A. Thalheimer

 

Gott, Freiheit und Unsterblichkeit

(1909)


Quelle: Die neue Zeit, 27. Jg. (1908-1909), 2. Bd. (1909), H. 30, S. 107-115.
Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


 

„Siehe, sie sind ganz Eitelkeit; ihre Werke Nichts: ihre gegossenen Götzenbilder Wind und Verwirrung.“ – Jesaia

Jeder junge Mensch, der von einer deutschen Universität kommt und das Glück gehabt hat, dort die philosophische Weisheit aus der Quelle zu schöpfen, weiß heutzütage, daß der historische Materialismus eine Sache von gestern ist, eine dogmatische Schrulle, die von der „modernen Erkenntnistheorie“ längst in ihr Nichts aufgelöst ist.

Ehemals hießen die ehrwürdigen Sturmböcke, mit denen der mechanische Materialismus, der „Atheismus“, kritisch bekannt wurde: „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.“ Diese schönen Dinge waren zwar nach Kant unerweislich, ebenso aber ihr Gegenteil. Damit lag der „Atheismus“ auf dem Sand, und der Bürger konnte wieder ruhig schlafen.

Obendrein aber verbürgte sich die „praktische Vernunft“ für die metaphysische Trinität.

Die „moderne Philosophie“ nun findet an den alten Namen keinen Geschmack mehr; sie sind beim Publikum zu sehr in Mißkredit geraten. Da aber die „praktische Vernunft“ die alten Metaphysika wieder braucht als Waffe gegen den historischen Materialismus, so werden sie neu etikettiert.

Unter dem Etikett „Autonomie der Vernunft“, „Willensfreiheit“, „Teleologie“ usw. tritt nun die alte verschimmelte Ware auf und findet als „die moderne Erkenntnistheorie“ reißenden Absatz.

Marx und Engels haben das Gefasel der philosophischen „Windmacher der Bourgeoisie“ mit der gebührenden Verachtung behandelt. Es wäre auch zu grotesk, den auf mutiger Rosinante mit verrosteter Urväterlanze daherstürmenden ingenioso hidalgo anders als humoristisch zu nehmen. Um so mehr, als selbst dem biederen Sancho-Pansa-Kapitalmann bei den Heldentaten seines Ritters etwas zweifelhaft zumute wird, so gern er au die wunderbaren Verheißungen glauben möchte.

So wenig es also nötig ist, den donquichottisch-heiteren Ansturm ernst zu nehmen, so lohnend ist es, die metaphysische Phantastik als eine reelle geschichtliche Tatsache zu untersuchen: als ideellen Reflex des Niederganges der Bourgeoisie.

Wie das gesellschaftliche Sein, so ist das gesellschaftliche Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft dem Schoße der feudalen entsprungen. In der bürgerlichen Weltanschauung ist die feudale aufgehoben im zwieschlächtigen Sinne, zugleich vernichtet und erhalten, wie im Erwachsenen das Kind aufgehoben und vollendet ist.

In der feudalen Gesellschaft ist die Arbeitskraft im Besitz ihrer Produktionsmittel, daher Nicht-Ware. Die Abhängigkeitsverhältnisse sind unmittelbare persönliche. Die Mehrarbeit ist von der notwendigen Arbeit sichtbar getrennt, das gesellschaftliche Verhältnis also durchsichtig. Die Produktion dient vorherrschend dem unmittelbaren Konsum, die Produkte sind nicht wesentlich „Waren“, sondern „Güter“. Die Grenzen aber der Produktion für den unmittelbaren Konsum sind in den Grenzen der Konsumtionskraft selbst gegeben. Eine Steigerung der Produktionskraft vermehrt wohl die Konsumtionsmittel, aber erweitert nicht die Reproduktionsstufe der Produktion selb. Das Mehrprodukt ist nicht in Kapital, Wert heckenden Wert zu verwandeln, solange nicht die „freie“ Arbeitskraft auf die Bühne tritt. Die Produktion für den unmittelbaren Konsum, die Ökonomik, ist begrenzt, da sie Mittel für begrenzten Zweck. Der Feudalherr kann vermehrtes Mehrprodukt nur in bestimmten Grenzen seiner eigenen Leiblichkeit oder einer schmarotzenden Gefolgschaft einverleiben.

