Erklärung, daß die UdSSR in gewissem Maße ihre Pläne einer Weltrevolution aufgibt?

Stalin: Wir haben niemals solche Pläne verfolgt.

Howard: Es scheint mir, Herr Stalin, daß die ganze Welt ziemlich lange einen ganz anderen Eindruck hatte.

Stalin: Das war ein Mißverständnis.

Howard: Ein tragisches Mißverständnis.

Stalin: Nein, ein komisches oder eher tragikomisches.

Die Tragödie der Weltrevolution sollte mit einer Farce beendet werden? Die Gewohnheit, ungestraft zu lügen und die Notwendigkeit, enorm zu lügen führen den Chef der Kommunistischen Partei und der III. Internationale hier in eine Sackgasse. Was? Die Rätebewegung in Ungarn und Bayern soll ein tragikomisches Mißverständnis gewesen sein? Die Aufstände in Deutschland? Der Marsch der Roten Armee auf Warschau im Jahre 1920? Die Mobilisierung der russischen Partei zur Unterstützung der deutschen Revolution, die man gekommen glaubte (1923)? Die ruhmreiche Rolle der russischen Kommunisten in der chinesischen Revolution (1927)? Der siegreiche Marsch der Kuomintang-Arrnee von Kanton nach Schanghai, in Wirklichkeit von Blücher geführt, der heute sowjetischer Marschall ist?

In der internationalen Politik wie in der Innenpolitik sind die beiden Konzeptionen absolut unvereinbar. Man muß den proletarischen Sozialismus vollständig verleugnen, um den bürokratischen Sozialismus durchzusetzen. Der Bolschewismus der großen Jahre war in aufrichtiger, aktiver Weise internationalistisch. Er verstand sich als natürlicher Verbündeter aller Arbeiter im Kampf gegen alle Bourgeoisien. Er versuchte mutig, die Versprechen des Sozialismus zu halten, die so oft vergessen und verraten wurden. Er vereinigte in diesem Sinn Denken und Handeln, Theorie und Praxis. Er verwirklichte ohne Polizeiapparat, sondern durch tiefgreifende Absprachen der Interessen und Bestrebungen die Einheit der Organisierten und der Massen. Er stellte eine starke Macht dar, aber stark durch die Zustimmung der Massen. Seine Chefs waren keineswegs „Führer“, sondern große Kämpfer, die von den anderen wie Ältere angesehen wurden. Ihr Bemühen war es, der Revolution ihre volle Bedeutung zu geben. Welcher Art auch die Maßnahmen waren, die die Umstände zum Wohle der Allgemeinheit vorschrieben, ihre Politik erweckte stets den Eindruck einer ungeheuren Aufrichtigkeit. Sie betrogen niemanden. Sie prellten niemanden: die Macht dar Revolution beruhte auf ihrer moralischen Einheit.

Der Einwand, daß dies eben die heldenhaften Zeiten waren, hält nicht stand.

Er verwechselt Ursache und Wirkung. Und daß man es mir ja nicht zum Vorwurf macht, daß ich den moralischen Faktor an die erste Stelle setze.

