A. Thalheimer

 

Der Schöngeist – oder der moderne Menschenforscher

(1909)


Quelle: Die neue Zeit, 27. Jg. (1908-1909), 2. Bd.(1909), H. 36, S. 292-298.
Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wir Sozialisten sind keine Personenanbeter – die Sache steht uns höher als die Person. Wir halten beide auseinander, aber nicht so himmelweit, daß wir sie nicht auch zu vereinigen wüßten. Wir sind Dialektiker, die wissen, daß die allgemeine Leistung der Person persönliche Leistung des Allgemeinen. Wenn bürgerlicher Mißverstand uns nach Laune bald Personenkultus, bald Personenverachtung vorwirft, so beweist er, daß er vom Verhältnis der Person zur Sache, des Besonderen zum Allgemeinen, nichts begriffen hat.

Wenn wir also das neueste Porträt von Marx, das Herrn Sombarts Künstlerpinsel entworfen hat [1], inspizieren, so tun wir das in der Hoffnung, vom wissenschaftlichen Sozialismus selbst ein neues Bild zu bekommen. Sollte es wider alles Erwarten damit nichts sein, so werden wir dafür vielleicht im Porträt die schätzbare Person des Portätisten selber erforschen.

Wider alles Erwarten, sage ich; denn im ganzen Stücke schmettert Herr Sombart mit vollen Backen die Trompete zum Ruhme des Herrn Sombart, und zwar auf eine sehr subtile Weise.

„In den Geisteswissenschaften“, heißt es, „trägt jede Leistung einen persönlichen Charakter, und wenn es auch nur (wie meist) der Charakter der Stümperei ist.“

Wie zart ist doch damit angedeutet, daß wir keinen Stümper vor uns haben! Tief unter unserem Meister der freien Künste liegen „unsere Schulmeister“, die „professoralen Huzelmännchen“, der „ausgedörrt Professor“ mit seiner „sterilen Begriffsspielerei“, die „belanglosen Privatdozenten“, der „beliebige Ordinarius der Ökonomie“.

Auch was Engels über Marx gesagt hat, läßt unseren Denker „ganz und gar unbefriedigt“. Und ganz gottverlassen ist natürlich erst die gemeine Herde der “Gläubigen“, die „sozialistische Kirche“, der „grobe Destillenbudiker“, die „Agitatoren zweiten und dritten Ranges“ samt dem „profanen vulgus zu ihren Füßen“

Das ist eine etwas eigentümliche Ausdrucksweise für jemand, der Marx „als eine rein objektive Erscheinung historisch zu werten vermag“. Aber immerhin, Taten beweisen! Vorher aber noch eine Warnung! Nur Leser die an Höhenluft gewöhnt sind, können wir danach raten, mit uns dem erhabenen Genius in seinem Fluge zu folgen.

Zu den Taten endlich! Die Bedeutung Marx’ für die „soziale Bewegung“ findet Herr Sombart mit der Herde der „Marxgläubigen“ in der Aufstellung der Vergesellschaftung der Produktionsmtttel als ihr Ziel, des Klassenkampfs als Weges. Das „genügt für die Bewegung“, trotzdem seine Schriftm „arm sind an sozialen Ideen, arm an politischen Gedanken, arm an warmen, eindringlichen Tönen“. Mit dieser Armut an politischen und sozialen Ideen kann offenbar nur gement sein, daß Marx „gar kein deutliches Bild von der erstrebten Zukunft zeichnete, auch die Ausführung des Klassenkampfes im einzelnen dem Belieben überließ“. Das also macht unserem Geistesheros Skrupel! Zwar weiß jeder „grobe Destillenbudiker, daß das logische Bewußtsein erfordert, die Zeit und den Umständen die nähere Spezialisierung zu überlassen, daß wir keine phantastischen Projekte in die blaue Luft bauen, sondern warten, bis uns der sinnliche Stoff zum Bauen vorliegt. Wie töricht von uns, uns auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu engagieren, ehe mir wissen, wie etwa das Verkehrswesen im „Zukunftsstaat“, im „Jenseits“ aussieht, ehe wir die Fahrpläne der Zukunftseisenbahnen ausgearbeitet und womöglich auch den Professoren ihre Stelle zugewiesen haben! Tut nichts: „‚Der gläubige Marxist‘ konnte nun auch allen unbequemen Fragen, wie denn der Zukunftsstaat ‚möglich‘ sei, mit einem mitleidigen Lächeln begegnen, wiederum wie der Christ, den man nach der Einrichtung des Himmels fragt. Da der Himmel den Gläubigen versprochen sei, werde er auch wohl möglich sein müssen.“

Das war „fiktiver Wert“ Nr. 1 der Marxschen Lehre.

