August Thalheimer

 

Die Grundlagen der Einschätzung der Sowjetunion

Die Sowjetunion von heute und die sozialistischen Revolution in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern

(1946)


August Thalheimer, Die Grundlagen der Einschätzung der Sowjetunion, Gruppe Arbeiterpolitik (Hrg.), Stuttgart 1952.
Kopiert mit Dank von der jetzt verschwundenen Webseite der Marxistischen Bibliothek
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Vorwort

1. Abschnitt. Die Grundlage

1. Kapitel. Die Methode

2. Kapitel. Der Maßstab

1. Ein Musterbeispiel der Umkehrung der materialistisch-dialektischen Methode

2. Die Marxsche allgemeine Formel, ihre Entwicklung und ihre Voraussetzungen

3. Andere frühmarxistische Formeln des Übergangs zum Sozialismus

4. Die letzten Formulierungen


Vorwort

Dem Verfasser der vorliegenden Arbeit war es leider nicht vergönnt, sie zu vollenden. Am 19. September 1948 ereilte ihn der Tod im kubanischen Exil, wohin der zweite Weltkrieg ihn verschlagen hatte.

In einem Brief vom 9. November 1946, den Thalheimer mit dem Manuskript an einen Freund in Europa sandte, ist uns der ursprüngliche Plan der ganzen Arbeit erhalten geblieben. Danach ist der Aufbau der Schrift, die den Titel trägt: Die Sowjetunion von heute und die sozialistische Revolution in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, folgender:

I. Abschnitt. Die Grundlagen.
1. Kapitel. Die Methode.
2. Kapitel. Der Maßstab (ist fertig).

2. Abschnitt. Die russische Revolution.
1. Kapitel. Die Leninsche Periode.
2. Kapitel. Die Stalinsche Periode (ist in Arbeit).

3. Abschnitt. Die sozialistische Revolution im Westen und die Sowjetunion.“

Über die Notwendigkeit und die Bedeutung der Arbeit August Thalheimers braucht nicht viel gesagt zu werden. Sie liegen auf der Hand. Seit den großen „Tagen, die die Welt erschüttern“, ist die Einschätzung der Sowjetunion zum wichtigsten Prüfstein für alle revolutionären Parteien, Strömungen und Gruppen geworden. Im Oktober 1917 begann die Epoche des Übergangs der Menschheit vom Kapitalismus zum Sozialismus. Mit der Gründung der Sowjetunion war der erste unwiderrufliche Schritt in der Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat gemacht worden. Nichts natürlicher, als daß jedes Ereignis, jede Wendung, jeder neue Zug der weiteren Entwicklung der SU die internationale Arbeiterbewegung nachhaltig beeinflussen mußte.

Indem die SU als neuer Faktor der internationalen Arbeiterbewegung auf die Bühne tritt, wird aber der Aufgabenkreis und damit die Einschätzung der Gesamtbewegung anders als vor 1914. Vor dem ersten Weltkrieg bildete die sozialistische Bewegung eine Einheit, deren Grundlage darin bestand, daß die größten und wichtigsten sozialistischen Parteien im wesentlichen unter gleichen Bedingungen kämpften und wirkten: sie standen innerhalb einer mehr oder weniger entwickelten bürgerlichen Gesellschaftsordnung, hatten daher im großen und ganzen die gleichen Aufgaben und die gleiche Anschauungsweise.

Die Entstehung der SU hob diese Einheit auf und bahnte eine Periode der proletarischen Weltbewegung an, die ein Widerspruch kennzeichnet: während die KPdSU im Besitze der Macht ist, wirken die außerrussischen Parteien in einer Gesellschaft, die von feindlichen Klassen beherrscht wird. Es liegt auf der Hand, daß sich daraus verschiedene Aufgaben, Methoden und Anschauungen ergeben.

Dem marxistischen Dialektiker ist es ohne weiteres verständlich, daß daher hüben falsch sein kann, was drüben entschieden richtig ist und umgekehrt, daß sich aus grundverschiedenen Voraussetzungen ebenso verschiedene Aufgaben und Betrachtungsweisen ableiten. Aber dieses höchste Gut des Denkens, das dialektische Denken, ist noch reichlich dünn gesät. Die starre, jede Bewegung, jeden Übergang verpönende Anschauungsweise des „gesunden Menschenverstandes“ steckt noch fest und unerschüttert in den Köpfen unserer Zeitgenossen. Sie sind unfähig, den Kommunismus als Entwicklungsprozeß, als Bewegung zu verstehen. Je nach der politischen Stufe, die gewisse Gruppen und Strömungen erreicht haben, je nach den Erkenntnissen, zu denen sie sich aufzuschwingen vermögen, herrscht die Tendenz vor, dabei zu verharren, diese Erkenntnisse zu verabsolutieren, vom lebendigen Ganzen zu trennen und als allgemein gültiges Dogma zu betrachten. Diese Tendenz hat schon Engels in einem Brief vom 20. Juni 1873 an Bebel folgendermaßen festgehalten:

„Die Bewegung des Proletariats macht notwendig verschiedene Entwicklungsstufen durch; auf jeder Stufe bleibt ein Teil der Leute hängen und geht nicht weiter mit; darum allein erklärt sich, weshalb die ‚Solidarität des Proletariats‘ in der Wirklichkeit überall in verschiednen Parteigruppierungen sich verwirklicht, die sich auf Tod und Leben befehden, wie die christlichen Sekten im römischen Reich unter den schlimmsten Verfolgungen.“

Praktisch sieht das heute so aus, daß der eingefleischte Reformist an Formeln klebt, die vor 1914 einen lebendigen Inhalt hatten, heute aber ins Gegenteil, in die reaktionäre Verteidigung des Bestehenden umgeschlagen sind. Trotzki und seinen Gefolgsleuten wurde die „permanente Revolution“ zum Allheilmittel, als diese Permanenz nur noch in ihrer Einbildung bestand. Für die Anhänger Stalins sind seine „Lehren“ und seine sowjetrussische Praxis zu Glaubensartikeln versteinert, die einfacher Hohn auf die westeuropäischen Kampfbedingungen des Proletariats sind.

Es ist diese dogmatische Betrachtungsweise, die es der westeuropäischen Arbeiterbewegung unmöglich macht, die sowjetrussische Entwicklung und die Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung zu verstehen, d.h. in ihren Widersprüchen ihre Einheit zu erkennen.

Wie ist nun diese Einheit beschaffen? Kann man wirklich behaupten, daß die Stalinsche Bürokratenherrschaft, ihre blutigen und widerlichen Methoden, ein folgerichtiges Produkt jener gewaltigen russischen Revolution, jenes „herrlichen Sonnenaufgangs“ sind, der die Besten der Arbeiterklasse mit Begeisterung erfüllte?

Um diese Frage zu beantworten, erinnern wir an das oft gebrauchte Wort: Es war ein Unglück, daß die sozialistische Revolution in einem so rückständigen Lande wie Rußland siegte. Dieser Satz drückt nur negativ aus, was positiv lautet: die westeuropäische Arbeiterbewegung kam der SU nicht durch den Sturz der eigenen Bourgeoisie zu Hilfe. Die gefühlsmäßige Betonung, daß das eine wie das andere ein „Unglück“ war, ändert nichts am entscheidenden Tatbestand: die Arbeiter Westeuropas stürzten den Kapitalismus nicht. Darin offenbarte sich die Unreife des Proletariats des hochindustriellen Westens zur sozialistischen Revolution. Es bedurfte eines weiteren Reifeprozesses der im Oktober 1917 geborenen kommunistischen Weltbewegung, um diese instand zu setzen, ihre historischen Aufgaben zu erfüllen.

Jeder Entwicklungsprozeß geht aber dialektisch vor sich. Der Ausgangspunkt wird negiert. Diese Negation wird dann im weiteren Verlauf der Bewegung selbst negiert und stellt auf höherer Stufe den Ausgangspunkt wieder her. Eine solche dialektische Bewegung, d.h. ein widerspruchsvoller Prozeß, vollzog sich in der kommunistischen Weltbewegung und mußte sich in ihr vollziehen, um sie auf eine höhere, siegesreife Stufe zu erheben.

Die Leninsche oder die weltrevolutionäre Periode des Kommunismus – um Thalheimers Terminologie zu gebrauchen – verwandelte sich im Verlaufe dieses Reifeprozesses in ihr Gegenteil: in die Stalinsche Periode. Sie ist die Negation der ersteren, ihr vollendeter Gegensatz. Sozialismus in einem Lande statt Weltrevolution, bürokratische Verknöcherung statt breite Entfaltung der proletarischen Demokratie, Kriegsbündnis mit den Imperialisten statt revolutionärer Krieg gegen sie, Unterwerfung der Proletarier in den eroberten Gebieten statt tatkräftige Unterstützung ihrer eigenen. Klasseninitiative.

Wir können natürlich in diesem Vorwort nicht den materiellen Nachweis der inneren Notwendigkeit des Umschlagens der Leninschen in die Stalinsche Periode führen. Dies kann nur an Hand der konkreten Analyse nachgewiesen werden, wie dies August Thalheimers Absicht war. Wir beschränken uns auf den Hinweis, daß dieses Umschlägen noch zu Lenins Lebzeiten eintrat, und zwar im Übergang vom sogenannten Kriegskommunismus zur NEP. Die Niederlage des Kriegskommunismus zeigte das Fehlen der materiellen Voraussetzungen für die kommunistische Organisation der Gesellschaft in der SU. Verbunden mit der ausbleibenden Unterstützung von seiten hochentwickelter Arbeiterklassen außerrussischer Länder wurde die NEP zum Vorläufer einer Entwicklungsperiode, von der Lenin schon Jahre früher sagte, daß sie „die russische Barbarei mit barbarischen Mitteln auszurotten“ hätte. In diesem Satz steckt die ganze Stalinsche Periode der kommunistischen Bewegung.

