August Thalheimer

 

1923: Eine verpaßte Revolution?

 

III. Die wirkliche Geschichte von 1923

1. Die Wirkung der Ruhrbesetzung

Nach dieser allgemeinen Übersicht über die Triebkräfte der Revolution 1917 in Rußland und 1923 in Deutschland komme ich zu einer kurzen Schilderung der Hauptereignisse des Jahres 1923. Das ist um so notwendiger, weil in der Partei niemand während der ganzen Diskussion sich die Mühe genommen hat, die wirtschaftlichen Zustände im Jahre 1923, den objektiven Gang der Ereignisse irgendwie klarzustellen und weil auch in den Jahren nachher niemand auf diese Dinge zurückgekommen ist. Zunächst die Frage: Wie wirkte sich die Ruhrbesetzung und die Inflation bis zum August aus? Da muß man vor allen Dingen feststellen, daß beide sehr verschieden wirkten im besetzten und im unbesetzten Gebiet. Deutschland war faktisch in zwei Teile gespalten mit entgegengesetzten politischen und ökonomischen Verhältnissen. Im besetzten Gebiet: Die ganze Schwerindustrie lag still infolge des passiven Widerstandes. Das war aber ein Zustand ganz außergewöhnlicher Art. Die Arbeiter streikten, aber mit Zustimmung der deutschen Unternehmer. Sie wurden als Patrioten gefeiert wegen, dieser Bestreikung der Gruben, Hütten usw. Nicht nur das: sie wurden bezahlt für die Zeit, in der sie streikten. Das ist natürlich kein Zustand, der eine besondere revolutionäre Triebkraft auslöst: Streiken und gleichzeitig Streikbezahlung durch die Bourgeoisie und dazu noch als Patrioten zu gelten!

Die Lage im übrigen Deutschland war so, daß die wachsende Inflation weiter einen steigenden Druck auf die Löhne ausgeübt hat. Der Reallohn sank, aber andererseits ersieht man aus den Daten der Zeit, daß die Arbeitslosigkeit bis August 1923 unter dem Durchschnitt normaler Jahre vor dem Kriege war. Das unbesetzte Deutschland trieb eine sehr rege Produktion, die angetrieben wurde durch die Exportprämie, die die Inflation gab. Diese rege Produktion wurde vor allen Dingen dadurch ermöglicht, daß von außen die Kohle hereinkam, die das Ruhrgebiet nicht liefert, durch den massenhaften Import englischer Kohle nach Deutschland. Deutschland trieb Schleuderexport. Ich will die Einzelheiten nicht anführen, aber man kann feststellen, daß bei einer Reihe von Waren die Ausfuhr im Jahre 1923 größer war als im Jahre 1922. Es fand eine gewaltige Kapitalakkumulation statt während dieser Zeit. Die Löhne wurden unter den Wert gesenkt. Die Reduktion der Reallöhne auf Bruchteile normaler Löhne steigerte täglich die Verelendung und Not der Arbeiterklasse.

Was die Bauernschaft anbelangt, so machte sie in der Zeit bis Juli-August durch die Inflation ein glänzendes Geschäft, stieß ihre Schulden ab, erwarb sich Inventar, Möbel usw. Die Steuern verschwanden durch die Inflation so gut wie ganz. Unter starkem Druck stand während dieser Zeit außer der Arbeiterklasse eigentlich nur das städtische Kleinbürgertum, das durch die Inflation riesige Verluste erlitt. Das sind die wichtigsten der objektiven Wirkungen.

 

 

2. Die Aktion der Partei bis zum Cuno-Streik

Was tat, die Partei? Sie gab in dieser Situation eine Reihe von Teillosungen, von Teilforderungen heraus, von denen ich erwähne die Losung der Abwälzung der Lasten des Ruhrkampfes auf die Bourgeoisie, der Erfassung der Sachwerte, der Kontrolle der Produktion, der Bildung von Kontrollausschüssen für die Warenpreise, die auch zustandekamen, die Losung der Arbeiter-Hundertschaften und als zusammenfassende Losung die der Arbeiterregierung, die, gestützt auf ihre eigenen Klassenorgane, die Arbeiterforderungen durchführen sollte. Für das unbesetzte Gebiet gab die Partei 10 Punkte heraus über die Einteilung der Ruhrkohle, Sechsstundenschicht, Teuerungszulage, eine Zwangsanleihe von der Bourgeoisie. Von diesen Losungen schlug wirklich ein im Ruhrgebiet nur die Losung der Abwehr-Hundertschaften. Diese schlug so ein, daß die Hundertschaften mit großer Schnelligkeit aus dem Boden heransgewachsen sind. Die Partei visierte auf den Machtkampf. Und sie bereitete ihn richtig vor durch der Sachlage entsprechende Teillosungen, Übergangslosungen und Teilkämpfe. Sie sah allerdings ab von Abenteuern, wie die von den Linken vorgeschlagene Besetzung der Betriebe im Ruhrgebiet unter den französischen Bajonetten eines gewesen wäre.

So entwickelten sich die Dinge bis zum Cuno-Streik. Dieser war der Höhepunkt der Massenbewegung im Jahre 1923. Die Partei hatte damals die Illusion, als ob der Cuno-Streik von ihr eingeleitet und geführt worden sei. Wenn man die Dinge nachprüft, so sieht man, daß die Hauptursache des Cuno-Streiiks gewesen war die Stockung der Lebensmittelzufuhr, die durch die Beschleunigung der Inflation hervorgebracht worden war.