Für den zünftige Handwerker, den einfachen Warenproduzenten, war Gleichmäßigkeit der technischen Grundlagen der Produktion Bedingung seiner vollkommenen Reproduktion; es stand hinter dem zünftigen Handwerker nicht der Stachel der Konkurrenz, die dem einzelnen Kapitalisten die stetige Erweiterung der Technik als Zwangsgesetz aufdrückt, das über sein ökonomisches Sein entscheidet. Vielmehr war die Ausschaltung der Konkurrenz, die bis in einzelne gehende Regelung des Produktionsprozesses wie des Zirkulationsprozesses dem zünftigen Handwerk wesentlich. Der mittelalterlichen Gesellschaft war also nicht die Steigerung der Produktivkraft, die stetige Umwälzung der Technik, ökonomische Lebensbedingung, vielmehr ihre allgemeine Gleichmäßigkeit, ihre Stabilität Bedingung für die Stabilität der Gesellschaft. Es bestandf daher kein ökonomischer Reiz zur Erforschung der Methoden der Naturbeherrschung und damit Naturerforschung. Die Kenntnis aber der allgemeinen methode der Naturbeherrschung schließt in sich das Bewußtsein der Möglichkeit des unbegrenzten Fortschreitens der faktischen Naturbeherrschung. Denn als allgemeine Methode ist sie universelle. Umgekehrt erscheint die Natur allgemein unbeherrschbar, wo kein allgemeiner Zwang zur unbeschränkten Revolution der Technik und damit der Erforschung der allgemeinen Methode des Naturerkennens. Nichtuniversalität der Wissenschaft aber ist das Bewußtsein der Unmöglichkeit der Wissenschaft des Universellen. Das Universelle wird nicht gewußt, sondern geglaubt. Als praktisch und theoretisch unbeherrschbar, wird die Natur nun phantastisch beherrscht, verjenseitigt, authropomorphisiert: die Metaphysik trägt die phantastisch-naive Züge des personifizierten Universalbegriffs, des persönlichen Gottes

Ist so die Natur metaphysische Mysterium, so ist der Bau der Gesellschaft selbst durchsichtig klar. Die Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse als unmittelbar persönlick, die Produktion als unmittelbar gesellschaftlich sind im umnittelbaren individuellen Bewußtsein und beherrschbar. Ihre Erscheinung deckt sich mit ihrem Wesen. Hier entspringt also für die mittelalterliche Gesellschaft kein Problem: ihre Metaphysik entspringt ihrem Verhältnis zur Natur.

Das passive Verhältnis zur Natur bedingt auch die allgemeine Denkmethode selbst: das Vorwiegen des Interesses am Nebeneinander der Erscheinungen macht die Kategorie der Gattung und Art zur herrschenden.

Die Trennung der Arbeitskraft vom Produktionsmittel bildet die Grundlage der kapitalistischen Produktion. Die Arbeitskraft selbst wird damit Ware, die Produktion wird wesentlich Produktion von Waren, von Trägern des Mehrwertes. Da der kapitalistischen Produktion die Erzeugung des Mehrwertes Selbstzweck ist, so ist sie unbegrenzt. Bei gegebener Größe des Arbeitstags unterstellt aber Vermehrung der Mehrarbeit Zusammenschrumpfen der notwendige Arbeitszeit. Diese wieder unterstellt fortwährende Steigerung der Produktivkraft der Arbeit, unbegrenzte Erweiterung der technischen Grundlage des Produktionsprozesses. Diese Notwendigkeit erscheint dem individuellen Kapitalisten als Zwangsgesetz der Konkurrenz, von dem seine ökonomische Stellung abhängt.

Die Notwendigkeit der universellen, unbegrenzt fortschreitenden Naturbeherrschung erzeugt das Problem der allgemeinen Methode der Naturerkenntnis: die Erkenntnistheorie oder Philosophie. Das Universelle wird jetzt Gegenstand der Wissenschaft.

Die Notwendigkeit der Praxis und Kenntnis der naturwissenschaftlichen Methode schließt in sich das Wissen von der Möglichkeit der universellen, unbegrenzten theoretischen und praktischen Beherrschung der Natur. Wird aber so die Natur als allgemein wisfenschaftlich und praktisch beherrschbar erkannt, so fällt die Notwendigkeit, sie phantastisch zu beherrschen. Der Widerspruch zwischen der nüchternen Natur und ihrer metaphysischen Spiegelung schwindet. Die Universalität der Naturwissenschaft ist die Wissenschaft von der Universalität der Natur, der durchgängigen Gesetzmäßigkeit der Naturerscheinungen.