Den Sozialisten und Kommunisten, die im herkömmlichen Denken festgefahren sind, das seine Nahrung bewußt oder unbewußt von der herrschenden „Wissenschaft“ und ihrer Methode bezieht, erscheint es unfaßbar, daß nach dem Sturz der Bourgeoisie solch ungeheuerliche Widersprüche entstehen können, wie sie zwischen der Leninschen und der Stalinschen Periode auftreten. Einem Denker vom Range Lenins war dies indessen klar. In einer Randbemerkung zu Bucharins Buch über die Transformationsperiode, die im russischen Lenin-Sammelband XI, S. 357 abgedruckt ist, schrieb er:

Außerst ungenau. Antagonismus und Widerspruch sind absolut nicht dasselbe. Der erste verschwindet, der zweite bleibt im Sozialismus.“

Lenin betont hier, daß mit dem Wegfallen der Klassen und ihres Antagonismus (Gegensatzes) im Sozialismus nur bestimmte Widersprüche (nämlich die Klassengegensätze) verschwinden, andere aber bleiben, bzw. sich entfalten. Ein solcher Widerspruch in der Sowjetunion ist beispielsweise der Widerspruch zwischen den Konsumbedürfnissen der arbeitenden Massen, zu deren Befriedigung die gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind, und dem Zwang, der Industrialisierung und der Rüstung schwere Opfer zu bringen, die diese gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht unmittelbar zur Geltung kommen lassen.

Aber die materialistische Dialektik gestattet uns nicht nur, den naturnotwendigen Gegensatz und zugleich die Einheit der Leninschen und Stalinschen Entwicklungsperiode des Kommunismus zu begreifen. Sie gibt uns vor allem den Schlüssel zum Verständnis der weiteren Entwicklung. Denn wenn wir die Stalinsche Periode als die Negation der Leninschen Perode erfassen, so gilt auch für sie analog dem berühmten Marxwort im Kapital: Die Negation (hier die Stalinsche Periode) „erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist Negation der Negation.“ Diese „Negation der Negation“ kann nur darin bestehen, daß sie den Sieg des Kommunismus im Weltmaßstab bringen wird. So wird der Ausgangspunkt der Leninschen Periode wieder erreicht werden, aber nicht auf der unentwickelten Stufe des russischen Kriegskommunismus, nicht auf der embryonalen Stufe eben gegründeter, mit allen Kinderkrankheften behafteter kommunistischer Parteien, sondern auf der höheren, siegesreifen Ebene einer jahrzehntelangen Praxis und Erfahrung der kommunistischen Bewegung in der SU wie in anderen Ländern.

Damit ist gesagt, wie die Stalinsche Periode des Kommunismus vergehen wird. Sie wird vergehen, indem sie überwunden, überflüssig gemacht wird. Dies zu vollbringen aber ist dem Proletariat des hochindustrialisierten Westens beschieden.

Auf dem Wege zur Revolutionierung der westlichen Arbeitermassen sind heute zwei Faktoren von ausschlaggebender Bedeutung. Der erste ist die chinesische Revolution und die umfassende Befreiungsbewegung der Kolonial- und Halbkolonialvölker. Sie erschüttern den Imperialismus zutiefst. Sie rauben ihm die fetten Überprofite, die ihm Jahrzehntelang ermöglichten, den Arbeitern der Mutterländer materielle Zugeständnisse zu machen und sie von ihren revolutionären Klassenaufgaben abzulenken.

Zweitens aber, zeigt die weltpolitische Entwicklung klar eine scharfe klassenmäßige Blockbildung. Hier kapitalistisch-imperialistischer Block, dort die Länder auf dem Wege zum Sozialismus. Der militärische Sieg des sozialistischen Lagers fällt also zusammen mit der Niederlage aller kapitalistisch-imperialistischen Mächte. (Das war bekanntlich im zweiten Weltkrieg nicht der Fall, denn die SU mußte sich mit einer kapitalistisch-imperialistischen Gruppe verbünden.) Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des revolutionären Defaitismus in allen kapitalistisch-imperialistischen Ländern. Oder anders ausgedrückt: die SU wird die kommende Auseinandersetzung als revolutionären Krieg führen müssen. Hier ist der Ausgangspunkt der kommunistischen Bewegung wieder erreicht, aber nicht als feuriges Bekenntnis einer kleinen Vorhut, die sich eben vom Schoße der sozialistischen Mutterparteien gelöst hat, sondern revolutionärer Defaitismus, gestützt auf ein Drittel der Menschheit, das sich den Weg zum Sozialismus erkämpft.

Heute mag das sehr abstrakt und als Nebelgebilde der Phantasie erscheinen, klammert sich doch die SU noch mit aller Kraft an die Hoffnung einer Verständigung mit den USA. Wenn sich die Sowjetdiplomatie aber bemüht, den drohenden Konflikt solange wie möglich hinauszuschieben, so ändert das nichts an den objektiven Notwendigkeiten, die klar hervortreten werden am Tage, wo diesen Bemühungen der Erfolg versagt bleiben wird.

Außerdem aber sind die Aufgaben der westlichen Arbeiterklassen nicht die der Sowjetdiplomatie, sondern können in Gegensatz zu diesen stehen und gerade dadurch der kommunistischen Gesamtbewegung den größten Nutzen bringen. Dies wird umso deutlicher, als hervortritt, daß die Nationale Front der diversen westeuropäischen KP-Patrioten mit dem Kampf zum Sturz der herrschenden Klassen unvereinbar ist.

Dieser Gegensatz drückt nur aus, daß die KPdSU die westeuropäischen Arbeiter nicht führen kann. Es zeigt sich, daß die westeuropäischen Arbeiter der Rolle eines bloßen Anhängsels sowjetdiplomatischer Manöver entwachsen sind. Sie haben ihre eigenen Klassenaufgaben, zu deren Erfüllung sie sich selbständig eine eigene Führung schaffen müssen. Wenn auch diese Arbeit heute mit den Tagesbedürfnissen der sowjetischen Außenpolitik zusammenstößt, so ist sie nichtsdestoweniger ein historisches Gebot der proletarischen Gesamlbewegung. Deshalb ist ihr Erfolg letzten Endes unausbleiblich.

Die Herausgeber.
Stuttgart, September 1952


Die Grundlagen der Einschätzung der Sowjetunion

Erster Abschnitt:
Die Grundlagen

Erstes Kapitel:
Die Methode

Es ist nicht bloß deutsche Pedanterie, wenn wir mit der Methode anfangen.

Über das, was die Sowjetunion heute ist, gehen die Urteile selbst unter denen, die sich Marxisten nennen, weit auseinander. Was ist die Wirtschaft der Sowjetunion? Ist sie eine Form des Kapitalismus („Staatskapitalismus“)? Ist sie ein Übergang vorn Kapitalismus zum Sozialismus? Ist sie umgekehrt im Übergang von ursprünglich sozialistischen zu kapitalistischen Formen begriffen? Ist sie nichts von dem allem, sondern etwas, was ganz außerhalb der beiden Begriffe Sozialismus und Kapitalismus steht, und etwa unter den ganz neuen Begriff „totalitäre Wirtschaft“ zu bringen ist? Damit sind die verschiedenen Auffassungen noch nicht erschöpft. Zwischen dem einen und dem anderen Ende dieser Begriffsreihe kann man noch ungezählte Zwischenstufen eingeschaltet finden.

Dasselbe verwirrende Bild zeigt sich in der Beantwortung der Frage: Was ist der Sowjetstaat? Was ist Sowjetdemokratie – wenn es sie gibt? Gibt es noch oder wieder Klassen in der Sowjetunion? Gibt es Sowjet-Imperialismus?

Es handelt sich hier keineswegs um reine Spekulationen. Alle diese verschiedenen, ja gegensätzlichen theoretischen Auffassungen sollen bestimmte politische Stellungnahmen ganzer Parteirichtungen oder Gruppen zur Sowjetunion und zu den grundlegenden Fragen des proletarischen Klassenkampfes in den verschiedensten Ländern außerhalb der Sowjetunion begründen. Die Einstellung zur Sowjetunion ist zum Schibboleth der revolutionären Einstellung in der Arbeiterbewegung der ganzen Welt geworden.

Dieselbe Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit, zeigt sich in solchen Fragen wie der: Was ist die heutige englische Wirtschaft unter der Labour-Regierung? Ist hier ein Anfang sozialistischer Wirtschaft vorhanden? Oder handelt es sich umgekehrt lediglich um einen letzten Rettungsversuch an der kapitalistischen Wirtschaft des Landes?

Alle diese Meinungsverschiedenheiten finden sich heute in den Reihen der Arbeiterbewegung.

Aus alledem geht eins hervor: daß hier selbst die Maßstäbe der Beurteilung wankend und unsicher geworden sind. Die Maßstäbe, um die es sich hier handelt, sind aber nichts weniger als die Grundbegriffe des Marxismus oder Sozialismus, letzten Endes der Begriff des Sozialismus selbst.

Der Streit geht nicht um die Tatsachen. Die wesentlichen Tatsachen sowohl im Falle der heutigen Sowjetunion wie des heutigen Englands sind keine Geheimnisse; sie liegen offen vor allen Augen und sind für diejenigen, die sich die Mühe nehmen, unschwer festzustellen. Der Streit geht um die Deutung und die Wertung der Tatsachen.

Es sind verschiedene Maßstäbe, die an dieselben Tatsachen angelegt werden. Wie zwischen diesen verschiedenen Maßstäben entscheiden?

In der Regel werden diese Maßstäbe als selbstverständliche, dem Leser oder Hörer bekannte und von ihm ohne weiteres anerkannte Voraussetzungen stillschweigend unterstellt. Weiß nicht jeder Sozialist oder Kommunist, was Sozialismus ist, was seine Grundsätze und Ziele sind?

Also sind es gerade diese als bekannt und feststehend vorausgesetzten Maßstäbe, die geprüft werden müssen. Die Grundlagen müssen untersucht werden. Sie untersuchen aber heißt, sie tiefer legen. Denn es heißt feststellen, worauf diese Grundlagen selber ruhen. Es heißt fragen, wie ist man zu ihnen gekommen? Woraus und wie sind sie theoretisch abgeleitet? Welches sind ihre materiellen Voraussetzungen? Gelten sie überhaupt noch? Wenn ja, gelten sie unbedingt oder nur bedingt, unbegrenzt oder nur begrenzt? Wenn bedingt oder begrenzt – welches sind diese Bedingungen oder Grenzen?

