Victor Serge

 

Hat die UdSSR ein sozialistisches Regime?

(Juni 1947)


Masses [1], Juni 1947, Nr.9-10.
Victor Serge, Für die Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Hamburg 1975, S.5-22.
Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive. [1*]


Die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts hat sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht so große Siege errungen, daß sie glaubte, die „Rätsel der Natur“ großenteils gelöst zu haben. Dies traf jedoch nur bis zu einem gewissen grade zu ... Wenn der Mensch unserer Zeit aus den wissenschaftlichen Eroberungen des letzten halben Jahrhunderts eine Erkenntnis gewannen hat, dann vor allem die, daß die Realität unendlich vielschichtiger und dynamischer ist, als es zu Spencers, von Taines, Telmholtz’, Karl Marx und Kropotkins Zeiten den Anschein hatte.

Von der naiven atomistischen Anschauung des vergangenen Jahrhunderts bleibt lediglich ein sogar von der Volksschule verschmähtes Schema übrig. Die Kernphysik stellt schwindelerregende Hypothesen über den Aufbau des Universums auf, die für den Durchschnittsmenschen kaum noch verständlich sind. Die moderne Psychologie hat seit Charcot und Wundt in der Analyse der menschlichen Psyche solche Fortschritte gemacht, daß die bisherigen Auffassungen in mehreren wichtigen punkten unhaltbar geworden sind, insbesondere was die von den Materialisten des vergangenen Jahrhunderts allgemein anerkannte Erklärung der Religiosität betrifft ... das gleiche gilt für die Soziologen. Diese Feststellungen sollten uns aber nicht verwirren, sondern vielmehr unseren glauben an die unendlichen Möglichkeiten des menschlichen Geistes und an die Nützlichkeit der wissenschaftlichen Methoden stärken. Unsere Verwirrung angesichts der Kompliziertheit unserer Welt rührt vor allem daher, daß wir unfähig sind, uns die große Anzahl frisch erworbener Errungenschaften zunutze zu machen, und daß wir auf Früher zwar zutreffende, heute aber unzulängliche und überholte Synthesen fixiert sind.

Der wissenschaftliche Sozialismus, dessen Prinzip es ist, sich vor allem von exakten Kenntnissen leiten zu lassen, beruhte bis nach der russischen Revolution auf der Auffassung von der einzig möglichen Alternative Kapitalismus oder Sozialismus, Reaktion oder Revolution ... Diese Auffassung war in der Praxis richtig, leicht zu entwickeln und enthielt bzw. enthält auch heute noch einen Kern erwiesener Wahrheit. Sozialismus bedeutetete Vergesellschaftung der Produktionsmittel, und alle unsere Parteien forderten in ihren Programmen zu diesem Zweck „die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln“. Dies schien die erste Bedingung für die Errichtung eines rationalen, auf dem Prinzip des rechts beruhenden gesellschaftlichen Systems zu sein. Man kann dem Sozialismus keineswegs den Vorwurf machen, nicht alles vorhergesehen zu haben; im Gegenteil, die Marxisten wissen, wie sehr der Mensch in seinem denken von seiner Epoche konditioniert und eingeengt ist. Das erstaunliche daran ist vielmehr, in welchem maße der Sozialismus die historische Entwicklung voraussagen konnte, wie sehr seine Behauptungen und Bestrebungen noch heute zutreffen. Aber sein geistiges Rüstzeug ist genau zu dem Zeitpunkt schwächer geworden, wo die meisten seiner Forderungen aufgrund der Ereignisse auf die Tagesordnung gesetzt wurden und werden.

Die Theorie „Kapitalismus oder Sozialismus“ krankte an Schematismus oder Phantasielosigkeit. Der Gesichtskreis war auf die ganz konkrete Gegenwart beschränkt. Ich leugne nicht, daß Marx, Kautsky, Bogdanow, Rosa Luxemburg und Trotzki zuweilen diese Schranken überschritten, daß sie geradezu geniale Gedanken hatten; aber ihnen fehlte die zeit, sie zu vertiefen. Außerdem waren diese theoretischen Erkenntnisse nur wenigen gelehrten bekannt, denn sie sind damals nicht in das denken der sozialistischen Bewegung integriert worden. Dann haben sich allmählich dritte Lösungen durchgesetzt: weder Kapitalismus noch Sozialismus, sondern mehrere Organisationsformen der Gesellschaft, die wir als eine allgemeine Erscheinung erleben und die man als bürokratische Planwirtschaft definieren kann, basierend auf der Entwertung, Verminderung oder Abschaffung des Privateigentums.