Das Interesse der Gesellschaft an der Naturbeherrschung ist ein solches an der Naturveränderung. Nicht mehr das Nebeneinander der Erscheinungen ist das Wesentliche, sondern das Nacheinander. Die Kategorie der Ursache und Wirkung, die Kausalität, leistet die Ordnung des Nacheinanders der Erscheinungen. Sie wird jetzt also aus einer untergeordneten Denkkategorie die herrschende. Sie ist der allgemeinste Ausdruck des Verhältnisses der bürgerlichen Gesellschaft zur Natur.

Bot so das aktive Verhalten der bürgerlichen Gesellschaft zur Natur ihr den Schlüssel, sie mit nüchternen, unphantastischen Augen anzusehen, so entsprang die Metaphysik dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Die Gesellschaftlichkeit der Produktion selbst ist keine planmäßige, zweckbewußt vom einzelnen gewollte. Die gesellschaftliche Arbeit erscheint unmittelbar als private, individuelle. So ist die gesellschaftliche Organisation nicht im unmittelbaren Bewußtsein. Die Gesellschaft beherrscht nicht die Produktion, sie wird von der Produktion beherrscht. Die Gesetze der Produktioü wirken dem einzelnen gegenüber als blinde, unbeherrschbare Naturmacht. Ist die Gesellschaft aber praktisch unbeherrschbar, so auch theoretisch. Damit aber ist das Denkinstrument, der Geist selbst nicht mehr allgemeines, universelles Instrument. Das Sein aber, das Universum selbst, ist damit nicht mehr universal. So ist der Geist nicht Familienmitglied des Universums, sondern ein von ihm ganz und gar Verschiedenes, Mystisches. Die Vernunft ist autonom, der Wille frei. Die Kategorien von Ursache und Wirkung sind nicht allgemein anwendbar. Von hier aus webt sich ein phantastischer Schleier vor die Augen der Bourgeoisie. Eine übersinnliche, metaphysische Welt liegt hinter der sinnlichen. Aus ihr fließen die gesellschaftlichen Erscheinungen. Sie sind es also jetzt, die phantastisch beherrscht werden. Damit strahlt die alte Metaphysik in neuem, noch geheimnisvollerem Glanze.

Ist die Klassifizierung des Geistes unmöglich, so ist die Praxis der Erkenntnis in der Naturwissenschaft selbst nur instinktiv. Die Naturforscher, die mit dem geistigen Instrument auf ihrem Gebiet zweckmäßig arbeiten, gehen in die Irre, sowohl wenn sie sich auf das Gebiet der Gesellschaftswissenschaft begeben, als auch wenn sie die allgemeinsten Begriffe der Naturwissenschaft selbst behandeln.

War naturgemäß das ideelle Kampffeld zwischen feudaler und bourgeoiser Gesellschaft das Gebiet der Naturwissenschaften, so zwischen Bourgeoisie und Proletariat das der Gesellschaftswissenschaften.

Die ungewollte, blind wirkende Organisation der Gesellschaft einer er planmäßigen, bewußten zu machen, den Widerspruch zwischen der privaten Erscheinung und dem gesellschaftlichen Wesen der kapitalistischen n Gesellsch aufzuheben, dazu treibt das Proletariat die ökonomische Notwendigkeit. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Aufhebung der kapitalistischen Form der Produktion ist die Einsicht in den geschichtlichen Charakter der kapitalistischen Gesellschaft. Umgekehrt setzt das praktische Streben nach Aufrechterhaltung der Kapitalwirtschaft, diese selbst als absolute, ewige Erscheinung, die planmäßige Organisation der Produktion als unmöglich voraus.

Die Einsicht in die Möglichkeit der planmäßigen Beherrschung der Gesellschaft und durch sie der Natur läßt endlich das letzte materielle Fundament für die Verphantasierung des Geistes überhaupt schwinden. Ist die Welt, das Universum, vernünftig, so ist die Vernunft selbst weltlich. Denken und Sein sind von einem Kaliber. Die Wissenschaft des Geistes wird damit spezielle Naturwissenschaft. Es ist durchaus erforschlich und durchaus unerforschlich in dem nüchternen Sinne, wie es älle Erscheinungen des Unendlichen sind: sie sind unerschöpflich.