Noch ein zweiter „fiktiver Wert“ wirkt auf den „gemeinen Mann“, wie Herr Sombart aus der „sozialdemokratischer Presse, die sich streng zum marxistischen Dogma bekennt“, und aus den Reden der „Agitatoren~zweiten und dritten Ranges“ konstätiert hat. Marx’ Kapital ist bekanntlich ein Werk der Wissenschaft, und die Wissenschaft hat es bekanntlich zu tun mit dem, was ist, und nicht mit dem, was sein soll. Das sieht Herr Sombart mit der Herde und ist nicht wenig stolz darauf. Aber, aber ...

„für einen sicher sehr großen Teil der Marxgläubigen hat der Meister den Nachweis erbracht: daß die Arbeiter einen Teil ihrer Arbeit dem Untemehmer unbezahlt zur Verfügung stellen müssen, daß daß ‚Ausbeutung‘, niederträchtige, gemeine Ausbeutung ist, und daß man die Hunde totschlagen müsse. ‚Von Rechts wegen‘.“

So wörtlich zu lesen auf S. 24.

Drehe dich im Grab um, Stieber, du bist überstiebert. Wie weit war doch der Horizont des Polizeihirns, wie penibel sein Gewissen. Wie sehr haben wir dich verkannt, armer Schelm! Allerdings hattest du kein „gut Teil deines Lebens hingegeben, um für Marx zu kämpfen“, und allerdings warst du nicht mit der Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts gepanzert.

Es hieße den Verstand der Arbeiter beleidigen, wollten wir ihnen noch auseinandersetzen, wie sich das „Muß“ der Geschichte mit dem „Soll“ vereinigt. Diesen einfachen Sachverhalt aber in einer Art zu demonstrieren, die dem „intellektuellen Niveau“ des „geistig verfeinerten Denkers“ entspricht, geht – wir müssen es gestehen – über unsere Kraft.

Folgt die Würdigung von „Marxens“ theoretischem „oeuvre“. Nachdem vorausgeschickt die „überragende große Bedeutung“ Marx’ für unsere Wissenschaft, daß er „einer der ganz großen Denker“, folgt die nonchalant-bescheidene Bemerkung, daß der Verfasser „den Nachweis zu führen versucht hat, daß die Verelendungstheorie falsch, die Zusammenbruchstheorie unbegründet, die Konzentrationstheorie und die Sozialisierungstheorie einseitig und unvollständig sind. Daß somit auch die Gesamttheorie der kapitalistischen Evolution haltlos geworden ist, die ja von jenen Einzeltheorien getragen wurde.“

Ebenso windig steht’s mit dem Anspruch der „materialiftischen Geschichtsauffassung“ auf ihre Geltung als „Gesetz“. Sie ist kein „Gesetz“, sondern „ein glückliches heuristisches Prinzip, das sich mit Nutzen bei der Anordnung historischen Tatsachenmaterials verwenden läßt“.

Vom Wertgesetz wissen wir, „daß wir die Marxsche Formulierung bestenfalls als heuristisches Prinzip für die Klarlegung bestimmter ökonomischer Zusammenhänge verwerten können, daß sie aber ganz und gar nicht der theoretische Ausdruck für empirisches Geschehen ist. ‚Uns‘ erscheint die Mehrwertbildung ohne weiteres als ein psychologisch und sozial begründeter Vorgang des täglichen Lebens verständlich.“ Kein Wunder, daß unser Herr Professor angesichts der; „geheimnisvollen Wichtigtuerei“ von Engels, aus dem Wertgesetz den Mehrwert abzuleiten, „ein Lächeln nicht unterdrücken kann“.

Das eigentliche ökonomische Fach, „den technischen Hilfsapparat nationalökonomischer Gesetze“, hat Marx kaum vermehrt. „Was hierin Marx geleistet hat, ist „herzlich wenig und nicht zu vergleichen mit dem, was uns Geist minderen Ranges – Ricardo, Senior, v. Thünen, Jevons und andere – hinterlassen haben“. Derartige Leistungen sind überhaupt nicht der Rede wert; denn „zumal in unserer Zeit ist die Beschäftigung, die sich auf die Vervollkommnung des technischen Apparats der sozialen Wissenschaften richtet, zu einer wahren Schusterarbeit geworden, die recht und schlecht von einem beliebigen Ordinarius der Nationalökonomie ausgeführt werden kann“. Marx hat also keinen Grund, sich zu schämen, wenn er in derartigen „Schusterarbeit“ nichts geleistet hat.

