Josef Strasser

Der Arbeiter und die Nation

Der Kampf gegen den Nationalismus

Das Bürgertum hat in seiner revolutionären Zeit die Gottesidee aus der Naturerklärung verbannt, aber die bürgerliche Geschichtsauffassung ist ohne den lieben Gott nie ausgekommen. Freilich betrachtet sie die historischen Ereignisse nicht als Schickungen des Himmels, sondern als Werke der bedeutenden Männer(8) – aber der bedeutende Mann, der große Denker ist ihr eine Art kleiner Gott, sein Werk etwas „restlos nicht zu Erklärendes“, eine Schöpfung aus Nichts, eine Wirkung ohne Ursache, ein Wunder, kurz etwas Göttliches.

Eine andere Auffassung von der Rolle des Genies in der Geschichte haben wir. Wir nehmen mit Marx an, daß nicht unser Bewußtsein unser Sein, sondern sondern umgekehrt unser Sein unser Bewußtsein bestimmt, daß die „Idee“ in der Wirtschaft wurzelt. Alle Geschichte ist uns Massengeschichte, nicht nur die Masse bestimmend, sondern auch von ihr bestimmt, von ihr gemacht. Sie ist nicht das Werk von Heroen, der große Mann ist nicht der Zauberer, der aus Nichts etwas macht, er hat vor den gewöhnlichen Menschen, dem „Herdenvieh“, nur eines voraus: daß er selbsttätig ins Bewußtsein heben kann, was im Unterbewußtsein auch der anderen vorbereitet daliegt, von ihnen aber nicht selbständig bewußt gemacht werden kann. Allerdings bringt der geniale Mensch etwas Neues, aber seine Bedeutung besteht darin, daß dieses Neue den anderen nicht fremd ist, daß es sie wie etwas Altes anmutet, daß sie es schon in sich hatten und nur nicht so ausdrücken, d.h. aus dem Unterbewußtsein herausdrücken konnten wie er.

Die Leistung von Marx und Engels besteht also nicht, wie die Bürgerlichen glauben, darin, daß sie dem Proletariat ihre Gedanken aufgedrängt, sondern darin, daß sie aus dem Proletariat seine Gedanken herausgeholt haben. Sie haben ausgesprochen, was in Millionen Gehirnen bewußt werden wollte, sie haben dem Proletariat zum Bewußtsein seiner selbst verholfen. Nichts anderes als das Bewußtsein des Proletariats von sich selbst ist der Sozialismus.

Aber der Arbeiter ist darum nicht von Haus aus Sozialdemokrat, sein Selbstbewußtsein muß sich erst entwickeln. Das proletarische Denken muß erlernt werden. Das ist eine langwierige und mühsame Arbeit, nicht nur für den Intellektuellen(9), den seine Verhältnisse zu unproletarischen Anschauungen drängen, sondern auch für den Arbeiter, den alles zum Sozialismus disponiert. Da man sich aber als Sozialdemokrat umso besser betätigen kann, je mehr man Sozialdemokrat ist, so ist die erste und wichtigste Aufgabe der Partei die Agitation, die Aufklärung der Massen.

Aber wie leiten wir den Prozeß ihres Bewußtwerdens, wie agitieren wir?

Es ist, nach dem Gesagten, nicht Aufgabe des Agitators, in die Masse etwas ihr Fremdes hineinzutragen. So agitiert der Demagoge. Er will dem Proletarierhirn bürgerliche Anschauungen aufpfropfen und die proletarischen Gedanken, die es zu denken geneigt ist, im Keime ersticken. Er will dem Arbeiter etwas einreden und etwas ausreden, ihn sich selbst entfremden. Der sozialdemokratische Agitator aber will den Arbeiter zu sich selbst bringen. Er will ihm nicht etwas, das ihm wesensfremd ist, oktroyieren, sondern sein Eigenstes aus ihm herausholen. Aber wie fängt er das an?