Wie wenig im Cuno-Streik die Arbeiterklasse bereit war, unmittelbar um die Macht zu kämpfen, das zeigt der Umstand, daß einige verhältnismäßig kleine Maßregeln genügten, um den Streik zum Abschluß zu bringen und die Bewegung zurückzudämmen. Die Folge des Cuno-Streiks war die Bildung der Großen Koalition, der Eintritt der SPD in die Regierung. Und, wie Remmele im Januar 1924 richtig sagte, erweckte dieser Eintritt der SPD in die Regierung in der Arbeiterschaft neue Illusionen. Sie wurden gestützt durch eine Reihe von Maßnahmen, die die unmittelbaren Nöte der Arbeiterschaft beheben sollten. Man schaffte zunächst Lebensmittel herbei. Man sorgte für die Zufuhr von Fetten. Eine Hauptmaßnahme, die man ergriff, war, daß man anfing, „Goldlöhne“ einzuführen.

 

 

3. Die spekulative Aktionsplan der Komintern

Ich wende mich nun zur Komintern und zur Beurteilung ihres Eingreifens. Man hat der damaligen Leitung der deutschen Partei vorgeworfen, sie habe gar nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß die Ruhrbesetzung revolutionäre Wirkungen haben könne. Sie habe nicht von vornherein die Eroberung der Macht ins Auge gefaßt, nicht die „Machtfrage aufgerollt“, wie Ruth Fischer sagte. Wir haben natürlich sehr wohl bereits im Januar die Möglichkeit einer revolutionären Entwicklung aus der Ruhrbesetzung gesehen, aber auch eine andere Möglichkeit, nämlich die eines Kompromisses zwischen deutschen und französischen Kapitalisten, zu dem es dann auch gekommen ist. Das hat vor allem auch Radek in der Roten Fahne gesagt. Es ist sehr interessant, wenn man heute zurück- sieht auf die Haltung der Exekutive, festzustellen, daß diese durchaus nicht mit dem übereinstimmt, was die Vertreter der Linien-Legende für das Richtige halten. Sie hat absolut nicht im Januar, nicht einmal im Juni den revolutionären Machtkampf ins Auge gefaßt. Im Juni war eine Plenarsitzung der Exekutive. Dabei war mit keinem Worte die Rede von einem bevorstehenden revolutionären Kampf in Deutschland. Im Mittelpunkt dieser Tagung stand die Frage der russisch-englischen Spannung, über die damals Radek offiziell referierte, die Frage der wachsenden Kriegsgefahr zwischen Sowjet-Rußland und England. Der Vorsitzende der Kommunistischen Internationale, Sinowjew, hielt ein Referat über die Frage der Einheitsfronttaktik. Auch ihm fiel es nicht etwa ein, die Frage des Machtkampfes .als unmittelbar bevorstehend zu betrachten. So wurde noch im Juni 1923 die Lage durch die Komintern betrachtet. Aufgescheucht wurde die Leitung der russischen Partei und der Komintern erst durch den Aufruf der Zentrale vom 11. Juli zum Antifaschistentag und die Kampagne der KPD für den Antifaschistentag am 29. Juli, durch den in der bürgerlichen Presse in Deutschland die Frage der Diktatur aufgerollt wurde und bei dem die Führung der deutschen Partei die Frage der Bewaffnung der Arbeiterschaft aufwarf. Die Frage des bewaffneten Kampfes der Partei und weiterhin der Arbeiterklasse wurde der Exekutive hier erst vor Augen geführt. Das erst brachte sie in Gang. Was tat sie darauf? Sie berief eine Konferenz ein, an der die führenden Genossen von hier sowie der Exekutive teilnahmen. Als die Konferenz einberufen wurde, waren die meisten der russischen Genossen abwesend. Brandler und andere waren bereits Ende August in Moskau angekommen. Man ließ sich ruhig Zeit, die Verhandlungen zu eröffnen und zu führen. Man verbrachte 7 Wochen in Moskau, während die Ereignisse in Deutschland weitergingen, um den Aktionsplan für die deutsche Revolution zu entwerfen. In wochenlangen Unterhandlungen wurde ein Aktionsplan entworfen für die Revolution, die man vorauskalkulierte. Das Charakteristische an diesem Aktionsplan ist, daß man nicht auf Grund bereits bestehender Tatsachen in Deutschland diesen Aktionsplan entworfen hat, sondern daß man einen Aktionsplan auf Wochen und Monate hinaus entworfen hat auf Grund einer Spekulation über die Ereignisse, die in 4-8 Wochen in Deutschland eintreten sollten oder würden. In Rußland hatte man 1917 einen Termin für den Aufstand festgelegt, nachdem eine Mehrheit für die Bolschewiki in Leningrad vorhanden war, als man der bewaffneten Kräfte dort bereits sicher war, als Kerenski abgewirtschaftet hatte, als die Situation reif war. Der Aktionsplan für den Oktober 1923 war nicht gegründet auf solchen Tatsachen, sondern auf der Spekulation, daß die Ereignisse in Deutschland vom August ab denselben Gang gehen würden wie vom August bis Oktober in Rußland, d.h. daß inzwischen die Partei die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich bekommen würde, daß sie dies Arbeiter inzwischen genügend bewaffnen könnte und daß der Gegner inzwischen machtlos und zersetzt würde. In Rußland hatte man aüf Grund realer Voraussetzungen einen Plan für den Aufstand festgelegt, zwar : nicht Wochen vorher, wie Trotzki sagt, aber Tage vorher. Für Deutschland aber setzte man das, Monate vorher fest. Das ist das Entscheidende. Man übertrug das Schema des Oktober 1917 auf Deutschland, ohne daß die Tatsachen vorhanden waren – spekulativ!