Über die Nazi-Wirtschaft sind in den Vereinigten Staaten mehrere bemerkenswerte Werke veröffentlicht worden. Ich will hier nur eines erwähnen, nämlich das von Franz Neumann, Behemoth, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus (New York, 1942, 520 S.) Dies ist die Analyse einer Wirtschaft, die rigoros kollektiviert wurde mit Hilfe von Staatsmonopolen, die ihrerseits einer terroristischen, kriegerischen Polizeiorganisation unterstanden. Das Privateigentum hörte auf, eine Realität zu sein und wurde zu seinem in lächerlicher weise respektierten Symbol; ihm ging jegliche Initiative verloren, und behielt nur immer geringer werdende Profite, die streng kontrolliert wurden. Aber da das Regime mit Hilfe des Großkapitals errichtet worden war und die meisten kapitalistischen Familien in die Partei eingetreten waren, überlebten äußerlich die alten formen. Aber die Privilegien beruhten in Wirklichkeit nicht mehr auf dem Eigentum an Produktionsmitteln oder Geld, sondern auf der teilhabe an der politischen macht. Und diese teilhabe garantierte dem einzelnen nur ein Minimum an Sicherheit, die ständig in Frage gestellt war. Die Analogien zwischen diesem Wirtschaftssystem und dem der UdSSR waren so auffallend, daß amerikanische Beobachter wie Präsident Roosevelt und der Botschafter in Moskau, Joseph E. Davies beide Regime als „totalitär“ bezeichneten. Besser informierte Autoren wie James Burnham, Dwight Macdonald, Sidney Hook gelangten zur gleichen Schlußfolgerung. Trotzki hatte bereits vorher, ich glaube im August 1939, geschrieben: „Alle diese Regime (UdSSR, Faschismus, Nazismus, New Deal) haben offensichtlich gemeinsame Züge, die letzten Endes durch die kollektivistische Tendenz der modernen Wirtschaft bedingt sind.“

 

 

Kollektivismus oder Sozialismus?

Die moderne Geschichte ist von einer gewaltigen neuen Realität bestimmt: der technische Fortschritt der Industriegesellschaft führt unausweichlich zur Planung der Wirtschaft und damit zur Abschaffung des Laisser-faire, zur Einschränkung und praktischen Aufhebung der Rechte des freien Unternehmertums, zur Abschaffung des freien Marktes (durch staatliche Kontrolle) auf nationaler und internationaler Ebene, kurz zum Kollektivismus. Aber es hat sich gezeigt, daß der wirtschaftliche Kollektivismus, den ich, 20 Jahre alt, wie die meisten Revolutionäre jener Zeit für gleichbedeutend mit „Sozialismus“ hielt, keineswegs die härteste Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Privilegien einerseits und Knechtschaft andererseits, Unterdrückung und Krieg ausschließt ... Es hat sich gezeigt, daß verschiedene Formen von Kollektivismus verwirklicht werden können: von der sozialistischen Revolution (wie es von 1917 bis etwa 1927 in Rußland mit drei aufeinander folgenden Wirtschaftssystemen der Fall war: Rätedemokratie, Kriegskommunismus, NEP: von einer innerhalb der sozialistischen Revolution aufkeimenden Konterrevolution (Rußland ab 1927, stalinistischer Totalitarismus unserer Zeit); von einer antisozialistischen Konterrevolution (Nazi-Deutschland) und sogar von demokratischen Systemen, die Revolution und Konterrevolution ausschließen und in ihrer Gesamtheit eher konservativ sind ... Damit meine ich die Kriegswirtschaft der USA, die in großem Maße eine Planwirtschaft war und deren Ergebnisse im Hinblick auf die Produktion und die Erhaltung eines hohen Lebensstandards erstaunlich waren.

Kollektivismus (d.h. vollständige oder mehr oder weniger gemischte Vergesellschaftung der Produktion) ist nicht mehr gleichbedeutend mit „Sozialismus“. Die sozialistische Theorie umfaßte immer zwei Aspekte: einerseits ökonomische Kenntnisse, die zur Verwirklichung einer rationalen Wirtschaft fuhren; andererseits Befreiung des Menschen und Verwirklichung eines zu neuer Würde erhobenen menschlichen Daseins. Dabei ist die rationale Wirtschaft nur ein Mittel zur Verbesserung der menschlichen Bedingungen. Ein Kollektivismus, der die menschlichen Lebensbedingungen dauerhaft erschwert, ist antisozialistisch.