„Es fehlte ‚Marxen‘ für derartige Gesetzesschmiederei ein notwendiges Requisit: die : Abstraktionskraft und in weiterem Sinne – die Verstandesschärfe ... Seine Begriffe sind oft genug mehrdeutig und verschwommen ... so daß manche Partien des Kapital als Seminararbeiten eine ganz schlechte Note verdienten.“

Aber auch nur Schulmeister können sich darüber aufhalten. Handhabung der Begriffe, Abstraktionskraft, Verstandesschärfe – Professorenrequisiten, die für den „ganz Großen“ entbehrlich sind.

Es ist hart, derartiges suffisantes, großmäuliges Gewäsche abschreiben zu müssen. Aber es war nötig, dem „gemeinen Volke“ den Scharlatan in Lebensgröße zu zeigen.

Oder kann etwa ein anderer als ein ausgemachter Scharlatan Lesern, die ihre fünf Sinne beieinander haben, einen Mann der Wissenschaft als einen „ganz Großen“ bejauchzen und ihn gleichzeitig als Schwachkopf erster Güte darstellen? Als einen Schwachkopf erster Güte: denn welcher beliebige Straßenpassant weiß nicht, daß „Abstraktionskraft“ und „Verstandesschärfe“ nicht nur dem Forscher, sondern überhaupt den urteilafähigen Menschen machen? Wohlgemerkt, ich lasse dahingestellt, ob Marx die Eigenschaften des gewöhnlichsten urteilsfähigen Menschen besessen hat oder nicht; welche Stirne gehört aber dazu, für wie dumm muß Herr Sombart den Leser halten, dem er derartiges zu bieten wagt!

Die „Denkschärfe“ und „Abstraktionskraft“ des Herrn Sombart selbst strahlt aber in voller Glorie in seinem Exkurs über Erkenntnistheorie, der die allgemeine Grundlage seines Opus bildet. Wir würden nicht darauf eingehen, wenn es sich hier nur um Herrn Sornbart handelte. Die Erkenntnistheorie ist Ausdruck der Bourgeoiswissenschaft überhaupt, und zwar ihr allgemeinster. Sie kennzeichnet die Klasse wie die faule Wurzel den Baum.

Um von dem rhetorischen Brei abzusehen, in den Herr Sombart seinen Gegenstand eintaucht, so gibt es nach ihm zwei „grundverschiedene“ Arten von Erkenntnis, die naturwissenschaftliche und die geisteswissenschaftliche; die eine praktizieren die Naturforscher, die andere die „Menschenforscher“.

Worin besteht nun die „Wesensverschiedenheit“ der zwei Erkenntnisarten?

„Wir können (oder wollen)“, antwortet Herr Werner Sombart, „die Natur als die ewig gleiche betrachten ... Aber wir können (oder wollen) Meuschentum nicht betrachten als Ausfluß der Naturkräfte, weil wir aus diesen die eigentlich wirksame Kraft in allem Menschentum nicht zu erklären, nicht aufzubauen vermögen: die menschliche Persönlichkeit, die Seele.“

Der Mann redet von „Gläubigen“!

Die Naturprozesse „sind das Werk ewig gleich wirkender Naturkräfte“, die Geschichte aber „das Werk einer sonderbar gestimmten, nie wiederkehrenden Betätigung menschlicher Charaktere“.

Allerdings, sehr „sonderbar gestimmt“ das! Der Sinn dieses Kauderwelsches ist der: in der Natur liegt den Veränderungen ein Beharrliches zugrunde, die „Naturkräfte“, in der Geschichte gibt es Veränderungen ohne ein Beharrliches. Veränderung ist, wie das Wort zeigt, der Übergang von Etwas in ein Anderes. Die Verschiedenheit des Etwas von dem Anderen ist eben die Veränderung. Wie kann aber von Verschiedenheit zweier Dinge die Rede sein, die kein Gemeinsames haben? Am Gemeinsamen mißt sich ja die Verschiedenheit, am Beharrenden die Änderung, das Werden. Eine Veränderung ohne ein Beharrliches behaupten, heißt behaupten, daß es Begriffe gibt, die so „grundverschieden“, daß sie in keine gemeinsame Gattung zusammengehen, daß es Kinder des unendlichen Universums gibt, die die universale Natur der Mutter nicht teilen, daß es noch etwas gibt außerhalb des Inbegriffs alles Seienden.