Einige weitere Dinge muß man, hier erwähnen, die damit im Zusammenhang stehen. Die Tatsache des Eintritts in die sächsische Regierung war kein Fehler von Brandler, sondern sie war auf einen Beschluß zurückzuführen, der gegen den Widerspruch von Brandler zustandegekommen ist. Brandler wandte sich dagegen und erklärte, daß in der Arbeiterschaft dafür noch gar nicht die Voraussetzungen vorhanden seien. Es galt, erst die Voraussetzungen für einen Eintritt in die Regierung zu schaffen. Er forderte eine gewisse Frist, um diese Voraussetzungen in den Betrieben zu schaffen. Da erklärte man ihm: Wenn du an die Revolution glaubst, dann mußt du dies durchführen. Man appellierte an seine Disziplin. Es handelte sich weiter um die Frage, ob die Betriebsräte eine Grundlage sein könnten für die Machtorgane der proletarischen Revolution. Man entschied sich in Moskau dafür, daß sie dies könnten, daß sie an die Stelle der politischen Arbeiterräte treten könnten. Man entschied auch damit falsch. So war der Aktionsplan, der in wochenlangen Beratungen fertiggestellt wurde.

 

 

4. Die Wendung durch das eingreifen der Bourgeoisie

Bei diesem Aktionsplan stellte sich leider heraus, daß nicht nur wir Aktionspläne machten, die revolutionäre Partei, sondern auch der Gegner. Und er machte nicht nur Aktionspläne, er handelte. Und es stellte sich weiter heraus, daß, nachdem der Aktionsplan fertig war und die Genossen herüberkamen, um ihn durchzuführen, sich die Situation, auf der der Aktionsplan spekulativ aufgebaut war, vollständig geändert hatte, in Ihr Gegenteil verkehrt war. Die Bourgeoisie hatte die Initiative ergriffen. Die Grundlage, auf der der Aktionsplan aufgebaut war, erwies sich als Luftspekulation. Der Bourgeoisie war klar, daß, wenn sie nicht aktiv eingreifen würde durch Zugeständnisse an die Arbeiterschaft und Kompromisse mit dem französischen Kapitalismus, wirkliche Revolutionsgefahr für sie herannahe. Sie ließ sie aber nicht passiv herannahen, sondern machte in kürzester Frist die nötigen Zugeständnisse. Sie beeilte sich, den passiven Widerstand abzubrechen, den Ruhrkampf abzublasen. Stresemann trat auf, man müsse den Weg der diplomatischen Verhandlungen aufnehmen. Die Sozialdemokratie, besonders ihr linker Flügel, drängte zum Abbruch des passiven Widerstandes. Die Bourgeoisie mit Stresemann an der Spitze hat den Ruhrkampf nach dem Cuno-Streik schnell zu Ende geführt. Hier die wichtigsten Daten:

Am

23. August       – 

hielt Stresemann eine Rede, in der er Frankreich ein Kompromiß anbot.

  2. September – 

Rede in Stuttgart.

  6. September – 

Rede vor auswärtigen Pressevertretern.

11. September – 

begannen die Verhandlungen mit Frankreich.

24. September – 

wurde von der deutschen Regierung die offizielle Weisung gegeben, den passiven Widerstand aufzugeben.

25. September – 

wurde diese Weisung verkündet.

26. September – 

erschien ein Aufruf des Reichspräsidenten und der Regierung, in dem öffentlich aufgefordert wurde, den passiven Widerstand aufzugeben.

In wenigen Wochen war die Bourgeoisie imstande, ihrerseits den Ruhrkampf zu beenden, den Frieden herbeizuführen, das Kompromiß mit den französischen Kapitalisten einzuleiten. Damit war verbunden, daß sie die damaligen Faschisten zurückrief. Sie hatte sie benutzt zu Sabotageeakten im Rheinland, für die Schwarze Reichswehr, wie sie damals hieß, und gab ihnen jetzt einen Fußtritt. Der Abbruch des Ruhrkampfes war die erste Wendung. Das zweite, was die Bourgeoisie nach dem Cuno-Streik vollbrachte, war die Beendigung der Inflation und die Einleitung der Stabilisierung. Eingeleitet wurde diese Wendung durch die Einführung der Goldrechnung, zunächst im Großhandel; bereits im großen Umfange wurde sie in der Industrie durchgeführt. Anfang September war die Goldrechnung in Industrie und Handel bereits allgemein geworden und auch in den Einzelhandel eingedrungen. Wenn die Bourgeoisie die Inflation nach August abgebaut hat, so nicht nur wegen der Revolutionsgefahr, die sie mit sich brachte, sondern weil auch die Wirkungen der Inflation von einem bestimmten Punkt ab in ihr Gegenteil umschlugen; Von einem bestimmten Punkt ab mußte die Inflation nicht mehr als Exportprämie wirken, sondern umgekehrt. Die Bourgeoisie hat die Inflationskonjunktur ganz kühl bis zu Ende ausgenützt. Sie ist bis zu dem Punkt gegangen, zu dem man überhaupt gehen konnte, und hat erst dann ganz Schluß gemacht, als die Inflationskonjunktur in die Inflationskrise umzuschlagen begann.