Ist der Bourgeoisie der Widerspruch von Sein und Denken materiell unvermittelbar, so ist ihr die allgemeine, unbeschränkte Vermittlertätigkeit des Geistes unzugänglich. Die universelle Vermittlung der Widersprüche, die Dialektik, wird die Methode des proletarischen Denkens.

Wenn wir sagten, der Wirklichkeit der Bourgeoisie wie der des Proletariats entspringen diese bestimmten ideellen Reflexe, so gilt das für die Klassen als solche, da die Ursachen allgemein gesellschaftliche sind. Die Bourgeoisie als solche kann also nie ihren ideellen Standpunkt aufgeben; wohl aber kann der einzelne Bourgeois den proletarischen Standpunkt einnehmen und auch umgekehrt. Denn das Individuum ist wie in der Wirklichkeit, so auch in seinem Bewußtsein nicht nur gesellschaftlich bestimmt. Ebenso wie ein bestimmter Stein nicht nur Erscheinung der Schwerkraft ist, sondern außer seinem allgemeinen Wesen noch ein unendlich spezifiziertes hat.

Zeichnen wir nun nach den allgemeinsten Grundlagen in groben Umrissen die markantesten Erscheinungen der neueren Philosophie.

Mit Kant erhebt die deutsche Bourgeoisie zuerst ihre philosophische Stimme, wie unendlich viel zaghafter, schwächlicher, als die kräftige holländische Handelsbourgeoisie in Spinoza! Kein Wunder, daß den literarischen Vorkämpfern der deutschen Bourgeoisie – den Lessing, Herder, Goethe – Spinoza mehr war als Kant.

Spinoza als ein Höhepunkt der „dogmatischen“ Philosophie erfordert kurze Präzisierung seines Standpunktes. Die Handelsbourgeoisie Hollands im siebzehnten Jahrhundert war die entwickeltste Europas. Der Adel, den die feudalen Raufereien dezimiert hatten und der bei der niederen Grundrente ökonomisch keine Rolle spielte, war kein politischer Faktor von Bedeutung. Die Kleinbourgeoisie, das zünftige Handwerk, „das Volk“, war gegen die geschlossene Kaste der Großbourgeoisie machtlos. Ihre Tendenzen waren reaktionäre.

Aus der abnormen ökonomischen und politischen Stellung der holländischen Bourgeoisie erklärt sich die abnorme philosophische Stellung Spinozas.

Worin besteht die „Dogmatik“ Spinozas? Der „Glaube“ an die Vernunft ist nicht nur Voraussetzung aller Philosophie, sondern aller Wissenschaft. Auch der „kritische“ Philosophie zweifelt nicht an der Wirklichkeit der Vernunft. Sie ist ja sowohl Gegenstand als Mittel der Untersuchung. Sie ist sinnlich gegeben, wie jedes andere Objekt. Ferner: auch der „Dogmatiker“ untersucht die Vernunft. Der Gegensatz zwischen beiden liegt in der Stellung der Erkenntnistheorie in Beziehung zum Ganzen der Philosophie.

Dem „Dogmatiker“ ist die Vernunft nur faktisches, praktisches Problem. Er forscht planmäßig, bewußtermaßen nach Metaphysik, nach unsinnlicher Erkenntnis und fördert dabei die Erkenntnistheorie. Sie ist ihm chemisches Nebenprodukt. Aber sie ist ihm noch nicht bewußtes, spezielles Problem.

Das Erkenntnisproblem greift nun der „kritische“ Philosoph als ein wirkliches, niethodisch zu erforschendes heraus. Es ist ihm zwar ein Problem der Philosophie, aber noch nicht das Problem, nur vorläufiger Zweck. Er schielt noch seitwärts nach Wolkenkuckucksheim. Dem „Dogmatiker“ aber ist die Spekulation nach den metaphysischen Gestirnen Hauptzweck. Wohl ist das gewollte Resultat schimärisch, aber eine Frucht tragen alle diese Beobachtungen: sie verbessern stetig die Kenntnis des Beobachtungsinstrumentes. Der Hauptzweck verflüchtigt sich, das untergeordnete Mittel wird faktisch kultiviert.

