August Thalheimer

 

Brief an Clara Zetkin

(23. November 1928)


E. Reuter, W. Hedeler, H. Helas, K. Kinner (Hrg): Luxemburg oder Stalin. Schaltjahr 1928 – Die KPD am Scheideweg, Karl Dietz Verlag, Berlin 2003, S.117-121.
Kopiert mit Dank von der jetzt verschwundenen Webseite der Marxistischen Bibliothek
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Liebe Genossin Clara [Zetkin]!

Ich hoffe, daß Sie sich in Kislowodsk gut erholt haben. Ich war im Sommer mit meiner Frau für einige Wochen im Schwarzwald und am Bodensee, was uns beiden sehr gut getan hat.

Wie ich von Heinz B[randler] erfuhr, haben Sie ihn vor seiner Ausreise noch telegraphisch vor „Unbesonnenheiten“ gewarnt. Ich nehme an, daß Ihnen nicht bekannt war, daß H[einrich] B[randler] diesen Schritt nicht auf eigene Faust unternahm – nur dann könnte man von einer Unbesonnenheit reden –, sondern in völliger Übereinstimmung aller derer hier, die auf dem Boden derselben Auffassungen stehen. Aus den Unterredungen, die H[einrich] B[randler] mit Molotow und Stalin führte, ging ferner klar hervor, daß die Absicht bestand, ihn dauernd drüben zu halten. Vielleicht [ist] es bei mir ein Mangel an „Bolschewisierung“, aber ich bin der Auffassung, daß die Praxis jahrelanger Verbannungen gegenüber Parteigenossen an sich eine phantastische Sache ist, und daß man umgekehrt sich fragen muß, ob es vom revolutionären Gesichtspunkt aus zulässig war, das mehr als 4 Jahre über sich ergehen zu lassen. Mehr als zwei Jahre waren es, seit der Beschluß aufgehoben worden ist, der uns die Beteiligung an der deutschen und internationalen Parteiarbeit verbot, und daß die Durchführung dieses Beschlusses beharrlich sabotiert wurde. Sie kennen ja die Einzelheiten dieser Geschichte genügend, Sie kennen auch die Motive, und ich brauche Ihnen wohl nicht zu beweisen, daß diese Motive mit den wirklichen Interessen weder der KPD noch der Komintern etwas zu tun haben.

Von zweien Dingen eines: entweder wir waren der Meinung, daß unser Standpunkt und seine Verfechtung im Interesse der Bewegung liegt. Dann waren und sind wir verpflichtet, dafür zu kämpfen, und wenn man das mechanisch zu verhindern sucht, uns die Möglichkeit dafür selbst zu verschaffen. Oder wir hielten den Kurs Stalin-Thälmann für richtig, dann mußten wir offen unseren Standpunkt aufgeben und uns so für das „bolschewistische“ ZK der KPD erklären, wie man uns 6 Wochen vor der Erledigung der Maslow und Ruth Fischer aufgefordert hatte, uns hinter dieses „bolschewistische“ ZK zu stellen. Die dritte „Möglichkeit“, an unserem Standpunkt festzuhalten und gleichzeitig durch weitere Fügsamkeit die Zustimmung zu unserer dauernden politischen Lahmlegung geben – das ist eine Unmöglichkeit, weil ein handgreiflicher Widerspruch. Vielleicht sollten wir noch ein fünftes, sechstes oder zehntes Jahr „hoffen“, daß inzwischen drüben oder hier „von selber“ die „Vernunft“ einkehre? Was daraus herauskommt, zeigt klar genug das Schicksal des Offenen Briefes, der als Halbheit eine Episode bleiben mußte und durch einen erneuten und verschärften Rückfall in die Maslowiterei abgelöst wurde. Von selber setzt sich nichts durch. Ein Standpunkt, der sich durchsetzen soll, muß verfochten werden. Muß ich Ihnen noch beweisen, daß das Schicksal unserer Partei und der proletarischen Revolution in Deutschland daran geknüpft ist, daß das System in der Komintern, das sich nach dem Tode Lenins herausbildete, beseitigt wird, daß es ein historisches Hemmnis geworden ist nicht nur für den Westen, sondern auch für den Osten? Sind der deutsche Oktober 1923, Bulgarien, Estland, die Kominternführung in der chinesische Revolution, ist die theoretische Sterilität der Komintern, ihre Unfähigkeit, den Parteien bei der Anwendung der kommunistischen Prinzipien auf die Politik ihrer Länder zu helfen: sind das alles Zufälligkeiten? Ich bin heute wie seit je der Ansicht, daß die historische Mission der Komintern noch keineswegs beendigt ist, aber daß sie nicht erfüllt werden kann, wenn nicht gebrochen wird mit dem System, das die kommunistischen Parteien dauernd im Zustand der Unmündigkeit und Unreife erhält. Eine Kette ist nur stark, wenn alle ihre Glieder stark sind. Wenn so und so viele gehorsame Dummköpfe oder faule Köpfe, die den gegenwärtigen Zustand gedanken- und kritiklos hinnehmen, jetzt (größtenteils wider besseres Wissen) brüllen, wir wollten zurück zur zweiten Internationale, so brauche ich Ihnen kaum zu beweisen, daß es sich in Wahrheit um einen notwendigen, längst herangereiften Schritt vorwärts zu einer höheren Etappe der Komintern handelt. Darum geht es. Und Sie, die die Hemmnisse, die dem entgegenstehen, so gut kennen wie irgendeiner von uns, begreifen auch die äußerlich paradoxe Lage, daß diese höhere Etappe zunächst gegen unsere russischen Genossen durchgefochten und erkämpft sein will. Die Voraussetzungen dafür müssen zuerst in der Peripherie in den einzelnen Sektionen geschaffen werden.