Kein Wunder, daß unser überweltlicher Logikus von der armseligen menschlichen Logik eine sehr geringe Meinung hat. Immerhin gehört, wir wollen es gestehen, ein sehr guter „Abstrahist“ dazu, um auf derartige tiefgründige Weisheit zu kommen, nämlich ein „Abstrahist“ von aller menschlichen Logik.

Weiter zu den „Grundverschiedenheiten“! „Die Natur erkennen“, sagt Sombart weiter, „heißt sie beschreiben, heißt die beobachteten Vorgänge auf eine Formel bringen, heißt Ursachen hypostasieren, von deren Wesenheit wir nichts wissen.“

Daß „wir“ von der „Wesenheit“ nichts wissen, ist allerdings vollkommen richtig, in der Voraussetzung, daß der Herr Professor im pluralis majestaticus spricht oder bei seinen Lesern gleiche Ignoranz unterstellt.

Es handelt sich um das Verhältnis von Erscheinung und Wesen. Wie gewinnt der Verstand das „Wesen“ aus der „Erscheinung“? Indem er aus den besonderen Erscheinungen das Allgemeine herauszieht. Die gemeinsamen Bestimmungen eines gegebenen Kreises von Erscheinungen sind ihr „Wesen“, die Einheit des Mannigfaltigen. Wesen und Erscheinung verhalten sich also, wie sich das Allgemeine zum Besonderen, die Einheit zur Vielheit verhält. Es ist das Wesen des Verstandes, jede Vielheit in eine Einheit zusammenzufassen, jede Einheit in eine Vielheit zu zergliedem. Jedes Wesen erscheint, alle Erscheinung ist wesenhaft. In der Erscheinung erscheint also das Wesen. Jeder Prozeß ist Erscheinung im Verhältnis zum Übergeordneten, Allgemeinen, Wesen im Verhältnis zum Untergeordneten, Besonderen. Daß wir vom „Wesen“ „nichts wissen“, heißt, daß das Allgemeine nicht der Inbegriff des Besonderen, die Einheit noch etwas sein soll außerhalb der unter ihr begriffenen Mannigfaltigkeit. Das ist allerdings höchst angemessen dem Niveau „des geistig verfeinerten Denkers“. Es bleibt also dabei, „Naturerkennen“ bedeutet „eine Umschreibung von Vorgängen, von deren innerem Zusammenhang wir nichts wissen“. Daß es eben das Innere ist, was sich äußert, daß das Äußere die Bestimmung des Innern – das entwickelte zwar schon Hegel, der dafür aber auch nicht die Ehre hat, zu den „wir“ zu gehören.

Weiter im Text!

„Den Menschen und sein Handeln erkennen, heißt: erklären, deuten aus eigenem Erlebnis, heißt Gründe nachweisen, von denen wir aus uns selbst heraus Kunde haben, die wir somit kennen ... Ich kenne die letzte Ursache nicht, die den Stein zum Fallen bringt; denn, wenn ich sie ‚Schwerkraft‘ nenne, so setze ich ein Wort ein, ohne darum tiefer in die Sache zu dringen. Wenn aber jemand dem anderen den Schädel mit einem Stocke einschlägt, so vermag ich hierfür Gründe anzugeben, weil ich die Handlung, die zum Schädeleinschlagen geführt hat, aus meiner Seele zu erklären vermag. Wer möchte sagen, warum die Erde um die Sonne kreist. Aber warum Romeo um Julia, Napoleon um England, der Jobber um die Börse kreisen: das weiß ich, denn wiederum habe ich’s erlebt.“

Dieses belletristische Geschwätz charakterisiert den Mann. Nehmen wir die nonchalante Begriffsverwirrung, abgesehe von der „schöne Form“, etwas unter die Lupe.