Der Vernunftkritiker nimmt sich bewußt das Beobachtungsinstrument vor. Die optische Untersuchung ist ihm vorläufiger Hauptzweck. Dabei läßt er instinktiv Wolkenkuckucksheim beiseite, noch nicht aus vernünftiger Einsicht. Erst mit der Einsicht in die Vernunft als das einzige Objekt der Philosophie hebt die Philosophie sich selbst auf und wird nüchterne Wissenschaft.

Einer herrschenden Bourgeoisklasse ist die politische und soziale Wirklichkeit vertnünftig. Ihr Sein stimmt überein mit ihrem Denken. Als der entwickeltsten Bourgeoisie Europas war der holländischen ihre Wirklichkeit die historische Wirklichkeit Europas. Ihr ist die Verwandtschaft von Denken und Sein kein Problem, sondern unmittelbare Tatsache. Beide decken sich, sind zwei Ansichten einer Wirklichkeit. Damit ist die „Dogmatik“ gegeben: als Ausdruck der Harmonie bürgerlicher Vernunft und bürgerlicher Wirklichkeit, der geschichtlichen Bestimmung und der geschichtlichen Wirklichkeit der Klasse.

Wir haben gesehen, wie die kapitalistische Wirtschaft die fortwährende Steigerung der Produktivkraft, stetigen Fortschritt der Naturbeherrschung durch die Naturforschung, damit aber die Betrachtung der Natur als allgemein erforschbarer, somit als durchgängig vom Kausalgesetz beherrschter, bedingt. Die wirkliche Herrschaft der Bourgeoisie, solange ihr Bestehen Hebel des allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts ist, reflektiert sich im Bewußtsein der Ewigkeit und Universalität der spezifischen Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft: die bürgerliche Vernunft ist universell, weil die bürgerliche Wirklichkeit die allgemeine Vernunft der Gesellschaft ist. Ewige und universelle Gesetze aber sind Naturgesetze. Diese selbst sind damit aber wechselseitig als ewig und universell bestimmt: die Natur selbst kennt keine Entwicklung. Das Fehlen der „Entwicklungsidee“ bei Spinoza ist daher nichts weniger als zufällig.

Die unmittelbare Wirklichkeit der kapitalistischen Gesellschaft ist das Nebeneinauder der kapitalistischen Individuen. Die Naturgesetze des Individuums sind also bei unmittelbarer übereinstimmung von Denken und Sein oder, wie Spinoza sagt, bei der Einheit von Ausdehnung und Denken in der Substanz, die Gesetze der Gesellschaft. Die spezifischen Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft erscheinen so in der Form der Naturgesetze der Psychologie des Individuums. Die Beherrschung der gesellschaftlichen Gesetze erscheint als Beherrschung der individuellen psychischen Naturanlagen. So verschwindet objektiv die Metaphysik, aber in metaphysischer Form selbst. Es ist Chemie in der Tracht der Alchimie. Die gesellschaftlichen Gesetze als spezifische Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft werden gar nicht gesehen.

So war die Philosophie Spinozas absolut ungeschichtlich. Aber sie mußte den Keim der geschichtlichen Betrachtung aus sich emportreiben, denn ihr Weltbegriff war einheitlich. Es bedurfte nur neuen Stoffes, neuer materieller Voraussetzungen, um die unhistorische Form selbst zu sprengen.

War das Holland des siebzehnten Jahrhunderts das ökonomisch am weitesten entwickelte Land Europas, so stand das Deutschland der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ökonomisch weit gegen England und Frankreich zurück. War dort die Bourgeoüie herrschende Klasse und Clique, so waren hier nicht einmal die materiellen Voraussetzungen des Kampfes der Bourgeoisie und die politische Herrschaft gegeben., Die große Industrie selbst war kaum vorhanden. Dafür aber hatte in Frankreich der Konflikt der Klassen sich aufs äußerste zugespitzt: hier waren die Bedingungen des siegreichen Kampfes gegeben. Kritisierte und revolutionierte die französische Bourgeoisie ihre eigene Wirklichkeit, so die deutsche das Spiegelbild der französischen. Die deutsche Philosophie ist die friedliche Spiegelung des Feuerscheins der französischen Klassenkämpfe. Trieben die französischen Kritiker Astronomie, so die deutschen Optik. Die deutsche Bourgeoisie revolutionierte das Denken, weil ihre Wirklichkeit erst eine gedachte war. Ihr materielles Sein ist nicht ihr ideelles.