Der zweite Akt nach der Einführung der Goldrechnung war die Einführung der sogenannten Goldlöhne, der „wertbeständigen“ Löhne. Schon seit Juni kamen Vereinbarungen zustande über wertbeständige Löhne, über 2-3malige Lohnzahlungen in der Woche. Das waren natürlich keine wirklich wertbeständigen Löhne, aber es bedeutete eine Milderung der Entwertung der Löhne.

Am 14. August trat Stresemann im Reichstag auf und gab das offizielle Versprechen der Einführung wertbeständiger Löhne. Dann ging man an die Stabilisierung.

Zwischen August und der Ausgabe der Rentenmark am 15. November wurde nach einer Statistik der Reichsbank an wertbeständigem Notgeld nicht weniger als 989 Millionen Goldmark ausgegeben. Also nicht erst die Einführung der Rentenmark hatte hier eine Wandlung geschaffen, sondern dazwischen lag eine ganze Anzahl von Notmaßnahmen.

Die entscheidende Wendung, die Mitte Aügust, nach dem Cuno-Streik, eintrat, wird auch schlagend bezeugt durch die Broschüre von E. Pawlowski (Varga): Vor dem Endkampf in Deutschland, deren Vorwort vom 10. Oktober 1923 datiert ist. Varga war bereits damals Offiziosus, wie er es heute ist.

Man liest auf S.42:

Die vierte Etappe ist die seit dem 15. August. Die Arbeiterschaft hatte sich durch ihre Massenbewegung eine starke Lohnerhöhung und die Anpassung an die Teuerung erkämpft. Der Eintritt der Soziaidemokratie in die Regierung, das Eingreifen der gewerkschaftlichen Spitzenorganisationen dämpfte den Kampfwillen der breiten Arbeitermassen. Sie hatten noch immer die Illusion, daß die Sozialdemokratie ihnen Hilfe bringen könnte.

Auf S.47:

Die deutschen herrschenden Klassen ändern nach dem Generalstreik Mitte August auf einmal ihre Taktik: sie forderten nunmehr selbst die Währungsreform ... Da gleichzeitig auch unter dem Eindruck des Generalstreiks wertbeständige Löhne eingeführt wurden, so war die Aufrechterhaltung der Papiermark für die deutsche Großbourgeoisie und Großlandwirtschaft überflüssig geworden ... Daher sehen wir gegen Ende August eine ganze Reihe von Plänen zur Schaffung einer neuen stabilen Valuta auftauchen. Diese Pläne werden von großkapitalistischen Kreisen auf das energischste unterstützt. Die Aufgabe wird als so dringend hingestellt, daß der Regierung nicht einmal einige Wochen Zeit zur Überlegung gelassen werden sollen.

S.64:

Obwohl sich die deutschen Arbeiter schon unzählige Male in der Sozialdemokratie getäuscht haben, sind breite Schichten der Arbeiterschaft wieder hereingefallen. Man ließ sich von den Redensarten Hilferdings täuschen: der parlamentarisch-demokratische Kretinisnius, der Wahn, daß parlamentarischer Kuhhandel das Schicksal des Proletariats entscheide, bewog viele Proletarier, im Zusammenhang mit den durch die gewaltige Streikbewegung erzielten Lohnerhöhungen eine abwartende Haltung einzunehmen.

 

 

5. Der entscheidende Fehler der Partei nach dem Cuno-Streik

Diese beiden Reihen von Ereignissen zeigen, wie die Voraussetzungen, auf denen der Aktionsplan aufgebaut war, durch das Eingreifen der Bourgeoisie völlig geändert wurden. Was hat aber die Partei weiter gemacht? Der entscheidende Fehler in der Aktion der Partei liegt darin, daß sie gläubig auf den Aktionsplan, der entworfen worden war, starrte,. daß sie es unterließ, die politischen Vorbereitungen für den Kampf um die Macht zu treffen, daß sie sich beschränkte auf eine technisch-organisatorische Vorbereitung. Trotzki hatte erklärt: „Die Politik macht der Gegner.“ Er war der Ansicht, daß der Hauptmangel der Revolutionäre im Westen bisher der gewesen war, daß sie die Bewertung der technischen und organisatorischen Vorbereitung des Aufstandes nicht genügend eingeschätzt hätten. Die Politik hat allerdings der Gegner gemacht, und zwar sehr zweckentsprechend für sich, während eben der Grundfehler der Partei nach dem Cuno-Streik der war, daß sie keine Politik machte, daß sie die politische Vorbereitung durch Teilkämpfe und Teilaktionen unterließ und sich beschränkte auf technisch-organisatorische Vorbereitungen. Welcher Art ist dieser Fehler? Ist das ein „rechter“ oder ein „linker“ Fehler? Ich glaube, es ist ein ausgesprochen linker Fehler, ohne genügende politische Vorbereitung und Voraussetzungen, auf Grund rein technisch-organisatorischer Vorbereitungen in den Aufstand gehen zu wollen. Man muß sich vergegenwärtigen: Der Gegner versetzt der Arbeiterbewegung nach dem Cuno-Streik eine ganze Reihe von Schlägen, auf die die Partei nicht reagiert, weil sie ihre Kräfte nicht in Teilkämpfen verzetteln will. Aber gerade dadurch versäumt die Partei, die Kräfte der übrigen Arbeiterschaft mit sich zu verbünden und festzustellen, über welche Kräfte in den Massen sie verfügt.