Er steht immer an erster Stelle, in allen großen Stunden der Geschichte, und er ist lediglich der Ausdruck eines Zustandes bestimmter sozialer Klassen in jenem Augenblick ihres Lebens. „Die politische Moral“, schreibt Trotzki, „ergibt sich aus der Politik selbst. Nur eine Politik, die im Dienste einer großen historischen Aufgabe steht, ist imstande, sich moralisch einwandfreie Methoden ihres Handelns zu sichern. [1] Die beiden Gesichter der Revolution entsprechen in Wirklichkeit der Politik zweier verschiedener Klassen – oder zweier Unterklasssen (wobei dies keine absolut präzise Terminologie ist). Das aufrichtige, leidenschaftliche Gesicht ist das der Revolution, die von den Arbeitern für die Arbeiter gemacht wird. Sie erfüllen ihre Aufgabe im Einverständnis mit sich selbst. Sie können große Verantwortung, sogar die des Terrors übernehmen. Das verlogene Gesicht ist das der bürokratischen Reaktion, die sich im sozialistischen Regime eingenistet hast. Eine ganze soziale Schicht von Revolutionsgewinnlern ist entstanden; sie reicht vom kleinen, bereits gegenüber der allgemeinen Armut erheblich privilegierten Funktionären bis zu unabsetzbaren Führungscliquen. Die materielle Situation dieser Kaste steht zuweilen der der Mittel- und Großbourgeoisie der kapitalistischen Länder in nichts nach, während die materielle Situation der Mehrheit der Werktätigen schlechter ist als 1914 und 1925. Das verlogene Gesicht erreicht seine volle Größe mit der politischen Enteignung des russischen Proletariats. Die Eroberung des Sowjetstaates durch die (ursprüngliche Arbeiter-)Bürokratie beginnt um 1920, zu Lebzeiten Lenins, der die Gefahr deutlich erkannt und mehrmals vor ihr warnt; sie offenbart sich der Öffentlichkeit in den Jahren 1923-24 durch die Niederschlagung der demokratischen Tendenzen in der Partei; sie behauptet sich siegreich seit 1927/28 bis heute, indem sie alle Mittel der Strafverfolgung gegen die kommunistische Opposition anwendet, und erreicht schließlich ihren Höhepunkt mit der Verherrlichung des „genialen, geliebten Chefs“, des „Vaters des Vaterlandes“, des „Unfehlbaren Führers des Weltproletariats“, des „lebendigen Lenin“ ... (wörtlich, vgl. sowjetische Zeitungen und die Massenexekution der Kameraden Lenins).

Die russische Arbeiterklasse ging durch ihre Opfer physisch geschwächt aus dem Bürgerkrieg hervor. Von ihren besten Elementen sind die einen auf dem Schlachtfeld gefallen; die anderen, die die Kader des neuen Staates bilden, standen im Konflikt mit der Nachhut des Proletariats. Das Land war verarmt und verwüstet. Der Besitz einer passablen Unterkunft und einer einigermaßen ausreichenden Nahrungsration genügte, um die Emporkömmlinge von ihren ehemaligen Kameraden zu unterscheiden. Es fanden sich einige geschickte Leute an der Spitze dar Partei, die diese Entwicklung ausnutzten, ihre Macht auf einem neuen Strebertum errichteten und behaupteten, dies sei das geringste Übel, die vorgaben, die Revolution fortzuführen, mit einer Partei, der jeder geistige Inhalt fehlte und in der der Arbeiter nur noch ein stummer Statist war. Die Bürokratie stand in Widerspruch zu der Oktoberrevolution und zu den Interessen dies Proletariats, ja der ganzen Bevölkerung. Lebte sie nicht von deren Elend? Welchen Anteil des Volkseinkommen verschlingt sie? Sie mußte die alte Partei liquidieren durch die Ausschaltung jener Revolutionäre, die sich ihr nicht unterwarfen; sie mußte die Arbeiterklasse mundtot machen, weil ihre Politik keiner Kritik standgehalten hätte; schließlich mußte sie Terror gegen die Arbeiter und Bauern ausüben, da sie zum Scheitern verurteilt war aufgrund so grober Fehler wie die totale Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Im Ausland mußte sie angesichts der wachsenden Ablehnung von seiten der revolutionäre Kreise das Einverständnis von zumindest einem Teil der Bourgeoisie suchen.

Diese Entwicklung ist abgeschlossen. Heute wird die Tradition der Oktoberrevolution in der UdSSR nur noch in den Gefängnissen, in den Konzentrationslagern und in der Verbannung von einer zur völligen Ohnmacht verurteilten Minderheit vertreten, deren Existenz aber die Sicherheit und die Zukunft des Systems der Emporkömmlinge ständig in Frage stellt. Die Arbeiterklasse der UdSSR tritt nach der Überlastung durch die Erfüllung des ersten Fünfjahresplans und der durch die Hangersnot der Jahre 1931-34 verursachten physischen Erschöpfung in eine Phase der Wiedergewinnung ihrer Kräfte ein. Der Zustrom von Millionen von proletarisierten Bauern verringert vorübergehend die Stärke ihres Charakters und die Klarheit ihres Bewußtseins. Aber seit der Valorisation des Papierrubels durch das Brot (1935) läßt die Hungersnot nach. [2] Sie wird einige Jahre brauchen, um wieder eine Macht zu werden. Dann wird sich der Himmel wieder aufhellen und das wahre, das große Gesicht der Revolution zeigen.