Die Untersuchung der Maßstäbe aber erfordert zu allererst die Untersuchung der Methoden, vermittels deren man zu ihnen gelangt ist.

Die Marx’sche Methode ist bekanntlich durch zwei wesentliche Züge gekennzeichnet: sie ist materialistisch und zugleich dialektisch. Was unter materialistisch und dialektisch zu verstehen ist, ist in Friedrich Engels’ Anti-Dühring und Ludwig Feuerbach klar und einfach auseinandergesetzt. Wir verweisen der Kürze halber auf diese klassischen Erklärungen. Sie haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren.

Der Gegensatz des Materialismus ist Idealismus. Der Gegensatz der Dialektik ist schwieriger zu benennen. Man kann ihn Un-Dialektik nennen. Hegel faßt diesen Gegensatz als den vom bloßen „Verstand“ zur „Vernunft“. Friedrich Engels gebraucht für das undialektische Denken den Ausdruck „metaphysisches“ Denken. Es ist das Denken, das die Sachen, Begriffe und Sätze nur in ihrer Trennung und Ruhe auffaßt, nicht in ihrem Zusammenhang und ihrer Bewegung.

Läßt man nur den Materialismus fallen, so kommt man zur idealistischen Dialektik. Läßt man nur die Dialektik fallen, so kommt man zum undialektischen, mechanischen oder nur naturwissenschaftlichen Materialismus. Läßt man schließlich beide, Materialismus und Dialektik, fallen, so kommt man zum nur abstrakt-verstandesmäßigen Idealismus.

Alle diese Methoden können sich der materialistischen Methode von außen als offene Gegner gegenüberstellen und sind ihr, in den verschiedensten älteren, neueren und allerneuesten Abarten, gegenübergestellt worden. Hier, wo die Gegnerschaft bewußt, offen, ausgesprochen ist, gibt es keine besonderen Schwierigkeiten, um sich zurechtzufinden. Die Schwierigkeit entsteht da, wo in den Händen vermeintlicher Anhänger der marxistischen Methode diese Methode selbst in ihr Gegenteil umschlägt – in die idealistische und metaphysische Methode.

Das ist es, was tatsächlich in den letzten Jahren und Jahrzehnten häufig stattgefunden hat, und hier ist die Hauptquelle der eingetretenen Verwirrung und Widerspräche, des ins Schwanken Geratens der Maßstäbe und Grundbegriffe des Sozialismus.

Die Eigentümlichkeit dieses Absturzes besteht nicht darin, daß einfach die Marx’schen Resultate, die Grundsätze und Ziele des Sozialismus, über Bord geworfen werden, sondern gerade umgekehrt darin, daß sie festgehalten werden – aber getrennt von den theoretischen Voraussetzungen, die ihnen zugrunde liegen, und der theoretischen Entwicklung, die von diesen Voraussetzungen zu ihnen geführt hat, getrennt von den materiellen Tatsachen, durch die sie bedingt sind. Wenn aber materiell bedingte und materialistisch-dialektisch richtig abgeleitete Resultate getrennt werden von diesen ihren Bedingungen, wenn sie aus bedingten, also in ihrer Geltung zeitlich und örtlich begrenzten, zu unbedingten, für alle Zeiten und Orte geltenden Maßstäben erhoben werden, und wenn sie dann als Maßstab auf gänzlich verschiedene Bedingungen angewandt werden, so schlägt damit die materialistische und dialektische Methode in ihr gerades Gegenteil um – in Idealismus und Undialektik oder Metaphysik.

Die Resultate selbst werden in solcher Anwendung falsch. Dieser Umschlag kommt denen, die ihn vollziehen, in der Regel gar nicht zum Bewußtsein. In der Tat ist es nicht leicht zu verstehen, wie in ungeschickten Händen materialistische Resultate in idealistische, dialektische in undialektische, richtige in falsche umschlagen können. Halten sie nicht an den Resultaten, an den Grundsätzen des Marxismus fest? Aber gerade dieses Festhalten, wo die Wirklichkeit, die ihnen zugrunde lag, in Fluß geraten ist, läßt sie in ihr Gegenteil umschlagen. Die Resultate der materialistischen und dialektischen Methode unterliegen selbst der Dialektik der materiellen Wirklichkeit. Das mag für manchen, der Marx’sche Resultate einfach übernommen und angenommen hat und sich daher Marxist nennt, überraschend und unglaublich sein. Aber eben dies zum Bewußtsein zu bringen, ist entscheidend für die Untersuchung .der Grundlagen des Marxismus, für die Feststellung und Sicherung der Maßstäbe. Wenn Marx selbst den Satz aussprach, daß seine und Engels’ Lehren keine „Dogmen“, sondern „Anleitungen zum Handeln“ seien, so zeigt diese Abwehr, daß diese Umkehrung ihrer Methode nicht erst von heute stammt. Aber sie ist heute unter „Marxisten“ weit verbreitet.

Marx und Engels selbst kamen bekanntlich von der philosophischen Schule des klassischen deutschen Idealismus, und zwar von Hegel her. Um ihren eigenen Standpunkt zu gewinnen und durchzusetzen, hatten sie sich scharf von allen Formen des philosophischen Idealismus, oder der „Ideologie“, wie sie es auch nannten, abzugrenzen.

Dies geschah zuerst umfassend in der Deutschen Ideologie [1], – die in den Jahren 1845/46 von ihnen ausgearbeitet wurde. Hier trennten sie sich scharf von allen zeitgenössischen Formen der „Ideologie“, d.h. des philosophischen Idealismus, ab, und hier treten daher auch die Gegenzüge ihrer materialistisch-dialektischen Methode besonders scharf und frisch hervor. Wir führen einige entscheidende Stellen daraus hier an, weil sie helfen können, den Gegensatz zwischen der idealistischen und der materialistischen Methode klar zum Bewußtsein zu bringen.

„Der Kommunismus“, heißt es im Abschnitt 1 über Feuerbach, „ist nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ [2]

Hier ist in gedrängter Kürze das Wesentlichste zur positiven Charakteristik wie zur kritischen Abgrenzung, der materialistischen, von der idealistischen, der dialektischen von der nichtdialektischen Methode enthalten. Die materialistische Seite: der Kommunismus ist kein feststehendes Ideal, nach dem die Wirklichkeit sich zu richten hat. Umgekehrt: er ist abzuleiten aus der materiellen Wirklichkeit. Er ist das theoretische Bewußtsein über diese Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist die Voraussetzung für den Kommunismus. Sie enthält die Bedingungen für ihn.

Die dialektische Seite: der Kommunismus ist kein Zustand, der nach bestimmtem Plan hergestellt werden soll, und dann beharrt. Er ist eine Bewegung. Und dies in mehrfachem Sinne. Er ist die objektive Bewegung, d.h. eine materielle Entwicklung, die den jetzigen, d.h. den kapitalistischen Zustand, aufhebt. Er ist zugleich eine subjektive Bewegung, die Bewegung der Arbeiterklasse, die diese Aufhebung bewirkt. Und schließlich: diese Aufhebung schafft nicht einen sich selbst gleichbleibenden Zustand, sondern leitet eine neue Bewegung, eine Entwicklung auf neuer Grundlage ein.

Ferner: Die Ziele, die der Kommunismus sich stellt, sind nichts Absolutes, sie sind nicht von Zeit und Ort unabhängige und lediglich dem Denken entsprungene „Ideale“. Sie sind bedingt, und das heißt, in ihrer Geltung und Anwendung zeitlich und örtlich begrenzt. Sie haben ihre bestimmten materiellen Voraussetzungen. Sie haben ihre Bedeutung als Maßstäbe des Urteilens und des Handelns nur im Zusammenhang mit bestimmten materiellen Voraussetzungen. Aus diesem Zusammenhang herausgenommen, erstarren sie zu feststehenden Glaubenssätzen, verlieren sie ihren wissenschaftlichen Charakter, werden sie falsch. Eben dieser Zusammenhang mit bestimmten materiellen Voraussetzungen macht ihren materialistischen und dialektischen Charakter aus.

Nebenbei: mit dem Wort Dialektik ist in den letzten Jahren von Gegnern wie Anhängern des Sozialismus und Kommunismus viel Unfug getrieben worden. Die Sache selbst ist dadurch sehr in Mißkredit geraten. Für die einen ist sie von vornherein „fauler Zauber“ – Sophistik, Betrug. Für andere umgekehrt die unbegriffene, blind geglaubte, alles rechtfertigende Zauberformel. So ist eine unsagbare Verwirrung darüber eingetreten, was Dialektik wirklich ist. Deshalb sei hier ausdrücklich bemerkt, daß das, was wir hier im Auge haben, durchaus nichts Mysteriöses oder Abseitiges ist, sondern einfach die Betrachtungsweise der Sachen, der Begriffe und der Sätze, die die Sachen und ihre Verhältnisse widerspiegeln in ihrem allseitigen Zusammenhang und in ihrer Bewegung. Damit ist die Sache natürlich nicht erschöpft, sondern nur umrissen, so wenig wie etwa die Botanik damit erschöpft ist, daß ich sie als Pflanzenkunde bestimme. Die Dialektik erschöpft sich auch nicht in einigen wenigen Formeln, wie manche zu glauben scheinen. Sie hat einen reichen, mannigfachen Inhalt.

Wer sich heute unter Dialektik nichts vorstellen kann, was bei der herrschenden Verwirrung darüber bei Gegnern und Anhängern begreiflich ist, möge von diesem Wort ruhig absehen und sich an die hier gegebenen einfachen Bestimmungen der Sache halten.