Er darf es natürlich nicht machen wie jener guesdistische Student, der eine Bauernversammlung durch einen Vortrag über die dialektische Methode für die Partei gewinnen wollte und von den Bauern, die sich natürlich für gefoppt hielten, hinausgeworfen wurde. Will ich mit jemandem diskutieren, so muß ich an Vorstellungen anknüpfen, die ihm geläufig sind. Aber hier entsteht eine große Gefahr. Wie sieht es in der Seele des Indifferenten aus? Der Inhalt seines Bewußtseins ist fast ganz bürgerlich. Das Proletarische in ihm ist unbewußt, halbbewußt, unklares, dumpfes Gefühl, unsichere Sehnsucht. Wie groß ist da für den Agitator die Versuchung, die bürgerlichen Vorurteile dadurch zu bekämpfen, daß er ihnen eine proletarische Deutung gibt, die proletarischen Anschauungen zu propagieren, indem er sie bürgerlich deutet, also den Indifferenten nicht zum Verstehen, sondern zum Mißverstehen des Sozialismus zu erziehen! Denn schwer, ja unmöglich scheint es zu sein, auf einem anderen Wege ans Ziel zu kommen.

Aber es gibt einen anderen Weg. Setzen wir den Fall, wir wollen eine ganz indifferente, strenggläubige, überhaupt in allen Arme-Leut'-Vorurteilen befangene Arbeiterschichte aufklären. Sollen wir ihr – was z.B. unsere Freidenker für das Zweckmäßigste halten – die Widerlegungen der Beweise vom Dasein Gottes vorsetzen? Es würde uns ergehen wie dem erwähnten Bauemaufklärer, wir könnten nur Mißtrauen und Schläge ernten. Oder sollen wir die Sache am anderen Ende anpacken und den Leuten erzählen, daß Christus „eigentlich ein Sozialist“ war und daß das „wahre“ Christentum dem Sozialismus eng verwandt ist? Das hieße den Sozialismus mißdeuten. Was sollen wir also tun? Wir werden Theorie und Praxis der Ausbeuter miteinander konfrontieren. Wir werden zeigen, daß die Taten dieser Christen den christlichen Anschauungen widersprechen, daß ihnen das ganze Christentum nur ein Herrschaftsmittel ist. Des weiteren werden wir dem naiven Proletarier an Tatsachen zeigen, daß sein Glaube an die Ewigkeit der bürgerlichen Gesellschaft (denn nichts anderes ist sein Glaube, daß die Erde ein Jammertal ist) auf falschen Voraussetzungen beruht. Ohne ihn in seinen Empfindungen nutzlos zu verletzen, aber auch ohne seinen Vorurteilen irgendeine Konzession zu machen, werden wir ihn so in eine Stimmung versetzen, die ihn für unsere Wirtschaftslehre empfänglich macht und ihn in unsere Organisation treibt. Aus dem Widerstreit, in den diese proletarische Stimmung mit seiner Arme-Leut'-Ideologie gerät, muß sich schließlich sein proletarisches Selbstbewußtsein entwickeln.

Genauso wie jede andere unproletarische Ideologie müssen wir auch den Nationalismus behandeln. Wir müssen zeigen, daß die Taten der Nationalen mit ihren Reden in Widerspruch stehen. Wir müssen zeigen, daß der Arbeiter, der ein nationales Ideal hat, nicht nur dieses Ideal, sondern auch die Ziele, auf die ihn seine Klassenlage hinweist, nie erreichen kann. Besonders wir deutschen Sozialdemokraten hätten, selbst wenn die opportunistische Taktik im allgemeinen richtig wäre, keinen Grund, dem Nationalismus auch nur das kleinste Zugeständnis zu machen, denn wir befinden uns ihm gegenüber in einer überaus günstigen Situation: Der deutsche Proletarier ist dank den besonderen historischen Bedingungen, unter denen er lebt, vom Nationalismus fast unberührt geblieben, er ist sozusagen ein geborener Internationaler. Dennoch sind wir seit einiger Zeit „gute Deutsche“. Früher waren wir bloß internationale Sozialdemokraten. Der Fortschritt zum Deutschtum ist eine Errungenschaft der letzten Jahre. Wie kommen wir zu ihr? Wir verdanken sie einer ungeheuerlichen, grotesken Überschätzung der Werbekraft des nationalen „Gedankens“. Die Wahlreform hat das nationale Bürgertum so erschreckt, daß es die fast schon aufgegebenen Versuche, wenigstens einen Teil der Arbeiterschaft national zu „organisieren“, mit dem Mut der Verzweiflung wieder aufgenommen hat. Dazu kommt, daß der Separatismus die Stellung der internationalen Sozialdemokratie gegenüber den nationalen Parteien verschlechtert hat. Wie soll man den wütigen Ansturm des Nationalismus abschlagen? Von unseren führenden Genossen scheinen manche der Meinung zu sein, daß der intransigente Internationalismus dem Nationalismus nicht standzuhalten vermag, daß den Nationalismus nur der Nationalismus schlagen kann. So sind wir, förmlich über Nacht, aus Respekt vor den Nationalen gute Deutsche geworden. Es ist ihnen gelungen, uns eine Konzession abzupressen. Allerdings sieht diese Konzession, das ist das Bestechende an ihr, wie eine Abfertigung aus. „Ihr beschuldigt uns des Verrats an der Nation? Lächerlich. Wir sind gute Deutsche, ja wenn wir's recht bedenken, sogar bessere Deutsche als ihr.“ So wird der Teufel wieder einmal mit dem Beelzebub ausgetrieben.