Wie muß man demnach den Kollektivismus der UdSSR beurteilen? Schließen wir zunächst die verbalen Täuschungen, den Theoriefetischismus aus. Die Wörter sind irreführend, weil sie sich nicht andern, während sich die Realität ändert. Genügt uns die Definition der sozialen Klassen, die Marx aus den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts abgeleitet hat, zur Erklärung der sozialen Struktur der UdSSR? Man möge mir gestatten, dieses Problem den Anhängern der reinen Theorie zu überlassen. Es gibt in der UdSSR mehrere soziale Gruppen, die sich deutlich voneinander abgrenzen und aufgrund ihrer Funktion im Staat, ihrer Funktion in der Produktion, ihrer materiellen und geistigen Situation definiert werden können. Ob man sie Klassen, Kasten, soziale Schichten oder sonstwie nennen soll, erscheint mir sekundär. Die freue zum wissenschaftlichen Geist des Sozialismus verpflichtet uns vielmehr, die Realität zu betrachten.

 

 

Modernes Sklaventum

Um 1936/37 begann die UdSSR sich aus der schrecklichen Hungersnot zu erheben, die die Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft war und der Deportation von ungefähr 5 Millionen Bauernfamilien, die in der Mehrzahl dabei umkamen. Die bestinformierten Autoren meinten damals, daß die privilegierte Gruppe der sowjetischen Bevölkerung, deren Lebensbedingungen mit denen des mittleren bis reichen Franzosen (jener Zeit ...) vergleichbar waren, auf 15% geschätzt werden konnte, während die materiellen Bedingungen (Wohnung; Nahrung, Kleidung) der restlichen 85% erheblich schlechter waren als unter dem alten Regime und den Revolutionsjahren 1926-28. Jene 15% setzten sich zusammen aus Parteikadern, Kadern der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion, Intellektuellen, Kadern der Armee und der Polizei und deren Familien. Also weniger als 7% der gesamten erwachsenen Bevölkerung. In den Jahren 1936-38 brachten die blutigen Säuberungen Stalins den ökonomischen Fortschritt zum Stillstand. Seit 1939 hatte die Vorbereitung des unmittelbar bevorstehenden Krieges die gleiche Auswirkung; die Rationierung wird wieder eingeführt. Dann folgen die Verwüstungen des Krieges. Der Prozentsatz der sowjetischen Bevölkerung, die sich satt essen und in einem richtigen Bett schlafen kann, hat also – mit Sicherheit – abgenommen. Bleiben wir trotzdem bei 7% Erwachsenen (bzw. 15% einschließlich der Kinder).

Diese Zahl müssen wir nun einer anderen gegenüberstellen, die für den, der die soziale Struktur der UdSSR definieren will, von außerordentlicher Bedeutung ist. 7% (oder 15%) wurden es nicht zulassen, von einem sozialistischen Regime zu sprechen; höchstens von im Ansatz sozialistischen Intentionen und Tendenzen des sowjetischen Kollektivismus. Aber was nun kommt, ist schrecklich. Den kompetentesten Schätzungen zahlreicher Zeugen, Berichterstattern und Experten des russischen Problems zufolge lebten 1941 etwa 9.500.000 Menschen in den 38 großen, bekannten Konzentrationslagern und mehrere Millionen in den weniger bekannten Lagern der UdSSR; es waren im allgemeinen Erwachsene, die eine „Sonderreserve an Arbeitskräften“ darstellten, nämlich die strafgefangenen Arbeiter, um es genau zu sagen. Insgesamt wird ihre Zahl auf 15 Millionen Erwachsene geschätzt. Während des Krieges nahm dieses Volk von Sträflingen aufgrund der Mobilisierung und der erhöhten Sterblichkeit ab, die ihrerseits auf den erhöhten Entbehrungen beruhte; seither hat sie jedoch ihren alten Stand wieder erreicht bzw. überschritten, was bedingt ist durch die Massendeportation der als defätistisch bezeichneten sowjetischen Bevölkerungsteile, durch die Deportation von Bewohnern der besiegten oder „befreiten“ Länder, durch die erneuten Säuberungen, durch die Inhaftierung der zurückgekehrten sowjetischen Kriegsgefangenen und der feindlichen Kriegsgefangenen.