Aus Seelenregungen, die bestimmte Merkmale gemein haben, die ich „erlebt“, „erfahren“ habe, gewinne ich etwa den Begriff „Liebe“. Die Sinnlichkeit gab mir das Mannigfaltige, das Erlebnis. Der Leser stutzt. Ist das Erlebnis, die Empfindung schon die Erkenntnis Der Professor sagt’s und ist ein ehrenwerter Mann. Lassen wir ihn. Erkenntnis ist Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand. Ohne Verstand keine Einheit, ohne Sinnlichkeit keine Mannigfaltigkeit. Die Einreihung der zarten Beziehungen zwischen Romeo und Julia unter den so gewonnenen „Begriff“ macht das Erlebnis zur Erkenntnis. Zum Begriff gehört also nebenbei das Begreifen. Ebenso begreife ich den Steinfall, indem ich das Allgemeine verschiedener „erlebter“ Steinfälle suche und aus ihnen das Fallgesetz destilliere. Der Leser sieht, daß beides Erkennen ein und derselbe Prozeß ist. Der Steinfall ist nicht mehr und nicht minder „Erlebnis“, „Empfindung“ wie die Liebe.

Dem Professor ist die Empfindung, das Erleben schon Erkenntnis. Der Verstand ist überflüssig.

Den Abschluß des Rittes ins philosophische Land bildet ein Diskurs über Notwendigkeit und Freiheit, über die Geltung der Naturgesetze und der geschichtlichen Gesetze. Über die Geltung der Naturgesetze werden wir folgendermaßen belehrt:

„Das Fallgesetz, das Verbrennungsgesetz stelle ich auf in der stillschweigenden Annahme, daß, solange unsere Irdischkeit dauert, Stoff und Kräfte dieselben bleiben, die den Stein zum Fallen, das Holz zum Brennen bringen, und daß sie stets in derselben Wirksamkeit andauern werden.“

Warum könnten denn nicht, Herr Professor, während oder vielleicht nach unserer Irdischkeit die Steine den Einfall kriegen, vom Erdmittelpunkt wegzufliegen oder dem Holz beifallen, im Feuer zu gefrieren, statt zu verbrennen „Wir“ „nehmen es stillschweigend an“, bekennen also unsere krasse Ignoranz der ersten Elemente der Denklehre.

Naturgesetze gelten ewig, historische Gesetze für eine bestimmte, einzige historische Epoche. Folglich haben historische Gesetze mit Naturgesetzen nichts zu tun; sie sind überhaupt keine Gesetze. Kann es etwa Einfacheres geben?

Sehen wir zu.

Was besagt die „Ewigkeit“ zum Beispiel des Fallgesetzes? Nichts weiter, als daß es die Natur unseres Denkvermögens nicht zuläßt, dem, was ich Stein heiße, jetzt und in aller Zukunft die Eigenschaften des Wasserdampfes oder der Heinzelmännchen zuzuerkeunen. Solange Name und Begriff Sinn behalten sollen, muß der ledige Stein fallen, der Bär brummen, der Proletarier Mehrwert erzeugen, der Kapitalist ihn einsacken und der Professor den Kapitalisten verklären.

In dieser Hinsicht sind alle Begriffe und Gesetze ewig, stabil. Ebensosehr aber sind sie veränderlich und elastisch, um sich dem Flusse des Weltprozesses anzuschmiegen. Sie sind, wie ihr Urbild, stabil und flüssig zugleich.

Die Gravitation ist ewig sich selbst gleich, und erscheint doch in unendlich prozessierender, veränderlicher Form, im stetigen Werden und Vergehen der Weltkörper.

Aber welches ist das Beharrliche der geschichtlichen Entwicklung, welche Konstante hat sich in der Entwicklung vom Urmenschen bis zum modernen Kapitalisten auseinandergelegt? Es ist bekanntlich die stetige Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeit, die den durchgehenden Faden aller Geschichte bildet. Der Trieb, die Arbeit immer produktiver zu machen – was ist er anderes als die Wechselwirkung der werkfähigen und wirkenden sinnlichen und geistigen Organe des Menschen und der Natur? Die Konstante der menschlichen Natur bei aller möglichen Veränderung ist dieselbe logische Notwendigkeit wie die Konstanz der Natur des Feuers und des Wassers, Dieselbe Notwendigkeit, die die angeborene Schwerkraft des Weltkörpers im rastlosen kosmischen Werden sich auswirken lässt, lässt im historischen Prozeß die angeborenen Kräfte des Menschen sich entfalten. Beide sind ebenso ewig wie historisch.