Dieser Kampf wird hartnäckig und lang andauernd sein. Im Grunde hat er schon seit Jahren begonnen. Er tritt jetzt nur in ein verschärftes und offenes Stadium, und es hat sich gezeigt, daß, wo die Sachlage klar und offen ausgesprochen wird, überall die reifsten und besten Elemente in der Partei dafür empfänglich sind. Ich habe mich davon auf einer Reihe von Touren im Reiche unmittelbar überzeugen können. Und zwar sind es nicht nur die besten alten Kaders der Partei, vor allem die alten Spartakusleute, es sind auch die besten jüngeren Elemente, die aus der USP gekommen sind (z.B. Paul Böttcher, Hausen usw.), es sind auch die besten Elemente der jüngeren Parteigeneration überhaupt (z.B. in Leipzig, die stärkste und beste Jugendorganisation im Reich). Niemand konnte natürlich erwarten und hat erwartet, daß es uns gelingt, mit einem Schlage die Mehrheit in der Partei zu erobern. Aber was wir in diesen wenigen Wochen offenen Kampfes mit sehr beschränkten Mitteln gegen die gröbste Demagogie bereits gewonnen haben, bleibt nicht nur nicht hinter meinen anfänglichen Erwartungen zurück, sondern übertrifft sie. Und nach allgemeinem Urteil sind es die reifsten, qualitativ besten Elemente in der Partei. Auf der anderen Seite steht die ungeschultere Parteischicht unten, oben die faulen, karrieristischen oder zaghaften Elemente.

Ich schreibe Ihnen alles dieses nicht, um Sie zu irgend etwas zu „überreden“, sondern lediglich um Ihnen zu zeigen, um was es geht und wie in der Partei die Dinge stehen. Sie sind gewißlich Manns genug, um ihre eigene Rolle selber zu bestimmen. Ich will Sie nur noch darauf aufmerksam machen, daß überall im Reiche, wo ich hinkam, die Genossen und Genossinnen fragten: Und Clara [Zetkin]? Warum schweigt sie? Niemand will annehmen, daß Sie etwa die Stellung der „Versöhnler“ beziehen, die nicht Fisch noch Fleisch sind, die sich infolge der grellen Widersprüche ihrer Stellung in nichts auflösen (die besten Elemente unter ihnen, die proletarischen und kämpferischen, kommen zu uns, z.B. Hamburg, Bremen, Leipzig usw., während die faulen und feigen Elemente zum ZK überlaufen). Oder sollten Sie glauben, man könne in dieser Situation über dem „Handgemenge“ stehen? Auch das Schweigen ist hier, wie Sie wohl begreifen werden, eine Stellungnahme und hat seine bestimmten, unvermeidlichen Wirkungen.

Der Kampf, der jetzt im Gange ist, geht über einzelne Personen weit hinaus, aber die einzelnen Personen sind darum doch nicht bedeutungslos, zumal wenn es sich um Personen handelt, die mit ganzen Perioden der Parteigeschichte aufs engste verknüpft sind. Es hat für die Bewegung etwas bedeutet, daß der siebzigjährige Franz Mehring im Kriege sich zur Sache von Spartakus stellte; die Bewegung wäre fortgeschritten, auch wenn er beiseite getreten wäre oder sich gegen sie gestellt hätte. Aber die Einschätzung seines gesamten Lebenswerkes und die Wirkung dieses Werkes auf die Zukunft wäre je nachdem eine sehr verschiedene gewesen.