So wird die „Kritik der Vernunft“ das Ausgangsproblem der deutschen Philosophie und damit die Erkenntnistheorie selbst faktisch, wenn auch noch nicht bewußt, das speziell aufs Korn genommene Problem der Philosophie.

Sinnlichkeit und Verstand schaffen die Erfahrung; vermittelst der Kategorien. ordnet die Vernunft die Sinnlichkeit. Die Vernunft kann aber das gemeine Feld der endlichen Erfahrung nicht überfliegen. Hat sich so die Philosophie ihres phantastischen Kleides entledigt, so hemmt sie zugleich den Flug nach dem Unendlichen. Der Universalbegriff gehörte nicht in das Gebiet des Wissen, sondern in das des Glaubens. „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“, diese Namen trägt das Metaphysikum bei Kant, sind „Postulat“ der praktischen Vernunft. Die nur teilweise Auskrystallisierung des Problems der Erkenntnistheorie läßt den Rest als amorphe Masse zurück.

Die sittliche Ordnung ist nicht Naturordnung, sondern übersinnliche, metaphysischer Abkunft. Sein und Denken, Erscheinung und Ding an sich gehören zwei grundverschiedenen Welten an. Ist die sittliche Ordnung nicht Naturordnung, ist die Vernunft „autonom“, so ist die wirkliche gesellschaftlich Ordnung nicht durch ihr bloßes Dasein notwendig. Denn hat sie in der Vernunft ihren Maßstab, so ist sie wandelbar. Als Vernunftordnung aber ist die bürgerliche Ordnung, wie sie sein soll, ewig und allgemein. Diese Anschauung ist also revolutionär, aber in reaktionärer Form, die geschichtliche Bewegung reflektiert sich in der Form der Stabilität.

Die metaphysische Welt, das Ding an sich, hat gleichen Anspruch auf Gewißheit, wie die physische. In der Tat ist die Wirklichkeit, der beide Widersprüche entspringen, eine und dieselbe: das widerspruchsvolle Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zur Natur und zu sich selbst.

Die Heraushebung des Erkenntnisproblems, der große theoretische Fortschritt Kants, wurzelt,. wie schon früher gesagt, in der materiellen Rückstäudigkeit der deutschen Bourgeoisie In der Konservierung aber der metaphysischen Welt kam der historische Fortschritt, die revolutionüre Mission des deutschen Bürgertums zum Ausdruck. Sie war die Schale, in die Kants logische Errungenschaft von seinen Nachfolgern gegossen und neue hinzugefügt wurden.

Als Ausdruck des geschichtlichen Bewußtseius des Bürgertums, als Freisetzung seiner revolutionären Energie war es, dass die „Autonomie der Vernunft“, die „Freiheit des Willens“ von dem jungen Fichte leidenschaftlich begrüßt wurde, Die Befreiung vom spinozistischen Determinismus war die Befreiung vom Stillstand. So war es auch die „Kritik der praktischen Vernunft“, die Kant populär machte.

Kein Wunder, daß die weitere philosophische Entwicklung, die sich in Hegel vollendet, vom platt-vernünftigen Standpunkt aus als eine „unbegreifliche Verirrung“ erscheint, in der die reellen Ergebnisse der Kantschen Erkenntnistheorie verschwinden.

Zwischen Kant und Hegel liegt die französische Revolution, die Fleischwerdung der Vernunft, und ihre Einwirkung auf das feudale Europa. Die „Logik“ Hegels wurde unter dem Kanonendonner der Schlacht vou Jena vollendet.

Die absolute, ewige Vernunft hatte statt vernünftiger widerspruchsloser Ordnung Widerspruch um Widerspruch aus sich hervorgetrieben, die riesenhaftesten sozialen und politischen Umwälzungen gebracht. Die Vernunft verwirklichte sich als zeitlich sich entwickelnde Unvernunft. Die Ordnung selbst erschien als Unordnung. Das Kind der französischen Revolution ist die lange deutsche Reaktionszeit. Die Reaktion ist die negative Revolution: der Stoß in der Form des Widerstandes.