Von den Regierungsaktionen im Anschluß an den Cuno-Streik nenne ich:

17. August   – 

löst Severing den Reichsausschuß der Betriebsräte auf, ohne daß die Partei dagegen eine Protestaktion einleitet.

13. Oktober – 

Ermächtigungsgesetz der Regierung: Auch hier keine Gegenaktion der Partei.

Die Partei beschränkt sich darauf, ihre technisch-organisatorischen Vorbereitungen fortzusetzen. Dann kam am 12. Oktober der Eintritt in die sächsische und kurz darauf in die thüringische Regierung. Der Eintritt in die sächsische Regierung erfolgte, wie bereits erwähnt, nicht aus freien Stücken, sondern auf Beschluß der Exekutive, dem die gesamte Zentrale der deutschen Partei einschließlich der damaligen Linken, Ruth Fischer usw., zugestimmt hatten.

Hat sich etwa irgend jemand von uns eingebildet, daß wir zusammen mit der Sozialdemokratie die Macht erobern und ausüben könnten? Kein Mensch von uns hat daran gedacht. Aber der Gedanke, der der Exekutive. beim Eintritt in die sächsische und thüringische Regierung zugrundelag, war, daß die Partei den Regierungsapparat ausnützen könne, um die Arbeiter zu bewaffnen. Die Exekutive machte sich folgende Vorstellung: Wir sitzen in der Regierung, bewaffnen die Arbeiter, rühren uns inzwischen nicht und „ignorieren“ derweil den General Müller, der an der Spitze der Reichswehr stand. Aber der General Müller ignorierte keineswegs uns, sondern griff sofort ein. Er unterstellte sofort die Landespolizei seinem Kommando. Als Böttcher eine Rede hielt, in der er zur Bewaffnung der Hundertschaften aufforderte, stellte Müller ein Ultimatum. und es erfolgte mit Zustimmung von Ebert der Einmarsch der Reichswehr. – Aus diesen Tatsachen ergibt sich, daß die Situation, in der man in Sachsen und Thüringen in die Regierung eingetreten war, gar nicht den Voraussetzungen entsprach, unter denen nach unserer Vorstellung die Bildung einer Regierung durch Kommunisten erfolgen könnte. Der Widerstand, den Brandler in Moskau geleistet hatte, war voll berechtigt. Nur unter einer Voraussetzung hätte man eine Regierung bilden können, daß man imstande war, so zu handeln, wie man als Kommunist und. Revolutionär handeln muß, und den Widerstand der Bourgeoisie zurückzuschlagen. Das kann man aber nur gestützt auf Zustimmung der Mehrheit der Arbeiter zur Diktatur, auf die bewaffneten Arbeiter, auf einen bereits siegreichen Aufstand.

So geschah der Eintritt in die sächsische Regierung unter einer falschen Voraussetzung. Aber wie herauskommen? Dafür gab es nur zwei Wege. Der erste: sofort mit revolutionären diktatorischen Maßnahmen auftreten, die natürlich sofort den Widerstand der Bourgeoisie aufreizen und die Koalition zerbrechen mußten. Der zweite Weg, wie er auch eingeschlagen wurde, die Arbeiter mit staatlichen Mitteln bewaffnen und im übrigen im verfassungsmäßigen Rahmen bleiben, in der Hoffnung, daß sich der Gegner nicht rührt. In beiden Fällen mußte das Resultat die Durchkreuzung des eigentlichen Aktionsplanes sein. Aber im ersten Falle wäre dieser Plan durchkreuzt worden durch eine Reihe von Maßnahmen, die revolutionär-propagandistisch gewirkt hätten. Eine Regierung mit Kommunisten mußte damals sofort mit diktatorischen Maßnahmen auftreten. Es war eine gewaltige Arbeitslosigkeit im Lande. Für die Arbeitslosen sorgen, bedingte, daß man sofort von den Unternehmern Geld beschlagnahmte. Arbeit beschaffen erforderte, die von den Unternehmern stillgelegten Betriebe sofort wieder in Gang setzen. Auch die Lebensmittelbeschaffung erforderte unmittelbar diktatorische Maßnahmen. Keine wirkliche Aktion der Regierung konnte geschehen ohne solche diktatorischen Maßnahmen. Ein ganzes Programm solcher unmittelbar zu treffender diktatorischer Eingriffe war von uns ausgearbeitet worden. Aber es war weder möglich, sie mit dem vorhandenen bürgerlichen Regierungsapparat und gegen die Sabotage der Sozialdemokraten in der Regierung und im Landtag durchzuführen, noch blieb auch nur die Zeit dafür. Der Einmarsch der Reichswehr kam Hals über Kopf.

 

 

6. Die Frage des Rückzuges und die Chemnitzer Konferenz

Weiter die Frage des Rückzugs, die eng zusammenhängt mit der Frage der Chemnitzer Konferenz vom 21. Oktober, auf der der Rückzug entschieden worden ist. Hier einige Tatsachen. Vielfach wurde behauptet, die Konferenz vom 21. Oktober habe gar kein wirkliches Bild der sächsischen Arbeiterschaft gegeben, es sei keine Konferenz von Arbeitervertretern gewesen, sondern nur von Bonzen. Das stimmt nicht. Die Zusammensetzung der Konferenz war folgende:

140 Betriebsarbeiter,
  15 Vertreter von Aktionsausschüssen,
  26 Delegierte von Konsumvereinen,
102 Vertreter der Gewerkschaften,
  16 Erwerbslose,
    7 offizielle Delegierte der SPD,
  60 offizielle Delegierte der KPD,
    1 offizieller Delegierter der USP
102 gewerkschaftliche Delegierte vertraten Ortskartelle.