Welche „Verstandesschärfe“, in dem „Muß“ des Gewinnstrebens des Kapitalindividuums nur die größere oder kleinere Stärke des individuellen Schachertriebs, eine „ganz bestimmte (keineswegs immer vorhandene) Seelenstimmung“ zu sehen, und nicht im „Gewinnstreben“ der Kapitalistenklasse die besondere zeitliche Form des ewigen, allgemeinen Produktionstriebs der Menschheit überhaupt, in der unmenschlichen Kapitalform der Produktionsmittel nicht eine Entwicklungsstufe menschlicher Produktionsmittel zu begreifen!

Man sieht, wie der blinde Baalskult seine Priester selbst für die zeitliche Größe und Notwendigkeit ihres Götzen blind macht.

Die Notwendigkeit der kapitalistischen Entwicklung ist die Notwendigkeit der geschichtlichen Entwicklung des Menschen; sie ist ein „Muß“ vom selben Kaliber wie das Muß des Steinfalls.

Warum hat nun der Nationalökonom mit der Psychologie etwa des Kapitalisten sich nicht abzugeben, warum hat er nicht eine lange Auseinandersetzung des „Gewinnstrebens“ und ähnlicher Schönheiten zu liefern? Aus demselben Grunde, aus dem der Astronom die Bewegungen der Gestirne beobachtet und ordnet, aber nicht Abhandlungen über die „Schwerkraft an sich“ schreibt. Vielleicht tun das die Astronomen mehr instinktiv; das logische Bewußtsein weiß, daß die Schwerkraft nichts ist außerhalb der Erscheinung der schweren Körper selbst; ebenso ist die Erkenntnis des kapitalistischen „Gewinnstrebens“ die logische Ordnung der kapitalistischen Erscheinungen selbst.

Der Leser kann nun auch ermeffen, was es mit Marx’ „mangelnder Verstandesschärfe“, „mehrdeutigen und verschwommenen Begriffen“, „mystischer Hegelei“, „verzopfter Systembildung“, „scholastischer Dogmenregistrierung“ usw. auf sich hat.

Es ist das Faktum, daß Marx’ Kapital auf dem Webstuhl der Dialektik gewebt, daß Marx das logische Werkzeug mit gründlicher Einsicht in seine Natur, mit genialer Meisterschaft handhabt.

Die logische Einsicht unserer professoralen Blüte kapitalistischer Intelligenz glauben wir handgreiflich genug demonstriert zu haben. Wie die logische Borniertheit des Kapitalsdieners seiner Klassenborniertheit entspringt, ihr notwendiger Ausfluß ist, wird unseren Lesern nicht schwer werden, auszufinden. Das undialektische Subjekt mag ihnen reizvolles dialektisches Objekt sein.

Zum heiteren Schlusse noch eine kleine Auslese aus dem reichen Blütenkranz, mit dem Meister Sombart, nachdem er es zu seinesgleichen frisiert und abgewürgt, sein Opfer kränzt.

„Er (Marx) entdeckte die Subjekte des Kapitalismus: die kapitalistischen Unternehmer ... und wußte aus ihrer Psyche heraus das ganze große Getriebe der marktmäßig organisierten Wirtschaft zu erklären. Damit hatte er aber noch mehr entdeckt: den Menschen, den lebendigen Menschen als Gegenstand sozialwissenschaftllcher Forschung überhaupt ... die künstlerischen Valeurs, die das Oeuvre von Marx so über alles Normalmaß emporhoben ... das seltsame Dämonische, das in Marx steckt, der Harm (???), das Michelaugeleske, das Titanenhafte an ihm ... seine Wirksamkeit als Kunstwerk, als Zeitenspiegel ... sozialer Schauer ... in einsamer Höhe thront Karl Marx ... in alle Ewigkeit groß und erhaben ... seine Schönheiten zum Genuß bietet“ usw. usw.

Genug des hysterischen ästhetischen Bombasts, auf den der Lebende die Antwort nicht mit dem Munde geben würde.

Des einfältigen alten Spinoza Devise: nicht verlachen noch verachten sondern erkennen, die Herr Sombärt in die modernere Form gebracht hat: nicht verstehen noch begreifen, aber verhimmeln, sie mag uns zur Entschuldigung dienen für das Maß an kaltem Blute, mit dem wir unser Objekt seziert haben.


Fußnote

1. Werner Sombart, Das Lebenswerk von Karl Marx, Jena 1909, Verlag von Gustav Fischer.


Zuletzt aktualisiert am 21.08.2010