Damit man die materielle Voraussetzung, des Entwicklungsgedankens gegeben. Die Vernunft ist jetzt nicht mehr stabil in sich ruhend, sondern in der geschichtlichen Entwicklung zu sich kommend: alles Wirkliche ist vernünftig. Aber das Sein ist mit dem Nichts Moment des Werdens.

Gemäß den allgemeinen Voraussetzungen der deutschen Philosophie konnte der Entwicklungsgedanke nur in idealistischer Form auftreten. Diese ist bei Hegel vollendet und treibt so unmittelbar über sich selbst hinaus. Denken und Sein, Erscheinung und Ding an sich fallen ihm in eine Einheit zusammen: in das Denken. Die Wirklichkeit ist Produkt der „Idee“, der Geist erzeugt die Sinnlichkeit. Ist die Philosophie so einheitlich, so ist sie universell. Erscheint auch das Ideelle als das Wirkliche, die Logik als Ontologie, so wird dadurch erst der Universalbegriff der Wissenschaft, wenn auch der mystisch verkleideten, gewonnen.

Dem oberflächlichen Blick allerdings scheint bei Hegel das nüchterne Ergebnis Kantscher Erkenntniskritik in metaphysischen Nebel verloren. In der Tat hat sich bei Hegel scheinbar das Kantsch Ergebnis aufgelöst. Er fällt scheinbar in die von Kant vernichtete „Metaphysik“ und „Dogmatik“ zurück. Aber indem die Metaphysik logische Wissenschaft wird, Sein und Denken Einheit gewinnen im Denken, wird, was bei Kant Gebiet des Glaubens, Gebiet der Wissenschaft. Die Vereinheitlichung aber und Universalität der Erkenntnistheorie bedingte ihre mystische Form. Der metaphysische Nebel umfaßt bei Hegel Himmel und Erde; die logische Wissenschaft selbst ist unendlich bereichert. Die Gesetze der Dialektik erscheinen zwar als Schöpfer der Wirklichkeit, aber damit war die Dialektik selbst zuerst als wirkliche Wissenschaft erschöpfend behandelt. Die Gesetze der Dialektik sind zwar Weltgesetz, aber nur in dem Sinne, daß das Denken selbst Attribut des Universums und zugleich universelles Attribut ist.

So feiert in Hegel die Universalität Spinozas ihre Auferstehung. Von Kant hatte seine Philosophie den Idealismus und Kritizismus übernommen. Kant liefert die revolutionäre und höhere wissenschaftliche Form. Durch sie setzt Hegel den universalen, aber starren und in der Form „dogmatischen“ Inhalt Spinozas in einen revolutionären, prozessierenden um.

Sobald die reflektierten, ideellen historischen Widersprüche zu wirklichen herausreiften und sich das Bürgertum revolutionär fühlt, konnte sich aus dem metaphysischen Nebel die Errungenschaft des Idealismus handgreiflich niederschlagen.

Feuerbach war es, der die letzte Konsequenz der Philosophie zog und sie damit auflöste. Die Dialektik wird ihm Waffe zur Auflösung des religiösen Bewusstseins. Er entdeckt die Herkunft der religiösen Phantasie an der profanen Wirklichkeit. Das Verhältnis des Menschen als Gattung zur Natur reflektiert sich in der religiösen Phantasie, deren letzter wissenschaftlicher Ausdruck die Metaphysik. Das religiöse Bewußtsein und damit die Metaphysik ist Produkt des Menschen als Gattung.

An ihn knüpfen Marx-Engels an. Der wirkliche Gegensatz der Klasse des Proletariats liefert ihnen den konkreten Inhalt des „Gattungswesens“ des Menschen.

Feuerbach ist der Mensch Gattungswesen als abstraktes Naturwesen, als Ausprägung des genus homo.

Das spezifische proletarische Klasseninteresse ist zugleich das allgemeine Gesellschaftsinteresse, das Gattungsinteresse.