An einer anderen Ställe der Deutschen Ideologie findet man folgende nähere Bestimmung von „Beruf, Beistimmung, Aufgabe, Ideal“, die scharf die Grenze zieht zwischen idealistischer und materialistischer, metaphysischer und dialektischer Bestimmung der Aufgaben, Grundsätze, Ziele einer Klasse,

„,Beruf, Bestimmung, Aufgabe, Ideal‘ sind – heißt es hier – um es kurz zusammenzufassen, entweder

1. die Vorstellung von den revolutionären Aufgaben, die einer unterdrückten Klasse materiell vorgeschrieben sind; oder

2. bloße idealistische Paraphrasen, oder auch entsprechender bewußter Ausdruck der durch die Teilung der Arbeit zu verschiedenen Geschäften verselbständigten Betätigungsweisen der Individuen; oder

3. der bewußte Ausdruck der Notwendigkeit, in der Individuen, Klassen, Nationen sich in jedem Augenblick befinden, durch eine ganz bestimmte Tätigkeit ihre Stellung zu behaupten; oder

4. die in den Gesetzen der Moral ideell ausgedrückten Existenzbedingungen der herrschenden Klasse (bedingt durch die bisherige Entwicklung der Produktion), die von ihren Ideologen mit mehr oder weniger Bewußtsein verselbständigt werden, in dem Bewußtsein der einzelnen Individuen dieser Klasse als Beruf sich darstellen können und den Individuen der beherrschten Klassen als Lebensnorm entgegengehalten werden, teils als Beschönigung oder Bewußtsein der Herrschaft, teils als moralisches Mittel derselben. Hier, wie überhaupt bei den Ideologen, ist zu bemerken, daß sie die Sache notwendig auf den Kopf stellen und ihre Ideologie sowohl für die erzeugende Kraft, wie für den Zweck aller gesellschaftlichen Verhältnisse, ansehen, während sie nur ihr Ausdruck und ihr Symptom sind.“ [3]

Als das wesentliche Kennzeichen der ideologischen oder idealistischen Bestimmung der Aufgaben von Individuen, Klassen, Nationen, erscheint hier: erstens die Trennung von ihren materiellen Voraussetzungen oder Bedingungen, ihre Verselbständigung diesen Bedingungen gegenüber, und zweitens die Umkehrung ihres Verhältnisses, so daß die ideologisch bestimmten Aufgaben zur selbständigen Ursache oder zum Zwecke der Entwicklung der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse werden, während sie nur ihr Ausdruck oder Symptom sind. Kurz: es ist die „Idee“, die die materielle Welt schafft, bewegt und formt.

Die Isolierung der Aufgabe von ihren materiellen Voraussetzungen macht die undialektische Seite der Verkehrung aus. Die Umkehrung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung, vom Zweck zum Mittel macht die idealistische oder ideologische Seite aus.

Die materialistisch-dialektische Methode leugnet nicht das Vorhandensein und die Wirksamkeit von Ideen. Aber sie leugnet ihre Ursprünglichkeit, ihre Selbstherrlichkeit. Sie nimmt sie nicht rein aus dem Kopf, sondern sie leitet sie bewußt vermittels des Kopfes aus der Wirklichkeit ab. Ihre Verwirklichung ist nur dann und soweit möglich, als sie die wirkliche Bewegung richtig widerspiegeln. Sie sind nicht ewig, sondern veränderlich. Ihre Geltung und Wirksamkeit ist nicht unbedingt, sondern zeitlich und örtlich bedingt.

Das Gemeinsame beider entgegengesetzter Auffassungen ist das Vorhandensein von Vorstellungen der Individuen, Klassen, Nationen über ihre Aufgaben. Daher ist es begreiflich, wie materialistisch begründete Aufgaben, Ziele, Grundsätze selbst ihrerseits ins Idealistische umschlagen können. Es brauchen nur die materiellen Voraussetzungen vergessen zu werden, unter denen sie allein gelten.

Die Deutsche Ideologie ist eine der Erstlingsschriften von Marx und Engels, in der die Methode des historischen oder dialektischen Materialismus sich allen zeitgenössischen Formen der Ideologie entgegenstellt. Aber alle späteren Erklärungen der beiden Begründer dieser Methode stimmen damit überein.

In seiner Schrift über Ludwig Feuerbach, deren Vorwort vom 21. Februar 1888 datiert, also über 40 Jahre später erschienen ist, finden wir denselben Gedankengang. Hier weist Engels darauf hin, daß es „zweierlei“ ist, den großen Grundgedanken der dialektisch-materialistischen Forschungsmethode „in der Phrase anzuerkennen und ihn in der Wirklichkeit im Einzelnen auf jedem zur Untersuchung kommenden Gebiet durchzuführen“ und fährt dann fort:

„Geht man aber bei der Untersuchung von diesem Gesichtspunkt (d.h. dem dialektisch-materialistischen) aus, so hört die Forderung endgültiger Lösungen und ewiger Wahrheiten ein- für allemal auf; man ist sich der notwendigen Beschränktheit aller gewonnenen Erkenntnis stets bewußt, ihrer Bedingtheit durch die Umstände, unter denen sie gewonnen wurde.“ (Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach, zitiert aus Karl Marx, Ausgewählte Schriften, Ring-Verlag, Zürich 1934, 1. Bd., S.457)

Und Marx, im Nachwort zur 2. Auflage des Kapital, zitiert zustimmend folgende Kennzeichnung seiner Methode in einem Artikel des Europäischen Boten vom Mai 1872 über den ersten Band des Kapital:

„Das heißt, nicht die Idee sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr als Ausgangspunkt dienen“ (nämlich der kritischen Untersuchung der gegenwärtigen Zivilisation), und er betont am Schluß seiner kritischen Zustimmung ausdrücklich: „Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ (Karl Marx, Das Kapital, Bd.I, S.16,18. Verlagsgenossenschaft, Moskau 1932) [4]

Man sieht also, daß bei Marx und Engels zwischen den frühesten und spätesten Kennzeichnungen ihrer Methode vollkommene Übereinstimmung herrscht.

In seiner idealistischen Sprache bringt schon der alte Hegel den Grundgedanken zum Ausdruck, um den es sich hier handelt, daß nämlich gewonnene Resultate erst zusammen mit der Entwicklung, die zu ihnen geführt hat, das Wahre sind. Hegel hat das Verhältnis theoretischer Resultate zu der gedanklichen Entwicklung im Auge, die zu ihnen geführt hat. Bei ihm als Idealisten ist der Gedanke und seine Bewegung das Original, die materielle Wirklichkeit und ihre Bewegung ist ihr Abbild. Aber man braucht nur dieses Verhältnis umzukehren und die materiellen Bedingungen und Voraussetzungen als Original zu nehmen, das die theoretische Entwicklung wiedergibt, so wird der von ihm ausgedrückte Gedanke vollkommen richtig.

In der Vorrede zur Phänomenologie sagt Hegel:

„Denn die Sache ist nicht in ihrem Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden; der Zweck für sich ist das unlebendige Allgemeine, wie die Tendenz das bloße Treiben, das seiner Wirklichkeit noch entbehrt, und das nackte Resultat ist der Leichnam, der die Tendenz hinter sich gelassen“ [5]

Versuchen wir, dies ins Materialistische zu übersetzen und auf die sozialistische Revolution anzuwenden, so können wir sagen:

Die sozialistische Revolution ist nicht in ihrem Programm erschöpft, sondern in seiner Ausführung. Die revolutionären Grundsätze und Ziele sind nicht das Ganze, sondern erst mit ihren Voraussetzungen und ihrer Entwicklung. Die Ziele, isoliert von ihren Voraussetzungen, sind ein unlebendiges Allgemeines. Das bloße Streben ist unwirklich. Im bloßen Resultat, für sich genommen, ist die revolutionäre Bewegung selbst erloschen.

An einer anderen Stelle desselben Vorwortes sagt Hegel:

„Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze ist aber nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ [6]

Und in seiner Enzyklopädie (§ 14) sagt er in prägnanter Zusammenfassung:

„Ein Inhalt hat allein als Moment des Ganzen seine Rechtfertigung, außer demselben aber eine unbegründete Voraussetzung oder subjektive Gewißheit“ [7],

übersetzen wir wieder: Ein revolutionärer Satz ist allein gerechtfertigt als Teil einer revolutionären Gesamtentwicklung. Außerhalb dieser ist er nur eine willkürliche Behauptung, oder er hat nur subjektive, nicht objektive Geltung. Schließlich ist noch seine Feststellung von Interesse, daß Resultate, wenn sie von ihren Voraussetzungen isoliert und so in die Form der Allgemeinheit gebracht werden, dadurch in Wahrheit ihre allgemeine Bedeutung verlieren und selbst wieder nur zu Besonderheiten werden.

Das ist der Sinn der folgenden Stelle der Enzyklopädie (§ 80, Zusatz), in der der trennende „Verstand“ im Gegensatz zur „Vernunft“ genommen wird, die die Dinge in ihrem Zusammenhang erfaßt:

„Die Tätigkeit des Verstandes besteht überhaupt darin, ihrem Inhalt die Form der Allgemeinheit zu erteilen, und zwar ist das durch den Verstand gesetzte Allgemeine ein abstrakt Allgemeines, welches als solches dem Besondern gegenüber festgehalten, dadurch aber auch zugleich selbst wieder als Besonderes bestimmt wird.“ [8]

Nehmen wir ein Beispiel, etwa aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung: die nurparlamentarische und nurgewerkschaftliche Form des Klassenkampfes wie ihn die deutsche Sozialdemokratie während eines bestimmten Abschnittes ihrer Geschichte anwandte. Sie wurde verallgemeinert, für allgemein gültig erklärt, getrennt von ihren bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen. Aber dadurch verlor sie den Charakter der wahren Allgemeinheit. Sie wurden so selbst zu einer Besonderheit, von nur zeitlich und örtlich beschränkter Gültigkeit.