In ihrer Mehrzahl waren die Anwesenden Delegierte von Betrieben. Es ist gar nicht zu bestreiten, wenn man sich diese Zusammensetzung ansieht, daß die Konferenz im wesentlichen eine zutreffende Widerspiegelung der Stimmung in der sächsisch-thüringischen Arbeiterschaft war.

Was geschah auf dieser Konferenz? Am Abend zuvor hatte die Zentrale einstimmig den Beschluß gefaßt, daß auf Grund der Nachrichten. über den Einmarsch der Reichswehr die Losung des Generalstreiks, der den bewaffneten Kampf einschloß, herausgegeben werden sollte. Man entschied dann aber, daß man noch den Verlauf der Konferenz abwarten wolle, um die, wirkliche Stimmung kennen zu lernen. Auf dieser Konferenz stellte der Genosse Brandler in Übereinstimmung mit der Zentrale die Forderung, die Konferenz solle die Losung des Generalstreiks als Kampflosung gegen den Einmarsch der Reichswehr herausgeben. Wäre dort eine wirkliche revolutionäre Stimmung gewesen, die bereit war zum Machtkampf, dann war klar, daß die Versammlung diese Losung begeistert aufnehmen mußte und daß aus dem Generalstreik der bewaffnete Kampf um die Macht sich hätte entwickeln müssen. Die Wirkung aber war ganz anders. Brandlers Vorschlag fiel in der Versammlung glatt zu Boden. Die Versammlung nahm den Antrag eisig auf. Dann passierte folgendes: Der linke SPD-Minister Graupe trat auf und erklärte, falls die Kommunisten nicht darauf verzichteten, die Frage des Generalstreiks in dieser Versammlung zu stellen, dann würde er mit seinen sieben Leuten die Versammlung verlassen. In einer wirklich revolutionären, kampfentschlossenen Versammlung hätte ein Sturm der Empörung die Flaumacher weggefegt. Aber das Gegenteil geschah. Die Versammlung beschloß daraufhin, auf den unmittelbaren Aufruf zum Generalstreik zu verzichten und statt dessen eine kleine Kommission zu ernennen, die darüber befinden sollte. Es war dies ein Begräbnis dritter Klasse.

Was bedeutete das? Das bedeutete, daß unter den sächsischen Arbeitern alle die Maßnahmen, die die Bourgeoisie durchgeführt hatte, ihre Wirkung getan hatten, daß die Arbeiterschaft gespalten war, daß gar keine Rede davon sein konnte, daß etwa die Mehrheit der sächsischen Arbeiterschaft in diesem Moment bereit war, um die Macht zu kämpfen. Es gab einige Orte, wo das der Fall war, aber für Sachsen und für Deutschland im ganzen traf das keineswegs zu. Die wirkliche Situation hatte sich als ganz anders herausgestellt, als sie im Aktionsplan vorgesehen war. Auf Grund der Einsicht in die wirkliche Lage kam der einstimmige Beschluß der Zentrale zustande, daß der Rückzug angetreten werden müsse. Nicht nur Brandler, sondern auch alle „linken“ Genossen der Zentrale und alle die auswärtigen Genossen, die damals in Deutschland anwesend waren, haben ohne Ausnahme diesem Beschluß zugestimmt. Einige der letzteren waren noch zu diesem Tage herbeigeeilt, um zu verhüten, daß der Aufstand beschlossen würde.

Wäre dieser Beschluß nicht gefaßt worden, hätte die Partei es auf den Zusammenstoß mit dem überlegenen Gegner ankommen lassen, so wäre von ihr nur, noch ein nasser Fleck übriggeblieben. Andere haben in solchem Falle anders gehandelt, z.B. in Bulgarien, und es gibt noch mehr derartige Beispiele. Aber sie ermuntern nicht zur Nachahmung. Keine Führung einer Partei kann den Einsatz eines Entscheidungskampfes verantworten, wenn sie die sichere Niederlage voraussieht. Man könnte einwenden, es habe schon mehr Situationen gegeben, wo die Partei mit der Arbeiterschaft gekämpft hat, auch mit der Aussicht auf eine Niederlage. Gewiß, wir haben im Januar 1919 gekämpft, wo keiner die Hoffnung hatte, die Macht zu erobern. Wir haben auch in München gekämpft, wo jeder wußte, daß es sich nicht um die Erringung des Sieges handelte. Der Unterschied besteht darin, in dem einen Falle war es die große Masse der Arbeiterschaft; die kämpfte, und die Partei dürfte in einer solchen Situation die Arbeiterschaft nicht im Stich lassen. Anders ist es, wenn der Kampf sich beschränkt auf die Partei und die Massen nicht dahinterstehen, und wenn die Niederlage dann kommt durch die Partei, durch ihre falsche Taktik, durch ihre falsche Einschätzung der Lage. Das würde die Partei nicht fördern in den Augen der Massen, sondern diskreditieren. Es gehört mehr Mut dazu, in einer solchen Situation zum Rückzug zu blasen, als den Schritt zu wagen, der die Partei isoliert in den Kampf führt und auf Jahre vernichtet.

Die Einschätzung der Lage, wie sie sich aus der Chemnitzer Konferenz ergab; wurde noch durch eine Reihe weiterer Vorkommnisse bestätigt. Nur zwei davon will ich hier anführen.