Erst Marx und Engels konnten also entdecken, was Feuerbach übersehen mußte: die wirkliche Form des Gattungsbewußtseins des Menschen, die geschichtliche Erscheinung des Gattungsbewußtseins in der widerspruchsvollen Form des Bewußtseins sich widersprechender Klassen. Es war die proletarisch Wirklichkeit, die durch Marx-Engels hinter der Feuerbachschen Abstraktion ihre geschichtliche Erscheinungsform entdeckte. Faßt sich die bürgerliche Klasse als ewige, allgemeine, so setzt sie sich überhaupt nicht theoretisch als Klasse, sie übersieht ihre spezifische geschichtliche Bestimmtheit und erscheint sich selbst als abstrakter, allgemeiner Mensch. Nur der Widerspruch der proletarischen und kapitalistischen Wirksamkeit setzt beide Klassen in ihrer historischen Bestimmtheit. Solange aber sich das Bürgertum noch als das allgemeine revolutionäre Interesse der Gesellschaft vertretend fühlt, muß es sich selbst als Vertreter des abstrakten allgemeinen Menschen vorkommen. Daran mußte Feuerbach als bürgerlicher Philosoph scheitern.

Marx-Engels erweitern und verkörpern die Feuerbachsche Abstraktion: das gesellschaftliche Denken stammt aus dem gesellschaftlichen Sein. Damit war das Fundament des historischen Materialismus gelegt. Jetzt erst konnte aber auch die alte Meta.physik allgemein umgewälzt werden. Denn die gedachte Unbeherrschbarkeit der Gesellschaft, damit der Mangel einer naturwissenschaftlichen materiellen Methode der Erforschung der Gesellschaftsentwicklung, war ihr letztes Fundament. Ist die Gesellschaft ebenso beherrsch- und erforschbar wie die Natur, so ist der Geist also allgemeines Forschungsinstrument erkannt. Ist das Universum allgemein vernünftig, so ist die Vernunft selbst weltlich. Das Denken stammt aus dem Sein, ist mit ihm einer Natur. Die Philosophie wird so aus allgemeiner Wissenschaft, aus Spekulation, die Spezialwissenschaft des Allgemeinen, des Erkenntnisorgans: Dialektik.

Das Marx-Engelssche Ergebnis auf die spezielle Erforschung der Erkenntnis angewandt zu haben, ist das große Verdienst Joseph Dietzgens.

Nur die Klasse, die allgemeine Klasse ist, kann das Allgemeine selbst klassifizieren. Sie muß die Dialektik als allgemeine Vermittlung der Widersprüche entwickeln.

Diese muß der Bourgeoisie als Klasse, deren spezifisches Interesse die Ewigkeit der Klassenherrschaft, damit die absolute Nichtvermittlung des Klassengegensatzes die ewige und absolute Verschiedenheit der Klassen überhaupt erfordert, unzugänglich sein. Ihr bleibt das Bewußtsein überhaupt überschwängliches, unerforschliches Mysterium. Sie ist nicht imstande, den Universalbegriff zu fassen.

Bietet die Arbeit von Marx-Engels die unmittelbare Grundlage von Dietzgens Forschung, so bietet die letztere die universelle erkenntnistheoretische Basis zur ersteren. Auch in der Erkenntnistheorie ist der Sozialismus der bürgerlichen Wissenschaft um ein volles geschichtliches Alter voraus.

Wird jetzt von der bürgerlichen Gelehrsamkeit noch einmal die verschimmelte Metaphysik hervorgeholt, so wissen wir, was davon zu halten sei. Wir wissen, das die „reine Wissenschaft“ nur Reflex der bourgeoisen Klassenwirklichkeit ist. War aber die Metaphysik in der Hand der Kant, Fichte, Schelling, Hegel Ausdruck des historischen Fortschritts der Bourgeoisie, so wird das Tote heute nur wieder lebendig, weil das Leben selbst, das sie reflektiert, tot ist.

Je verzweifelter die Angriffe der bürgerlichen Welt auf die Grundlagen der proletarischen Wissenschaft sind, um so notwendiger ist die Beschäftigung mit ihnen. Denn wissenschaftliche Gründlichkei ist Voraussetzung der einhelligen und zweckmäßigen Praxis. Die abstrakte Theorie wird so konkrete Praxis. Um so mehr als der falsche Glanz der zünftigen Universitätsphilosophie manchen Kopf verwirren kann und verwirrt hat, der mit den Grundlagen der proletarischen Wissenschaft nicht vertraut ist.


Zuletzt aktualisiert am 21.08.2010