Allgemein: Aufgaben, Ziele, Grundsätze, die materialistisch abgeleitet sind, verlieren, wenn sie getrennt werden von ihren materiellen und theoretischen Voraussetzungen, ihren Charakter der Allgemeinheit und der objektiven Gültigkeit. Sie verwandeln sich aus „Anleitungen zum Handeln“ in Dogmen, aus fruchtbaren, objektiven Wahrheiten zu unfruchtbaren, subjektiven Glaubensartikeln. Nichts leichter daher, aber auch nichts verkehrter, als die aus der Bewegung eines Landes gewonnenen Resultate von ihren Voraussetzungen zu isolieren, zu verallgemeinern und dann auf ein anderes Land zu übertragen. Oder auch in einem und demselben Lande die verallgemeinerten Resultate einer bestimmten Entwicklungsphase ohne weiteres zum Maßstab einer anderen Entwicklungsphase zu machen.

Man kann auf diese Weise die Zitate aus Marx, Engels, Lenin häufen und mit ihnen „beweisen“, was man will. Man hat so nur, um den drastischen Hegel’schen Ausdruck zu gebrauchen, mit dem „Leichnam“ zu tun, aus dem die Seele der materialistisch-dialektischen Methode, und d.h. des revolutionären Verstehens und Handelns, entflohen ist. Diese selbst ist aber unbekümmert weiter geschritten.

Der Übergang von der lebendigen materialistisch-dialektischen Methode zu ihrem Gegenteil ist so leicht zu machen, wie Hegel den Übergang aus der „spekulativen“ in die „bloße Verstandeslogik“ schildert. (Enzyklopädie, § 82):

„In der spekulativen Logik“, sagt er, „ist die bloße Verstandeslogik enthalten und kann aus jener sogleich gemacht werden; es bedarf dazu nichts, als daraus das Dialektische und Vernünftige wegzulassen; so wird sie zu dem, was die gewöhnliche Logik ist, eine Historie von mancherlei zusammengestellten Gedankenbestimmungen, die in ihrer Endlichkeit als etwas Unendliches gelten.“ [9]

Im Politischen ist dieser Übergang nicht weniger leicht. Wenn es in der Logik zur „gewöhnlichen“ Logik, so führt es in der Politik ebenfalls zur „gewöhnlichen“, das heißt der bürgerlichen, Politik zurück.
 


Zweites Kapitel:
Der Maßstab

1. Ein Musterbeispiel der Umkehrung der materialistisch-dialektischen Methode

Der Maßstab, der gesucht wird, ist der, der an die heutige Sowjetunion – zunächst an ihre Wirtschaft, aber dann auch an ihre Staatsform usw. – anzulegen ist. In der größten Allgemeinheit gefaßt, handelt es sich um die elementare Frage: Was ist Sozialismus? Wie unterscheidet er sich vom Kapitalismus?

Es mag auffällig erscheinen, daß die Frage überhaupt noch heute aufgeworfen werden muß – über 100 Jahre, nachdem der wissenschaftliche Sozialismus von Marx und Engels begründet worden und zuerst aufgetreten ist; nach einer reichen und vielseitigen Ausarbeitung der marxistischen Theorie in vielen Ländern, nach der mächtigen Entfaltung von Arbeiterbewegungen, die sich zum wissenschaftlichen Sozialismus theoretisch bekennen und ihn ihrer praktischen Tätigkeit zugrundelegen. Sollte man nicht denken, daß die Frage längst „erledigt“ sei?

Was die theoretische Seite anlangt, so gibt uns die Mathematik, die exakte Wissenschaft par excellence, die dazu eine Geschichte von etwa zweieinhalb Jahrtausenden hinter sich hat, ein Beispiel, wie es immer wieder periodisch notwendig wird, die Grundlagen neu zu untersuchen, neu zu sichern, strenger zu fassen, tiefer zu legen. Dies geschieht in der Regel am Ende bestimmter Abschnitte ihrer Entwicklung und zu Beginn eines neuen Entwicklungsabschnittes, um bereits gewonnene Resultate kritisch zu sichten und um neue Bahnen, neue Methoden der Forschung zu erschließen.

Wenn also der wissenschaftliche Sozialismus sich heute in derselben Notwendigkeit befindet, so braucht er sich dessen nicht zu schämen. Er ist in guter Gesellschaft.

Anderseits ist es gerade die Tatsache, daß die unscheinbaren Keime der sozialistischen und kommunistischen Bewegung sich innerhalb von 100 Jahren so mächtig und verschiedenartig entwickelt haben, in so vielen verschiedenen Ländern, durch eine so große Zeitstrecke der gesellschaftlichen Entwicklung, und d.h. unter sehr verschiedenen tatsächlichen Voraussetzungen, Bedingungen, Umgebungen, die es begreiflich machen, daß diese Vielfalt wieder auf die Einheit, und d.h. auf die Grundlage zurückgeführt werden muß. Gerade aus dieser reichen und vielseitigen Entwicklung entsteht das Bedürfnis der kritischen Sichtung. Es gilt, das tatsächlich von dem nur scheinbar Errungenen kritisch zu scheiden und es so zu sichern, um einen neuen, höheren Entwicklungsabschnitt vorzubereiten.

Als Musterbeispiel der Umkehrung der materialistisch-dialektischen Methode bei der Feststellung des Maßstabes zur Beurteilung der Wirtschaftsform der Sowjetunion wählen wir Rudolf Hilferding. Und zwar gerade deshalb, weil bei ihm diese Umkehrung vollkommen naiv und unbewußt auftritt. Und weil es sich hier um jemanden handelt, der in der Vergangenheit unstreitige Verdienste um die marxistische Theorie gehabt, der sie auf ökonomischem Gebiet mit Erfolg angewandt hat, – der aber an der Erscheinung der russischen Revolution, nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch seine Schranken gefunden hat und daher an ihr sowohl theoretisch wie praktisch scheitert.

Wir haben einen Aufsatz R. Hilferdings im Auge über Staatskapitalismus oder totalitäre Staatswirtschaft, der zuerst in der Mainummer 1940 des menschewistischen Organs Sozialistitscheski Wjestnik erschienen war, und dann, unter Hinweis auf seine internationale Bedeutung und seinen dauernden Wert, in der Nummer 5 (585) vom 22. Mai 1946 desselben Organs im Feuilleton wieder abgedruckt wurde.

Wir greifen hier nur das heraus, was sich auf den Maßstab zur Beurteilung der Sowjetunion bezieht. Auf die Folgerungen, zu denen Hilferding mittels seiner Methode und seines Maßstabes gekommen ist, werden wir an anderer Stelle eingehen. Der Artikel ist natürlich ursprünglich in deutscher Sprache geschrieben; wir übersetzen hier aus dem Russischen zurück. Die Unterstreichungen rühren von uns her.

„Sicherlich“, erklärt hier Hilferding, „vom sozialdemokratischen Standpunkt aus ist es schwer, das bolschewistische Wirtschaftssystem sozialistisch zu nennen. Denn in unserer Vorstellung ist der Sozialismus unzertrennlich verbunden mit der Demokratie. In der Wirtschaft des Landes müßten nach unserer Theorie die gesellschaftlichen Produktionsmittel der Verfügung einer Klasse entzogen und der demokratischen Selbstverwaltung der ganzen Gesellschaft übergeben werden. Und wir haben uns nie vorgestellt, daß die politische Form der „Bedarfswirtschaft“, in die sich die freie kapitalistische Wirtschaft verwandeln soll, ein unbeschränkter Absolutismus sein könne. Das Verhältnis zwischen der wirtschaftlichen Grundlage und dem politischen Überbau erschien als ganz bestimmt: nämlich daß die sozialistische Gesellschaft die volle Verwirklichung der Demokratie mit sich führen soll. Selbst diejenigen unter uns, die für die Übergangsperiode die allerschärfste Anwendung der zentralisierten Staatsmacht für unumgänglich und unvermeidlich hielten, betrachteten diesen Zustand nur als vorübergehend, der beendigt werden muß nach der Unterdrückung des Widerstandes der besitzenden Klassen. Zugleich mit den Klassen müßte auch der Klassenstaat beseitigt werden, den wir als die einzig mögliche Form der politischen Herrschaft überhaupt betrachteten. „Der Staat stirbt ab ....“ Einmal dem Staat untergeordnet, so sichert die Ökonomie die weitere Existenz dieser Staatsform. Der Umstand, daß ein solches Resultat das Ergebnis einer einzigartigen Lage ist, die vor allem im Krieg besteht, macht die marxistische Analyse nicht unmöglich, aber sie bringt auch Veränderungen mit sich in unseren allzu einfachen und schematischen Vorstellungen über das Verhältnis von Wirtschaft und Politik, die in eine ganz andere Epoche geführt haben ...“

Was hier mit besonderer Klarheit, Selbstverständlichkeit und Naivität ausgesprochen wird, ist dies, daß die Vorstellungen, die bei den sozialdemokratischen Parteien West-und Mitteleuropas über das, was Sozialismus ist, entwickelt und festgelegt worden waren, zum Maßstab für das gemacht werden, was Sozialismus ist oder nicht ist, und damit auch an die Beurteilung der Sowjetunion angelegt werden. Hilferding dämmerte dabei immerhin eine gewisse Ahnung auf, daß die „marxistische Analyse“, so wie er sie hier anwendet, dabei in die Klemme gerät. In der Tat macht sie auf diese Weise eine solche „Veränderung“ durch, daß sie in ihr gerades Gegenteil verkehrt wird.

Der Staat, welche Form er auch immer hat, gehört zum ideologischen „Überbau“. Er bestimmt in der Sowjetunion nach Hilferding den ökonomischen Unterbau. Er selbst aber, der ideologische Überbau, ist durch nichts mehr bestimmt als durch seinen eigenen Machtwillen. Er ist selbstherrlich, selbstgesetzlich geworden, in Gestalt der Handvoll Diktatoren, die die Macht ausüben. Die Marx’sche materialistische ist so in die allergewöhnlichste idealistische Methode umgeschlagen. Worin unterscheidet sich das von Treitschkes bekanntem trivialen Ausspruch: „Männer machen die Geschichte“?