Offensichtlich gibt es über diese Tatsachen nur unzureichende und annähernde Informationen. [2] Tatsache ist, daß die soziale Hierarchie der UdSSR eine riesige Zahl strafgefangener, versklavter, überausgebeuteter Arbeiter umfaßt, die ständig ab- und zunimmt und den durchschnittlichen Angaben zufolge 15% der Erwachsenen beträgt. Also: 7% privilegierte Erwachsene, 15% Entrechtete, 72% in Not und Armut lebende Ausgebeutete. Ich fürchte, diese Zahlen sind noch optimistisch. Aber selbst wenn sie etwas zu hoch gegriffen wären, wenn nur 8-10% der erwachsenen Arbeiter in Konzentrationslagern lebten, wurde das an der Tragweite dieser Tatsache nichts ändern. Der bloße Menschenverstand zeigt, daß ein Regime, das sich eine Arbeiterreserve von Strafgefangenen und Sklaven halt, in keiner Weise als sozialistisch oder ansatzweise sozialistisch bezeichnet werden kann.

 

 

Das Massaker der „alten Bolschewiken“

Die Frage nach den historischen Ursprüngen des Regimes wird von nun an sekundär. Es ist lediglich wichtig, sich in dieser Hinsicht zu vergegenwärtigen, daß der sowjetische Totalitarismus zwischen 1936 und 38 stabilisiert wurde, und zwar durch einen blutigen Gewaltakt gegen die Generation der Revolutionäre und die Mitglieder der Partei Lenins und Trotzkis. Versuchen wir, dessen Ausmaß, d.h. in groben Zügen die Zahl der Opfer des „sowjetischen Thermidor“ zu bestimmen, In seiner Rede vom 3. März 1937 macht Stalin folgende Angaben über die Parteikader: 3 bis 4.000 höhere Funktionäre, 30 bis 40.000 mittlere, 100 bis 150.000 untere Funktionäre. Das sind insgesamt etwa 200.000 Bürokraten. Joseph E. Davies schrieb in Mission in Moskau, daß die Säuberungen im Mai 1936 (und da fing es erst an) zwischen 56 und 62% der Parteikader erfaßt hatten. Mehr als 100.000 Funktionäre für den Anfang. Die Regierungen der föderativen und autonomen Republiken wurden vor dem Krieg drei-, viermal umgebildet. John Scott, Korrespondent der amerikanischen Presse in der UdSSR, wohnte zu jener Zeit in Magnetogorsk, und da er sich nicht darauf beschränkte, allein die Vorgänge in der Partei zu beobachten, schrieb er: „Die Säuberungen hatten katastrophale Auswirkungen für mehrere Millionen Sowjetbürger, die verhaftet und verbannt wurden. Die Mehrzahl war unschuldig, aber einige waren schuldig ...“ (Behind the Ourals, S.206). Diese Tatsachen machen den heftigen Bruch zwischen dem im Ansatz sozialistischen Regime, das aus der Revolution hervorgegangen war, und dem totalitären Regime, das mit dem Blut der Revolutionäre und dem Schweiß der Parias die Nachfolge übernahm, deutlich.

Die rechtliche und geistige Situation des Menschen war für die Sozialisten immer wesentlich. Sie kann nur nach dem Grad der legalen Sicherheit, der Freiheit des Bürgers und der Art der Kontrolle, die die Bürger über den Staat ausüben (demokratische Institutionen), definiert werden. Es wäre fast lächerlich, diese schreckliche Frage zu untersuchen. Die große Mehrheit der in der UdSSR Verurteilten wurde weder vor Gericht gestellt noch verteidigt. Verwaltungskommissionen haben in aller Heimlichkeit über ihr Schicksal bestimmt. Etwa hundert alte Bolschewiken wurden nach einmaligen Schauprozessen oder Lug und Trug erschossen; Tausende wurden exekutiert, ohne Prozeß oder nach Geheimprozessen, die nichts weiter sein konnten als eine traurige Farce auf jegliche Justiz. Ein Regime, in dem der Bauer, der Arbeiter, der Techniker, der hohe Funktionär, der Minister, der mit goldenen Orden behangene Marschall weiß, daß er in der Nacht für immer verschwinden kann, kann nicht sozialistisch genannt werden, ohne die Idee des Sozialismus lächerlich zu machen. Zur Bezeichnung eines solchen Regimes gibt es präzise alte Begriffe: Tyrannei, Despotismus, und jenen neuen, noch präziseren Begriff: Totalitarismus. Muß man daran erinnern, daß man nie erfahren hat, wie und warum das Mitglied des Politbüros Rudsutak, der Marschall Blücher, der Marschall Egorow, die Schriftsteller Boris Pilnjak und Ossip Mandelstam [3] der Botaniker Nikolas Wawilow [4] verschwunden sind?