Die neue sowjetische Verfassung, deren Text soeben veröffentlicht wurde, wird die abgeschlossene Entwicklung nur noch verankern, nämlich durch die Abschaffung des Sowjetsystems, so wie es von seinen Gründern konzipiert worden war. Die Stadtverwaltungen werden nur noch dem Namen nach Räte sein. Die neue Verfassung beruht auf folgenden krassen Widersprüchen: den vereinigten (um nicht zu sagen föderativen, denn das wäre zu ungenau) Republiken wird das Recht der Separation zuerkannt, jedoch jede Möglichkeit zum Gebrauch dieses Rechtes genommen, was aus der oberflächlichsten Analyse des Regierungsmechanismus zu schließen ist. Die Bürger werden Gewissens-, Rede- und Pressefreiheit genießen – wie in der Vergangenheit und der Gegenwart; denn die gegenwärtige Verfassung gewährt sie ihnen mit denselben Worten –; aber sie werden davon nicht mehr Gebrauch machen können als heute, da die Verfassung sogleich die Abschaffung der Meinungsfreiheit ankündigt. Sie erhebt tatsächlich die Parteidiktatur zum Prinzip.

Artikel 126 sagt: „Die aktitvsten und bewußtesten Bürger organisieren sich in der kommunistischen Partei ...“ Erinnern wir in diesem Punkt an Lenins Meinung: „Innerhalb der Räte kann der Machtkampf der Parteien friedlich verlaufen, wenn die Räte auf die Beschneidung der demokratischen Prinzipien verzichten...“ [3] Bei den Wahlen werden die Kandidaten von verschiedenen Organisationen wie Gewerkschaften, Genossenschaften, wissenschaftliche Vereinigungen vertreten, die in Wirklichkeit alle von der bürokratischen Partei geführt werden. Die Führer scheinen vom Wunsch geleitet zu sein, sich dem westlichen Geist anzupassen, und die sowjetischen Bürger werden vielleicht die Abschaffung der administrativen Sanktionen und die Unantastbarkeit der Wohnung erlangen; die Gläubigen ein wenig mehr Toleranz oder genauer ein bißchen weniger Intoleranz. Aber um darüber zu urteilen, müssen wir die Durchführung abwarten. Es ist weder die Rede von der Abschaffung des gemeinen Paßsystems im Inneren, noch von der Aufhebung der Gesetze, die die Todesstrafe gegen Arbeiter verhängen, die sich eines Diebstahls oder der Nachlässigkeit im Dienst schuldig gemacht haben. Das Briefgeheimnis wird wieder einmal garantiert, weil es die internationalen Postbestimmungen verlangen. Aber auch heute ist es de jure gesichert, was das schwarze Kabinett in keiner Weise daran hindert, alle oder fast alle Briefe der Bürger an das Ausland zu lesen und einen großen Teil davon zu stehlen. Und man muß darauf hinweisen, daß der Entwurf einer als liberal bezeichneten Verfassung mit der grausamsten Welle der Reaktion gegenüber der Arbeitermassen zusammenfällt.

(Juni-September 1936)

 

Anmerkungen

1. Trotzki, Mein Leben, Berlin 1930, S.474.

2. Als der Papierrubel aufgewertet und die Brotkarten abgeschafft wurden (1935), stellte der Rubel den Gegenwert für ein Kilo Schwarzbrot dar. – A.d.Ü.

3. Lenin, Sämtliche Werke, Berlin 1931, Bd.XXI, S.262.

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003