Hilferding mißt die Sowjetunion an den Vorstellungen, die sich die sozialdemokratischen Parteien des Westens, d.h. der kapitalistisch hochentwickelten Länder, von dem gemacht haben, was Sozialismus ist, statt sie aus ihren eigenen materiellen Voraussetzungen heraus zu beurteilen.

Diese Vorstellungen des Westens über den Sozialismus sind aus den Voraussetzungen des Westens abgeleitet. Getrennt von diesen Voraussetzungen, ihnen gegenüber verselbständigt, verallgemeinert, und dann auf wesentlich von ihnen verschiedene Voraussetzungen angewandt, schlägt die materialistische Methode in die idealistische um; die Wirklichkeit wird an der Vorstellung gemessen, statt umgekehrt. Gleichzeitig geht die dialektische Seite der Methode verloren, indem die im Westen gewonnenen Resultate getrennt werden von ihren Voraussetzungen. An ihre Stelle tritt „die abstrakte Verallgemeinerung“, die subjektive Versicherung, um die Hegel’schen Ausdrücke zu gebrauchen; der Schematismus, die Pedanterie – um heute geläufige Ausdrücke zu wählen.

Der vermeintliche allgemeine Maßstab schlägt so um in einen besonderen, dem des Westens gegenüber dem Osten.

Mit dieser Methode steht Hilferding nicht allein. Er drückt nur besonders deutlich aus, was als Methode und Maßstab gegenüber der russischen Revolution dem menschewistischen Standpunkt durchgehend zugrundeliegt. Auch hier sind es die im Westen und aus den Voraussetzungen des Westens entwickelten und festgewordenen Vorstellungen über das, was Sozialismus ist, die zum Maßstab für die russische Entwicklung gemacht worden sind und werden.

Auf einer höheren und entwickelteren Stufe sehen wir dasselbe Verfahren bei Trotzki. Zum Teil sind es auch hier die Maßstäbe des Westens, die unbesehen auf den Osten übertragen werden. Zum Teil aber, und das macht die Besonderheit der Methode Trotzkis aus, legt er die Maßstäbe einer bestimmten Periode der russischen Revolution, nämlich ihrer Anfänge, wenn man will der Leninschen Periode, auf die folgende, wenn man will die Stalinsche Periode, an.

Sind es auf der einen Seite örtlich verschiedene Voraussetzungen -–, die schematisiert, dogmatisiert und also falsch verallgemeinert werden, so auf der anderen Seite die Resultate eines bestimmten Zeitabschnittes der Entwicklung in einem und demselben Lande.

In beiden Fällen sind es bestimmte – richtige – Resultate, die isoliert werden von der Entwicklung, die zu ihnen geführt hat, von ihren örtlichen oder zeitlichen Voraussetzungen und Bedingungen, und die so falsch werden.

„Das Wahre ist aber nur das Ganze: das Resultat mit seinem Werden“, mit seinen Voraussetzungen, mit seinen Bedingungen, mit seiner Entwicklung.

Um den wahren Maßstab zu gewinnen, ist es daher notwendig, die unbesehen hingenommenen und so zum Maßstab gemachten Resultate in Zusammenhang zu bringen mit den ihnen zugrundeliegenden Voraussetzungen – den materiellen wie den theoretischen –, und so statt zu einer abstrakten und falschen, zu einer konkreten und richtigen Allgemeinheit zu kommen. Es handelt sich also hier um eine kritische Sonderung.
 

2. Die Marx’sche allgemeine Formel, ihre Entwicklung und ihre Voraussetzungen

Die folgerichtig strenge und reine Anwendung der materialistisch-dialektischen Methode findet man vor allem bei Marx selbst in seiner Analyse des Kapitals und seiner Entwicklungstendenzen. Marx geht hier nicht von Vorstellungen aus über das, was die Wirtschaftsform sein soll, die den Kapitalismus ablöst. Er geht von der Wirklichkeit des Kapitalismus aus. Er analysiert diese Wirklichkeit objektiv wissenschaftlich. Aus dieser Analyse ergibt sich, daß die kapitalistische Wirtschaftsform aus bestimmten materiellen Voraussetzungen heraus geschichtlich entstanden ist und daß die Gesetze, die sie beherrschen, nicht ewige Naturgesetze, sondern geschichtliche Gesetze sind. Darin ist dreierlei eingeschlossen:

Erstens: daß die Gesetze der kapitalistischen Wirtschaftsform die ihr vorangehenden Wirtschaftsformen aufgelöst, und das heißt ihre Gesetze aufgehoben haben. Dies ist kein einmaliger, nur in der Vergangenheit liegender Vorgang. Auch nachdem die kapitalistische Wirtschaftsform schon voll ausgebildet ist, stößt sie immer wieder auf vorkapitalistische Wirtschaftsformen, löst sie auf, löst ihre Gesetzlichkeit durch die eigene ab.

Zweitens: die kapitalistische Wirtschaftsform, einmal ausgebildet, reproduziert sich, erhält sich für eine gewisse Zeit und unter gewissen Bedingungen durch ihre eigene innere Gesetzlichkeit. Durch das Spiel der Gesetze des Kapitalismus wird ständig die Klasse der Lohnarbeiter als Lohnarbeiter, die Klasse der Kapitalisten als Kapitalisten und somit auch ihr wechselseitiges Verhältnis als gesellschaftliche Klassen wieder erzeugt. Die erweiterte Reproduktion des Kapitals schließt die einfache Reproduktion, das Wachstum die einfache Erhaltung, ein. Die Reproduktion des Kapitals ist die Reproduktion nicht nur bestimmter materieller Dinge, die die doppelte Eigenschaft von Werten und Gebrauchswerten haben, sondern auch bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Diese ständige Selbsterhaltung der kapitalistischen Wirtschaftsform ist nicht durch den geschichtlichen Charakter der sie beherrschenden Gesetzlichkeiten verursacht, sondern durch ihre Gesetzlichkeit überhaupt: dem Umstand, daß das geschichtliche Gesetz auch Gesetz ist.

Drittens: die geschichtliche Seite der Gesetzlichkeit des Kapitalismus zeigt sich aber wieder darin, daß sie schließlich zu ihrer Selbstaufhebung und zur Erzeugung einer anderen, höheren Gesellschaftsform führt, worin nicht nur dem Inhalt nach verschiedene Gesetze die des – Kapitalismus ablösen, sondern in der auch die Form der Gesetzlichkeit selbst, unter der die Wirtschaft und das ganze gesellschaftliche Leben stehen, sich grundsätzlich ändert.

Die Gesetzlichkeit unter der der Kapitalismus steht, ist bewußtlos, blind. Die der sozialistischen Wirtschaftsform ist bewußt. Im Kapitalismus beherrscht das Gesetz die Menschen, im Sozialismus beherrschen die Menschen das Gesetz ihres gesellschaftlichen Lebens. Es versteht sich, daß es sich hier nicht um „Automatismus“ im mechanischen Sinne des Wortes handelt. Die Elemente des kapitalistischen Wirtschaftslebens, die Individuen, sind bewußte Wesen. Sie handeln individuell bewußt. Aber sie handeln nicht kollektiv bewußt.

Marx sucht die allgemeinen Gesetze des Kapitalismus, seiner Entstehung, seiner Erhaltung, seines Untergangs und seines Uebergangs zu einer neuen, höheren Wirtschaftsform. Seiner Analyse liegt der englische Kapitalismus seiner Zeit, als die damals entwickeltste und klassisch-musterhafte Form zugrunde. Aber seine Analyse streift die Besonderheiten der Zeit und des Ortes ab und stellt so die allgemeinen Gesetze der kapitalistischen Wirtschaftslorm als solcher rein dar.

Das allgemeine Gesetz ist im besonderen enthalten, aber es fällt nicht mit dem besonderen zusammen. Es muß aus ihm erst rein abgesondert werden. Eben in diesem richtigen Uebergang zeigt sich die Tiefe und Strenge der Marx’schen Analyse.

Das allgemeine Gesetz der notwendigen Selbstaufhebung des Kapitalismus und seines Überganges zu einer anderen, höheren Wirtschaftsform findet man ausgesprochen im Kapitel XXIV des ersten Bandes des Kapital: 7. Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation.

Es lautet:

„Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ (Karl Marx, Kapital, Bd.I, S.803)

Wer enteignet das kapitalistische Privateigentum? Darauf antwortet eine andere Stelle desselben Kapitels:

„Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Aera: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.“ (Karl Marx, Kapital, Bd.I, S.803)

Es sind die Produzenten, das heißt die Arbeiter, die sich nicht individuell, sondern- kollektiv das Land und die Produktionsmittel aneignen.

Marx verweist hier auf folgende Stelle des Kommunistischen Manifests (1847) als eine Vorwegnahme dieser Analyse:

„Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber.“

Es ist dies das Proletariat, „eine wirklich revolutionäre Klasse“; ihm gegenüber sind alle anderen Klassen „reaktionär, denn sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehn.“ (Das Kommunistische Manifest, London 1848, S.9, 11, zitiert im Kapital, Bd.I, S.804, Fußnote Nr.252)

Was ist das „Kapitalmonopol“? Darüber sagt Marx im Kapital, Band III, Kapitel XLVIII:

„Das Kapital ist nicht die Summe der materiellen und produzierten Produktionsmittel. Das Kapital, das sind die in Kapital verwandelten Produktionsmittel, die an sich so wenig Kapital sind, wie Gold und Silber an sich Geld ist. Es sind die von einem bestimmten Teil der Gesellschaft monopolisierten Produktionsmittel, die der lebendigen Arbeitskraft gegenüber verselbständigten Produkte und Betätigungsbedingungen eben dieser Arbeitskraft, die durch diesen Gegensatz im Kapital personifiziert werden.“ (Karl Marx, Kapital, Bd.III, S.867, 868)

Das Kapitalmonopol ist allgemein die Trennung der Produktionsmittel von den Produzenten (den Arbeitern). Ein „Teil der Gesellschaft“ wird ihr alleiniger, ausschließlicher Besitzer und schließt den „anderen Teil“, die Produzenten, die Arbeiter, von der Verfügung über sie aus und bringt sie in Gegensatz zu ihnen.