Ich frage mich oft, wie Rosa [Luxemburg] in der jetzigen Lage gehandelt hätte. Ich zweifle keinen Augenblick, daß sie früher auf den Kampfplan getreten und daß sie kühner aufgetreten wäre als wir anderen alle. Ich zweifle auch nicht, daß die Sache siegen wird, die wir vertreten. So gewiß die proletarische Revolution auch außerhalb Rußlands nur von reifen, selbstbewußten Parteien mit eigenem Leben vorbereitet und durchgeführt werden kann, so gewiß bei dieser Arbeit unsere russischen Genossen je nach dem helfen oder hemmen, aber niemals sie ersetzen können.

Für die Sachlage in der Komintern ist mir in der letzten Zeit nichts so bezeichnend vorgekommen, als das jetzt auch Genossen wie Roy und Palme Dutt auf der Proskriptionsliste stehen, beides Leute, die an marxistischem Können, Wissen und Leistungen weit hervorragen, wirkliche Köpfe. Und daß sie Angriffsobjekte desselben O.W. Kuusinen sind, der eine klassische Verkörperung jenes ebenso charakterlosen wie unfähigen Offiziosentums ist, das danach trachtet, die ganze Komintern und ihre Sektionen nach seinem eigenen erhebenden Bilde zu modeln und alles niederzuhetzen und niederzuintrigieren, was diesem Ideal nicht entspricht. Das ist schon ziemlich weit gelungen, aber es wird nicht bis zu Ende gelingen, sofern die Komintern noch eine revolutionäre Zukunftsaufgabe hat, wovon ich überzeugt bin.

Damit es aber nicht gelingt, muß man dagegen kämpfen, und dafür ist es nicht zu früh, sondern wie ich meine, reichlich spät.

Liebe Genossin Clara [Zetkin]! Sie haben mir auf meinen letzten Brief nicht geantwortet. Wenn Sie es etwa aus dem Grunde nicht getan haben, weil Sie mit meiner damaligen Einschätzung der Parteilage im ganzen oder im einzelnen nicht übereinstimmen, so brauchte und braucht das kein Grund für Sie zu sein. Sie wissen, daß ich nicht zu den Leuten gehöre, die nur ihre eigene Meinung zu hören wünschen.

Was übrigens meinen damaligen Brief anlangt, so scheint mir, daß die weitere Parteientwicklung im allgemeinen und der Fall Thälmann im besonderen meine Einschätzungen mit der denkbar wünschenswertesten Promptheit bestätigt haben. Ich gestehe gern, daß mich der Grad von Fäulnis, Unfähigkeit, Perfidie, Borniertheit und Verblendung, der jetzt in den oberen und mittleren Parteispitzen zutage getreten ist, bei alledem noch überrascht hat.

Um Ihnen ein möglichst anschauliches und zuverlässiges Tatsachenmaterial dafür zu geben, was der durch das Moskauer Abkommen vom Februar eingeleitete, durch den 4. RGI-Kongreß weitergeführte und durch den 6. Kongreß bestätigte Kurs praktisch bedeutet, lasse ich Ihnen einen ausführlichen Bericht über die Rolle unserer Partei im Ruhrkampf zugehen, der auf Nachrichten beruht, die an Ort und Stelle von unmittelbar beteiligten Genossen eingezogen sind. Sie mögen dann selber urteilen, was es mit dem Geschrei von der Verschärfung des Kampfes gegen Sozialdemokratie und Reformismus, mit den „neuen Methoden“ usw. auf sich hat, daß es nichts weiter als die ollen KAPistischen Kamellen sind, und daß Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie trotz der wirksamsten Angriffspunkte, die ihr Verhalten bei dem Kampfe bot, nie so gute Tage gehabt haben, daß unsere Partei bei keinem großen Wirtschaftskampf je so kläglich ohnmächtig war und je so allen Einflusses auf die kämpfende Arbeiterschaft bar wie diesmal.

Und wenn jetzt Hindenburg und Groenerin der Panzerkreuzer-Affäre mit dem Reichstag Fangball spielen konnten, wie in den besten Tagen Bismarcks, Bülows usw., wenn die Sozialdemokratie ihnen die Hasen in den Stall treiben und dabei noch die sozialistische Heldenrolle spielen konnte, wenn unsere Partei jetzt in der außergewöhnlich günstigen Situation nach dieser Geschichte völlig außer Gefecht gesetzt ist: so mögen Sie urteilen, was in noch ernsteren, verwickeiteren und weniger durchsichtigen Lagen zu erwarten steht.

 

Mit den besten Grüßen
Ihr [August Thalheimer]


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008