Die Erfahrungen des Stalinismus beweisen, daß die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, die Kollektivierung und Planung zum unmenschlichsten Antisozialismus führen können (auch im ökonomischen Sinne des Wortes), wenn sie die Einrichtung einer (terroristischen) Wirtschaftsmaschinerie, die über äußerste Macht verfügt, zulassen. Die sozialistische Bewegung fordert die rationale Organisation der Produktion für die Gemeinschaft. Wenn man das totalitäre System naher betrachtet, wird man sofort feststellen, wie wenig rational seine Organisation ist, welche exzessiven Kosten es allgemein verursacht und wie oberflächlich und oftmals anarchisch seine despotische Planung ist. Wenn im 19. Jahrhundert Sklaventum und Knechtschaft abgeschafft wurden, so war dies sicherlich nicht durch eine plötzliche Großherzigkeit bedingt (wenngleich in den Vereinigten Staaten, in Brasilien, in Rußland der Idealismus der Reformer eine große Rolle spielte); es war vielmehr durch die Tatsache bedingt, daß die relativ freie lohnabhängige Arbeit anstelle der Sklavenarbeit zu einer Bedingung des industriellen Fortschritts geworden war. Die Erfahrungen der Vereinigten Staaten zeigen, daß hohe Löhne die Arbeitsproduktivität steigern. Selbst in Notzeiten ist freie Kritik, freies Denken und freie Initiative für den Produzenten ein unersetzbarer Anreiz. Eine Arbeiterdemokratie hatte und wurde in Rußland ein großartiges ökonomisches und soziales Werk vollenden können ... Reine Hypothese, werdet ihr vielleicht antworten. Sicherlich eine Hypothese, aber eine leicht nachweisbare. Und vergeßt nicht, daß die Aufgabe des Verstandes darin besteht, die Realität zu überwinden; und daß die Menschen sich früher oder später eine bewohnbare Welt schaffen müssen.

 

 

Fußnoten

1. Masses: linkssozialistische französische Zeitschrift, erschien von 1936 bis 1940 und kurzfristig nach dein Krieg im Verlag Cahiers de Spartacus. herausgegeben von René Lefeuvre: In Masses schrieben vor allem antistalinistische unabhängige linke Sozialisten.

2. Der Informationsstand hat sich bis heute allerdings geändert. Mittlerweile liegt – im Zuge der auf dem XX. Parteitag der KPdSU verkündeten Entstalinisierung – eine Fülle von Memoirenliteratur und Erlebnisberichten zu den Straflagern vor. Eine wissenschaftlich-materialistische Analyse des Systems der Straflager und des Terrors als Bestandteil einer terroristisch-kapitalistischen Akkumulation steht allerdings noch aus. Der bisher umfassendste oppositionelle sowjetische Versuch, Roy Medwedews. Die Wahrheit ist unsere Stärke (Frankfurt/M., Fischer Verlag 1972) leidet bei allen Vorzügen noch zu sehr unter der nunmehr vierzigjährigen Deformation des Marxismus in der Sowjetunion. S.a.: Solschenizyn: Gulag I & II.

Einen weitergehenden. sowohl methodisch als auch deskriptiv, Ansatz liefert Rita diLeo mit ihrer Untersuchung Die Arbeiter und das sowjetische System (Trikont Verlag, München 1972). (Anm. d. Verlages)

3. Der große Dichter Ossip Mandelstam, nach seiner Verhaftung freigelassen, von neuem verhaftet, starb auf dem Weg in ein Konzentrationslager im Fernen Osten Ende 1941 oder Anfang 1942 an Typhus.

4. Nikolas Wawilow wurde 1943 verhaftet und starb wenige Zeit später unter unbekannten Umständen. Wawilow, 1887 geboren, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, war einer der berühmtesten russischen Gelehrten. Lange Zeit leitete er das Institut für angewandte Botanik und neue Kulturen. Er wurde insbesondere beauftragt, die Ausweitung des Getreideanbaus in den Gebieten der Arktis zu erforschen – und zu verwirklichen! ... Niemand wird sich darüber wundern, daß er gescheitert ist und der Beschuldigung der „Sabotage“ zum Opfer fiel ...

 

Anmerkung des MIA

1*.In der Ausgabe des Verlags Association wurden alle Substantive außer Eigennamen kleingeschrieben. Wir haben für diese Internet-Ausgabe zwecks Leserlichkeit die normale Großschreibung wiedereingeführt.

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003