Dieser Teil der Gesellschaft, der ausschließlich über die Produktionsmittel verfügt, wird durch die Konzentration und die Zentralisation der Kapitale immer geringer an Zahl.

Unter „Zentralisation“ versteht Marx die Zusammenfassung bereits bestehender individueller Kapitale in einer Hand. Als ihre theoretische Grenze gibt er an:

„In einem gegebnen Geschäftszweig hätte die Zentralisation ihre äußerste Grenze erreicht, wenn alle darin angelegten Kapitale zu einem Einzelkapital verschmolzen wären. In einer gegebenen Gesellschaft (gemeint ist hier eine nationale Ökonomie) wäre diese Grenze erreicht erst in dem Augenblick, wo das gesamte gesellschaftliche Kapital vereinigt wäre in der Hand, sei es eines einzelnen Kapitalisten, sei es einer einzigen Kapitalistengesellschaft. (Karl Marx, Kapital, Bd.I, S.660, 661)

Dies ist eine „Grenze“ in dem Sinne, daß der Prozeß der Zentralisation nicht zum Stehen kommt, ehe er sie nicht erreicht hat: er muß sie aber nicht erreichen.

Marx erwähnt ausdrücklich Aktiengesellschaften (stock companies) als Mittel einer „glatten“ Zentralisation des Kapitals.

Die wesentlichen allgemeinen Züge der neuen Gesellschaftsform werden im folgenden näher bestimmt:

„Es ist eine der zivilisatorischen Seiten des Kapitals, daß es diese Mehrarbeit in einer Weise und unter Bedingungen erzwingt, die der Entwicklung der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Schöpfung der Elemente für eine höhere Neubildung vorteilhafter sind als unter den früheren Formen der Sklaverei, Leibeigenschaft usw. Es führt so einerseits eine Stufe herbei, wo der Zwang und die Monopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung (einschließlich ihrer materiellen und intellektuellen Vorteile) durch einen Teil der Gesellschaft auf Kosten des ändern wegfällt; andererseits schafft sie die materiellen Mittel und den Keim zu Verhältnissen, die in einer höhern Form der Gesellschaft erlauben, diese Mehrarbeit zu verbinden mit einer großem Beschränkung der der menschlichen Arbeit überhaupt gewidmeten Zeit.“ (Karl Marx, Kapital, Bd.III, S.872, 873)

Das Bemerkenswerte ist, daß Marx hier den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht ohne weiteres mit dem Verschwinden der materiellen und intellektuellen Vorteile eines Teils der Gesellschaft zusammenfallen läßt. Dieser Übergang schafft Bedingungen oder Teile von Bedingungen dafür. Bedingungen müssen sich erst auswirken, ehe sie ihr Resultat geben. Keime von Bedingungen müssen sich erst entfalten. Für beides ist Zeit notwendig, deren Länge sich nach dem beim Übergang vorhandenen Stand der Produktivkräfte richtet.

Wie wird die Verteilung sein in einer Wirtschaftsform, die mit gemeinsamen Produktionsmitteln arbeitet?

Marx kennzeichnet allgemein eine solche Gesellschaft als

„einen Verein freier Menschen ..., die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben“. (Kapital, Bd.I, S.84)

Aus der Form der Produktion ergeben sich notwendig als allgemeine Züge der Verteilung der Produkte: das Gesamtprodukt ist gesellschaftliches Produkt. Ein Teil davon dient als neues Produktionsmittel und bleibt gesellschaftlich. Ein anderer Teil wird von den Mitgliedern der Gesellschaft als Unterhaltsmittel konsumiert. Dieser Teil muß an sie verteilt werden.

Wie?

Die Art dieser Verteilung wird wechseln mit der besondren Art des gesellschaftlichen Produktionsorganismus selbst und der entsprechenden geschichtlichen Entwicklungshöhe der Produzenten.“ (Kapital, Bd.I, S.84)

Die Form der Verteilung des individuell zu konsumierenden Teils der gesellschaftlichen Produktion ist also keineswegs von vornherein festgelegt. Sie ist wandelbar. Sie hängt jeweils ab von den bestimmten Formen der Produktion einer bestimmten sozialistischen Wirtschaft und dem von den Produzenten erreichten „Grad der historischen Entwicklung“, worunter wir zu verstehen haben: die qualitative Gliederung der Produktions- und Verkehrsmittel, die Entwicklungsstufe, auf der sich die Produzenten als Produzenten befinden (die gegebene Qualifikation und Intensität der Arbeit), Höhe und Formen ihrer kulturellen Entwicklung, die vorhandenen Rohstoffe usw. Der „Grad der historischen Entwicklung“ umfaßt eine ganze Reihe von Momenten.

An einer Stelle desselben Kapitels (S.85) sagt Marx, daß „die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d.h. des materiellen Produktionsprozesses ... nur ihren mystischen Nebelschleier“ abstreift, „sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht.“ Dies erfordert „jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft ... oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind.“ (ebenda)

Worin die „Freiheit“ besteht, von der Marx hier spricht und worin sie nicht besteht, erklärt er folgendermaßen:

„Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten (angemessensten) Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“ (Karl Marx. Kapital, Bd.III, S.873, 874)

Es ist hier nicht die Rede von der politischen Form sozialistischer Wirtschaft, weder von der „Demokratie“ oder einer anderen politischen Form. Wir stehen auf dem Boden der Ökonomischen Analyse. Dieser Boden wird streng festgehalten.

Die Freiheit, um die es sich hier handelt, ist von zweierlei Art. Sie ist erstens die rationelle, bewußte Beherrschung der Natur. Dies ist ein Wesenszug, den sie von der kapitalistischen Wirtschaftsform übernimmt und steigert. Dies unterscheidet sie von den vorkapitalistischen Formen kollektiver Wirtschaft, den verschiedenen Formen und Stufen des „Urkommunismus“. Diese ermangelten der bewußten Anwendung der Naturwissenschaften zur Beherrschung der Natur. Ihr Verhältnis zur Natur, das praktische und demgemäß das ideelle, war nicht „rationell“.

Zweitens aber ist die Freiheit, von der hier die Rede ist, die, daß die Produzenten als Kollektivität ihr gesellschaftliches Leben frei, bewußt, planmäßig beherrschen. Das ist ein wesentlicher Unterschied von der kapitalistischen Wirtschaftsform. Es ist zugleich der Zug, der der modernen sozialistischen Wirtschaft mit den vorkapitalistischen Formen kollektiver Wirtschaft gemeinsam ist. Dieser Zug wird jetzt auf dem Boden der technischen, wissenschaftlichen und organisatorischen Errungenschaften, des Kapitalismus, also auf höherer Stufe, wiederhergestellt. Aber auch das Reich der vergesellschafteten Arbeit bleibt ein Reich der Notwandigkeit. Die materielle Arbeit in jeder ihrer Formen ist ein unvermeidlicher Zwang, ein Naturgesetz. Dieser Zwang endet erst jenseits der materiellen Arbeit, wo die Entwicklung der menschlichen Kräfte und Fähigkeiten Selbstzweck ist. Der Raum dieser Freiheit ist die freie Zeit – die Muße. Aber diese Freiheit ist unlöslich gebunden an das Reich der Notwendigkeit, des Zwangs, den die materielle Arbeit darstellt. Sie ist also immer bedingt und begrenzt. Diese Bedingungen sind geschichtlich veränderlich, diese Grenzen sind beweglich. Aber sie sind immer da. Es handelt sich also um keine absolute oder metaphysische, sondern um eine relative Freiheit. Diese Freiheit ist an ihr Gegenteil, die Notwendigkeit, gebunden.

Die Freiheit, um die es sich hier handelt, hat, wie man sieht, nichts mit den möglichen politischen Formen einer sozialistischen Wirtschaft zu tun. Es handelt sich hier nicht um die Frage der Freiheit oder Unfreiheit im üblichen politischen Sinne des Wortes. Es handelt sich um die ökonomische Form der Produktion, nicht um die politische Form der sozialistischen Gesellschaft. Diese Freiheit liegt tiefer. Sie kann sich in verschiedenen, wechselnden politischen Formen ausdrükken. Diese Formen hängen von einer ganzen Reihe geschichtlicher Bedingungen ab. Sie werden demgemäß selbst eine geschichtliche Entwicklungsreihe darstellen.

Dies ist keine willkürliche Deutung. Sie ist in Übereinstimmung mit der Methode der Marx’schen Analyse, während die vielfach übliche politische Deutung in geradem Widerspruch zu ihr steht.

Im übrigen haben Marx und Engels in ihrer Auseinandersetzung mit dem Anarchismus die Freiheit im vulgären politischen Sinn des Wortes für den Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Wirtschaft und für eine ganze Entwicklungsphase dieser Wirtschaft selbst abgelehnt.

Schließlich seien noch zwei wesentliche Züge der kapitalistischen Produktionsform angeführt.

Erstens: Die allgemeine Form des Produkts in dieser Gesellschaft ist die Ware, der Tauschwert. Erst in der kapitalistischen Wirtschaftsform wird die Ware zur allgemeinen Form des Produktes. Mit anderen Worten: sie ist die allgemeine und vollständige Aufhebung der Produktion für den unmittelbaren Bedarf, der „Bedarfswirtschaft“, ihr schroffster Gegensatz. Sie ist wesentlich Produktion für den Markt; die Bedarfsdeckung ist hier allgemein durch die Warenzirkulation vermittelt. Ferner: Die Ware ist hier das Produkt von Kapital (im Gegensatz zur Ware, die das Produkt des selbstarbeitenden Produzenten ist). Sie ist also an die Existenz des Kapitals und ihre Bedingungen gebunden. Negativ ausgedrückt: mit der Aufhebung der Bedingungen der Existenz und des Funktionieren des Kapitals werden zugleich die Bedingungen für die Produktion von Waren aufgehoben und damit die durch sie vermittelte Form der Befriedigung des Bedarfs der Gesellschaft an materiellen Gütern, an Gebrauchswerten.