Gute Deutsche. Gegen die Anwendung dieser Redensart spricht, abgesehen von allem anderen, schon der Umstand, daß sie dem Wortschatz des Nationalismus entlehnt ist. Solche Anleihen bei einer fremden Terminologie haben unter allen Umständen etwas Mißliches. Sie wirken verwirrend, und zwar nicht auf unsere Gegner – die lachen uns ja nur aus, wenn wir als gute Deutsche auftreten –, sondern auf unsere Genossen. Das Wort von den guten Deutschen ist ihnen als der Schlachtruf eines Feindes verdächtig geworden, es gilt ihnen fast für ein Schimpfwort, und nun soll es auf einmal unsere Parole sein. Der „schlichte“ Arbeiter, dem „staatsmännische“ Erwägungen fremd sind, begreift das umsoweniger, als er mit dem vertrackten Wort nicht einmal den klaren Sinn verbinden kann. Und unsere guten Deutschen haben es bisher, wie bereits erwähnt, ängstlich vermieden, sich selber zu definieren. Wir sind gute Deutsche, aber wir wissen nicht, was das ist.

Und wir werden es schwerlich jemals erfahren. Denn es scheint, daß das ominöse Wort alle möglichen Bedeutungen annehmen kann, nur gerade eine sozialistische nicht. Soll es die Besitzer jener Vorzüge bezeichnen, die das deutsche Volk nach der Behauptung der Nationalen vor allen anderen Völkern der Erde voraus hat, dann sind die deutschen Arbeiter keine guten Deutschen, denn der Kapitalismus hat sie körperlich heruntergebracht, er hat sie ausgeschlossen vom Genusse der deutschen Kultur, er läßt sie nicht einmal die Muttersprache ordentlich erlernen. Wie kann man sie gute Deutsche nennen? Aber vielleicht soll dieses Wort etwas anderes bedeuten, vielleicht soll es besagen: Wir sind alle deutsch gesinnt. Aber was heißt das? Wer ist deutsch gesinnt? Wer es mit dem deutschen Volke gut meint? Aber wir meinen es mit ganzen Klassen des deutschen Volkes, mit allen Ausbeutern und Unterdrückern, gar nicht gut. Und auch wenn als deutsches Volk nur die ausgebeuteten und unterdrückten Deutschen zu betrachten sein sollten, dürften wir uns bloß deswegen, weil wir ihre Interessen vertreten, noch lange nicht gute Deutsche nennen. Denn wir bekämpfen Ausbeutung und Unterdrückung nicht nur, weil und soweit Deutsche unter ihnen leiden. Wir kämpfen auch gegen die Ausbeutung und Unterdrückung von Tschechen, Ruthenen, Italienern, nach der Logik unserer guten Deutschen wären also wir deutschen Sozialdemokraten nicht nur gute Deutsche, sondern auch gute Tschechen, Ruthenen, Italiener. Warum also sollten wir gerade unser Deutschtum betonen? Etwa, weil wir meist mit Deutschen zu tun haben? Der organisierte Schuhmacher arbeitet natürlich in der Schuhmacherorganisation, nennt er sich darum einen guten, überzeugten Schuster?