Erstens der Hamburger Aufstand. Er wurde dadurch entfesselt, daß Remmele als einer der Boten der Zentrale so früh von Chemnitz abgegangen war, daß man ihn nicht mehr zurückrufen konnte. (Remmele hatte Aufträge für Kiel, aber nicht für Hamburg.) In Hamburg wurde die Losung zum Generalstreik gegeben, und es kämpften 200 tapfere Kommunisten; die große Mehrheit der Hamburger Arbeiterschaft verhielt sich so, daß se sagte: „Die Kommunisten, das sind sehr tapfere Kerle, wackere Burschen“, und steckten die Hände dabei in die Tasche. Man versteht das sehr gut, wenn man bedenkt, daß die Arbeit in Hamburg im besten Schwung war. Einige wirtschaftliche Daten erklären das zur Genüge – nur 4 Zahlen:

Angekommene Seeschiffe im Jahre 

1922:   9.617

1923: 12.041

Ausgehende Seeschiffe im Jahre 

1922: 10.631

1923: 12.919

Hamburg war 1923 ein Haupteinfuhrhafen für Rohstoffe und Kohle aus England und Amerika. Die Masse der Hamburger Arbeiter hat infolgedessen keine Neigung zum Generalstreik oder zum bewaffneten Aufstand. Übrigens kämpften 600 Arbeiter bei der republikanischen Schutzwehr. Als es galt, aus den Maiereignissen von 1929 in Berlin eine neue Legende zu machen, wurde plötzlich die alte Legende über den Hamburger Aufstand fallengelassen, und man konnte in den Thesen für Agitatoren und Propagandisten über die Bedeutung und Lehren der Berliner Maikämpfe lesen: „Der Hamburger Aufstand war ein Nachhutgefecht, ein Rückzugskampf im Moment einer niedergehenden Welle der Revolution, als die Massenbewegung im Reiche ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte.“

Zweitens Berlin: Die Berliner Leitung war damals „links“. Von der Zentrale aus wurde die Leitung wiederholt aufgefordert, Massendemonstrationen zu machen und diese bewaffnet zu schützen. Sobald aber Demonstrationen versucht wurden, kamen einige Dutzend Leute, die sich bald verkrümelten.

Auch diese weiteren Proben zeigen nach Chemnitz die wirkliche Lage der Dinge, nämlich, daß die große Masse der Arbeiter nicht bereit war, um die Macht zu kämpfen.

Die Partei war im Begriff, trotz aller Versuche der Ruth Fischer und Maslow; das Feuer des Fraktionskampfes zu scharen, einen geordneten Rückzug anzutreten und ihre Kampfkraft geschlossen gegen die SPD einzusetzen, als im Dezember die offene Unterstützung der damaligen Linken durch die Exekutive alle Dämme in der Partei zum Bersten brachte und so der Partei jede Möglichkeit benahm, den Einbruch in die SPD zu machen, für den sonst die besten Voraussetzungen gegeben gewesen wären. Die Partei wurde durch planmäßige Panikmacherei zersetzt. Wenn die Maslow und Ruth Fischer sich rühmen, daß sie nach dem Oktoberrückzug die Partei „gerettet“ haben, so ist die Wahrheit die, daß sie erst die Panik erzeugten, die ihnen dann erlaubte, sich als Parteiretter aufzuspielen. Diese ihre Rolle wurde noch erleichtert dadurch, daß die Partei noch Wochen nach dem Oktoberrückzug aufs äußerste angespannt war. In einer Armee, die, nachdem sie den Sieg schon sicher in der Hand zu haben glaubte, gezwungen ist, sich unter den schwersten Verfolgungen des Feindes zurückzuziehen, Panik zu machen, – ist keine Kunst. Es ist die leichteste Sache der Welt, wenn die Panikmacher, statt von der obersten Heeresleitung strengstens zur Ordnung gerufen zu werden, von Ihr noch ermuntert werden.

Aber der deutschen Partei und der Kommunistischen Internationale wurde dadurch der schwerste Schaden zugefügt, nicht nur im gegebenen Augenblick, sondern für Jahre hinaus. Ja, bis auf den heutigen Tag hat die Partei diesen Schaden nicht überwunden.

 

 

7. Einige der wichtigsten Lehren

Damit bin ich am Ende der Darstellung der Hauptpunkte der Ereignisse des Jahres 1923. Ich will nur noch ganz kurz sagen, was meiner Ansicht nach einige der wichtigsten Lehren aus diesen Ereignissen sind.