Wir können uns drehen und wenden wie wir wollen, es wird uns nicht gelingen, mit der Phrase: „Wir sind gute Deutsche“ irgendeinen vernünftigen Sinn zu verbinden. Nichtsdestoweniger scheinen manche Genossen im Kampf gegen den Nationalismus von ihr Wunder zu erwarten. Genosse Renner hat es in seiner Broschüre: Der deutsche Arbeiter und der Nationalismus fertiggebracht, sie auf siebzig Seiten zwar nicht zu erklären, aber zu begründen. Diese Schrift enthält sehr viel Wertvolles. Renner zeigt, wie sehr die Praxis der Nationalen mit ihrer Ideologie im Widerspruche steht, er zeigt, daß sich hinter den nationalen Phrasen bürgerliche Interessen verstecken. Aber er denkt: Doppelt hält besser, und so läßt er neben einer durchaus sozialistischen Widerlegung des Nationalismus eine durchaus unsozialistische herlaufen. Er meint freilich, daß er sich nur einer „ungewohnten Terminologie“ bedient, nur den „Ton“ der Ideologie der Gegner, an die er sich wendet, „etwas angepaßt“ hat. Aber er hat mehr getan. Er hat die nationalistische und die sozialistische Ideologie einander angleichen wollen. Er hat Wein in Jauche geschüttet, aber dadurch nicht, wie er wollte, die Jauche veredelt, sondern nur den Wein verdorben. Er redet z.B. von der „Gefahr“, die dem heutigen Wien von der tschechischen Zuwanderung droht! Oder er sagt: „Alle gewerkschaftliche Organisation hat als erste Aufgabe, jeden Arbeiter in seiner Arbeitsstelle gegen Maßregelung zu schützen, also an seinem Wohnort in seiner Stellung zu erhalten, damit jeder in seinem Lande bleiben und dort sich und seine Familie redlich ernähren könne.“ Was soll das Kleinbürgersprüchlein: „Bleibe im Lande und nähre dich redlich“ im Munde eines Sozialdemokraten? Hindert man den Arbeiter nicht geradezu, das Wesen der Gewerkschaft zu erfassen, wenn man ihm erzählt, daß die Gewerkschaft kleinbürgerliche Ideale hat? Wenn wir sagen dürfen, daß die Gewerkschaften dem Arbeiter ermöglichen sollen, im Lande zu bleiben und sich redlich zu nähren, dann dürfen wir auch behaupten, daß wir Monarchisten sind, weil wir nicht den Königsmord predigen, daß wir gut kapitalistisch gesinnt sind, weil wir jede Hemmung des Kapitalismus durch zünftlerische Schikanen bekämpfen, daß wir religiös sind, weil wir die Erklärung der Religion zur Privatsache verlangen, usw. Aber wo kommen wir da hin? Wird es uns, wenn wir diesen Weg einschlagen, gelingen, auch nur aus einem einzigen Arbeiter einen wirklichen Sozialdemokraten zu machen?

Nochmals: Was soll die Phrase, daß wir gute Deutsche sind? Den, der national, d.h. bürgerlich denkt, werden wir auch durch die leidenschaftlichsten Beteuerungen unseres Deutschtums nicht überzeugen, er wird sich über uns nur lustig machen. Zu gewinnen haben wir als gute Deutsche also nichts. Wohl aber zu verlieren. Wir verwirren den Arbeiter, wenn wir ihm jetzt auf einmal entdecken, daß er „ein treuer Sohn seines Volkes“ ist, den Gegnern aber können wir mit unserem Deutschtum nichts anhaben. So wenig ihnen das Sozialisteln nützt, so wenig uns das Nationalisteln. Wir können die Nationalen nicht aus dem Felde schlagen, indem wir es ihnen gleich zu tun, oder gar sie zu überbieten suchen. Wir können nur eines: der nationalistischen Ideologie die Ideologie des intransigenten Internationalismus entgegensetzen.

Anmerkungen des Verfassers

(8) „Kain hätte anstatt des Abel den Bebel erschlagen müssen.“ In dieser Antwort auf die bekannte Scherzfrage: „Wie hätte die Entstehung der Sozialdemokratie verhindert werden können?“ hat die bürgerliche Geschichtsauffassung ihren klassischen Ausdruck gefunden.

(9) Die Intellektuellen beschweren sich über Hochnäsigkeit oder Demagogie, wenn man ihnen sagt, daß der „einfache“ Arbeiter für den Sozialismus mehr Verständnis besitzt als der graduierteste Akademiker. Die guten Leutchen sind genauso geistreich wie jener Wiener, der sich nicht genug darüber wundern kann, daß in Paris Jeder Hausmeister“ französisch redet.


Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008