Ich glaube, die erste und wichtigste Lehre sollte die sein, daß man nicht aus 2000 km Entfernung revolutionäre Aktionspläne auf eine Frist von 8-10 Wochen ausarbeiten kann, sondern daß man das nur tun kann, wenn man direkt auf dem Aktionsplatz sitzt und die Ereignisse mit eigenen Augen verfolgt. Eine weitere Lehre für die Kommunistischen Parteien außerhalb Rußlands ist, daß sie nur dann hoffen können eine Revolution in ihrem eigenen Lande wirklich durchzuführen, wenn sie gelernt haben, die Klassenverhältnisse in ihrem Lande selbständig zu beurteilen, die Taktik und Strategie des revolutionären Kampfes aus eigenem Urteil zu entwickeln, und wenn sie sich an eigenes, kritisches und selbständiges Denken auch gegenüber der internationalen Leitung gewöhnt haben. Das war der schwerste und verhängnisvollste Fehler des Jahres 1923, daß die Partei und ihre Führung darauf verzichtete, auf ihrem selbständigen, kritischen Urteil zu beharren. Welches waren die Ursachen dafür? Gewiß keine beamtenmäßige Einstellung gegenüber, den russischen Genossen, sondern eine Erwägung, die an sich ganz plausibel scheint. Brandler erzählte öfters, was ihn bewogen hat, in vielen Fällen gegen seine bessere Überzeugung den Ratschlägen unserer russischen Genossen im Jahre 1923 zu folgen. Er sagte: Unsere russischen Genossen sind bisher die einzigen, die eine siegreiche Revolution durchgeführt haben. Ich bilde mir ein, etwas von den deutschen Dingen zu verstehen, die deutsche Arbeiterschaft zu kennen. Aber wir haben noch keine siegreiche Revolution durchgeführt. Deshalb fügen wir uns im Zweifelsfalle denjenigen, die dies bereits geschafft haben. – Heute müssen wir sagen, das ist falsch, und es ist eine der größten Gefahren, es ist die Ursache der Krise in der Kommunistischen Internationale. Ohne daß diese Frage gelöst wird in dem Sinne, daß auch die Parteien in anderen Ländern lernen, den Klassenkampf in ihrem Lande nach eigenem Urteil zu führen, ohne das wird in keinem Lande die Revolution siegreich durchgeführt werden. Um die Bourgeoisie in der Wirklichkeit zu schlagen, muß man sie zuerst im Kopfe geschlagen haben. Die revolutionären Schlachten sind alle zuvor im Kopfe geschlagen, ehe sie in der Wirklichkeit geschlagen wurden. Auch in der russischen Revolution darf man nicht nur den Oktober sehen. Dazu gehören 30 Jahre politischer Vorbereitung, des gründlichen Durchdenkens aller Mittel und Wege der Revolution in Rußland. Das war das Entscheidende. Und genau so wird es auch in den anderen Ländern der Fall sein.

Die Kommunistische Internationale, als wirkliche Führerin der proletarischen Revolution, bedarf einer kollektiven Führung, sie bedarf reifer kommunistischer Parteien.

Die nächste Lehre, die wir ziehen müssen,. ist die, daß man die Revolution nicht allein technisch und organisatorisch vorbereiten kann, sondern, daß sie politisch vorbereitet werde n muß, daß man die Mehrheit der Arbeiter, die Mehrheit der werktätigen Bevölkerung gewinnen muß durch politische Teilaktionen und Teilforderungen, ehe man die Bedingungen in der Hand hat, um einen Machtkampf zu führen.

Dann glaube ich, daß wir auch aus den Ereignissen in Sachsen allerhand über die Frage der Bewaffnung der Arbeiterklasse lernen sollten. Es ist eine Illusion, zu glauben, daß man die Arbeiterschaft sozusagen hinter dem Rücken der herrschenden Klasse durch Verteilung von Waffen allein bewaffnen könne. Die Bewaffnung der Arbeiterschaft kann nur geschehen Hand in Hand mit dem politischen Kampf und seiner Entfaltung. Es ist das keine rein technisch-organisatorische Aufgabe.

Weiter sollten wir gelernt haben, daß man selbst mit einer parlamentarischen kommunistisch-sozialdemokratischen Koalitionsregierung nicht den Machtkampf führen kann. Um zu siegen, muß die Partei eine feste Mehrheit an Arbeitern hinter sich haben, die bereit sind, für die Aufrichtung der Rätemacht ihr Leben einzusetzen.

Eine andere Lehre ist auch die, daß die Betriebsräte nicht die politischen Arbeiterräte ersetzen können.

Das ist natürlich nicht erschöpfend. Ich habe hier nur die Wichtigsten dieser Lehren herausgezogen. Ich habe auch aus den Tatsachen der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung von 1923 nur eine kleine Auslese gegeben. Aber ich glaube, daß dies genügt, um der linken Oktober- legende endgültig den Garaus zu machen. Und ich glaube weiter, daß die Lehren, die wir heute noch aus dem Jahre 1923 zu ziehen haben, keine bloß historischen Lehren sind, die sich die Vergangenheit beziehen, sondern daß sie auch höchst aktuell sind in einer Lage, wo die Kommunistische Internationale noch stärker eben an den Fehlern krankt, die damals so verhängnisvoll waren. Der ultralinke Kurs herrscht immer noch in der Kommunistischen Internationale und in der Kommunistischen Partei Deutschlands. Die Belehrung über die Falschheit dieses Kurses hält man immer noch auf, indem man wieder den Oktoberpopanz von 1923 heranzieht.

Der Sieg der proletarischen Revolution in Deutschland setzt die Lösung ihrer taktischen und strategischen Fragen voraus. Diese Fragen kann man nicht. lösen, auf Grund einer Legende. Man kann sie nur lösen auf Grund der wirklichen Tatsachen.

Die linke Oktoberlegende über 1923 hat schon ein stattliches Alter erreicht. Sie ist beinahe kanonisch geworden. Das hilft aber nichts. Sie muß liquidiert werden, und sie wird liquidiert werden, so sicher, wie die Revolution in Deutschland nur von einer Kommunistischen Partei durchgeführt wird, die ihre Aufgabe zuvor geistig zu bewältigen vermocht hat

Ein unerläßlicher Teil davon ist die Bewältigung der Fragen des Jahres 1923.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008