Mit der Aufhebung der kapitalistischen Form der Wirtschaft wird demgemäß auch dieser ihr Charakter aufgehoben. An die Stelle der Produktion von Waren tritt die Produktion unmittelbar für den Bedarf. Sie unterliegt ganz anderen Gesetzen und Bedingungen. Sie hebt die Grenzen auf, die der Produktion durch die kapitalistische Wirtschaftsform gezogen sind. Sie erweitert diese Grenzen.

Zweitens: Das Motiv und Ziel der kapitalistischen Produktion ist nicht Wert schlechthin, sondern sich vermehrender Wert, Mehrwert. Das bedingt aber die Tendenz den Kostpreis der Waren auf ein Minimum hinabzudrücken, damit aber auch den „Preis der Ware Arbeitskraft“, den Lohn, der ein unentbehrlicher Bestandteil der Ware ist.

Mit der Authebung der kapitalistischen Wirtschaftsform wird auch diese ihre Grundtendenz aufgehoben. Mit der Lohnform werden auch die Bedingungen aufgehoben, die den Lohn auf ein Minimum herabzudrücken bestrebt sind.

Und schließlich folgt aus diesem Punkt, daß in der kapitalistischen Gesellschaft die Produktion von Waren nach Umfang und Art, und damit der Lebensprozeß dieser Gesellschaft selbst, bedingt ist durch die Produktion von Mehrwert. Je nachdem und je nach dem Umfang, in dem die Bedingungen für die Produktion von Mehrwert vorhanden sind oder fehlen, können Waren produziert werden oder nicht, schlägt der Puls der Gesellschaft normal oder stockt, wird er beschleunigt oder gehemmt. Ebenso hängt davon die Art der Waren ab, die produziert oder nicht produziert werden. Fällt das Kapital, so fallen auch diese Abhängigkeiten. Ob produziert wird, wieviel und was, hängt dann lediglich ab von den Bedürfnissen, von Umfang und Art der Arbeitsmittel, Rohstoffe und Arbeitskräfte.

Soweit die Grundzüge der ökonomischen Analyse der kapitalistischen Wirtschaft durch Marx. Sie ist materialistisch, denn sie analysiert die wirtschaftliche Wirklichkeit. Sie ist dialektisch, denn sie erfaßt die Gesetzmäßigkeit dieser Wirtschaft in dem inneren Zusammenhang ihrer Teilgesetze und in ihrer Bewegung, ihres Entstehen aus der vorhergehenden Wirtschaftsform, ihrer Entfaltung zu ihrer vollen Höhe, ihrer schließlichen Selbstaufhebung und ihrem Übergang zu einer neuen höheren Form.

Wir können nunmehr die Folgerungen ziehen, die sich aus dieser materialistischen und dialektischen Analyse für das ergeben, was sozialistische Wirtschaft ist.

Es ergibt sich daraus, daß das wesentliche Merkmal die Aufhebung der kapitalistischen Wirtschaft ist: die Enteignung des Teils der Gesellschaft, der ausschließlich über die Produktionsmittel verfügt, der Kapitalistenklasse also.

Das wesentliche Merkmal des Übergangs dieser Wirtschaft zur sozialistischen Wirtschaft ist die Aneignung der Produktionsmittel (des Landes und der Produktionsmittel im engeren Sinne) als kollektives Eigentum der Produzenten, der Arbeiterklasse.

Nichts weniger und nichts mehr macht diesen Übergang aus. Sehen wir nun zu, was in diesen wesentlichen Merkmalen nicht enthalten ist.

Es ist darin nichts enthalten über die Eigentumsformen, in denen im Augenblick dieses Übergangs die Kapitalistenklasse über das Land und die Produktionsmittel verfügt. Das „Kapitalmonopol“, d.h. die ausschließliche Verfügung der Kapitalistenklasse über die Produktionsmittel, kann bestehen in der Form des ausschließlichen oder vorherrschenden kapitalistischen Privateigentums – des Vorherrschens des Typus des individuellen Kapitalisten (wie dies in der Zeit, als der erste Band des Kapital abgefaßt wurde, in England der Fall war). Oder es kann der Typus der kapitalistischen Gesellschaften vorherrschen (Aktiengesellschaften, Syndikate, Kartelle, Trusts, Korporationen usw.) oder es kann eine Stufe erreicht sein, wo der kapitalistische Staat als der „kollektive Kapitalist“ über die entscheidenden Produktionsmittel verfügt.

Die allgemeine Formel, indem sie von den besonderen Formen des Kapitalmonopols absieht, umfaßt alle diese Formen und ihre möglichen Kombinationen. Das Wesentliche ist die ausschließliche Verfügung eines Teils der Gesellschaft über die Produktionsmittel, und zwar des nicht-produzierenden Teils, während ein anderer Teil der Gesellschaft, die Produzenten .(die Arbeiterklasse), von der Verfügung darüber ausgeschlossen ist

Dieser Teil der Marxschen Formel ist also wirklich allallgemein: er ist unabhängig von der besonderen Form, die das Kapitalmonopol in England hatte. Er umfaßt alle Formen der kapitalistischen Wirtschaft.

Ebenso sagt die allgemeine Formel nichts über die Formen der Enteignung; mit oder ohne Entschädigung, friedlich, oder gewaltsam, stückweise oder mit einem Schlag.

Aber sie besagt positiv, daß die kapitalistische Wirtschaft erst dann aufhört, wenn die Kapitalistenklasse, die Klasse der Nichtproduzenten, in welcher Form auch immer, enteignet ist, wenn sie nicht mehr die tatsächliche Verfügung über das Land und die Produktionsmittel hat.

Nun zur anderen Seite der allgemeinen Formel, der kollektiven Aneignung der Produktionsmittel durch die Produzenten.

Auch hier ist nichts gesagt über die besondere Form dieser Aneignung. Die Formen der kollektiven Aneignung und Verfügung über die Produktionsmittel können also verschieden sein, verschieden von Land zu Land, verschieden in verschiedenen Zeitabschnitten im selben Lande.

Es bleibt also offen, ob die Kollektivität der Produzenten auftritt als Staat oder als bloße Gesellschaft, welche Formen dieser Staat oder diese Gesellschaft hat.

Das Wesentliche ist hier die tatsächliche Verfügung der Produzenten über die Produktionsmittel als Kollektivität. Die Produzenten als einheitlich handelndes Ganzes verfügen über die Produktionsmittel, die ihrerseits als ein zusammenhängendes einheitliches Ganzes behandelt werden.

Weiter: es bleiben ebenfalls offen die Formen der Verteilung der individuell zu konsumierenden Produkte. Die Formen dieser Verteilung werden sich wandeln mit den Entwicklungsstufen der sozialistischen Wirtschaft.

Wenn Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms zwei aufeinanderfolgende Stufen dieser Verteilung ins Auge faßt: eine erste Stufe, in der noch der Umfang und die Art der von jedem geleisteten Arbeit den Maßstab bilden für Umfang und Art der individuell zu konsumierenden Produkte, die der Einzelne aus dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt herauszieht – unterstes Stadium der sozialistischen Wirtschaft – während in einem höheren Stadium dieser von der kapitalistischen Wirtschaft übernommene Maßstab fallen gelassen wird, und die Verteilung nach den Bedürfnissen der Einzelnen erfolgt – kommunistisches Stadium-, so sind das für ihn wohIbegründete wissenschaftliche Vermutungen, Hypothesen, Vorwegnahmen der Entwicklungsstufen der sozialistischen Wirtschaft. Aber nicht mehr. Was wissenschaftlich festzustellen ist, ist lediglich die geschichtliche und lokale Wandelbarkeit der Formen der Verteilung in einer sozialistischen Wirtschaft. Diese Formen in ihrer Bestimmtheit, in ihren Einzelheiten voraussehen und festlegen zu wollen, ist wissenschaftlich nicht möglich, denn es sind viele Faktoren, die in diese Bestimmung eingehen. Es lassen sich nur Vermutungen anstellen über einige allgemeine Züge dieser Entwicklung.

Ferner: die allgemeine Formel enthält keinerlei Bestimmung über das Lebensniveau der Produzenten in einer sozialistischen Wirtschaft und kann sie nicht enthalten, wenn sie eine materialistisch-dialektische Formel sein soll, die sich aus der Analyse der Wirklichkeit ergibt, statt aus Wunsch oder Ideologie. Alle die neuerdings üblich gewordenen Versicherungen, daß vom Sozialismus nur die Rede sein könne, wenn ein bestimmtes Niveau der Produktion erreicht sei – etwa höher als das des Ausgangspunktes einer bestimmten sozialistischen Wirtschaft, oder höher als das irgendeines kapitalistischen Landes – sind nur subjektive Versicherungen, Wünsche, aber keine objektiven Maßstäbe für das, was sozialistische Wirtschaft ist. Die Zuversichtlichkeit, mit der solche Maßstäbe angelegt werden, kann nichts daran ändern, daß eine solche quantitative Grenze zwischen kapitalistischer und sozialistischer Wirtschaftsform nicht objektiv wissenschaftlich zu begründen ist. Sie findet sich denn auch nicht bei Marx. Die Grenze ist zunächst qualitativ und bestimmte quantitative Verhältnisse sind erst Folgen der eingetretenen qualitativen Veränderung der Struktur der Wirtschaft und Gesellschaft. Sie lassen sich wohl nach ihrer allgemeinen Richtung, aber nicht nach Tempo und Umfang bestimmen. Natürlich hat die Höhe der Lebenshaltung, die eine sozialistische Wirtschaft ihren Mitgliedern in einem gegebenen Lande und zu einem gegebenen Zeitpunkt gewähren kann, die Richtung und das Tempo ihrer Entwicklung, hat ihr Verhältnis zur Lebenshaltung der Produzenten in anderen, kapitalistischen, Ländern ihre gewaltige praktische Bedeutung.

Aber wir wiederholen: sie geht nicht ein in die wissenschaftliche, objektive, materialistische Bestimmung der Grenzen zwischen kapitalistischer und sozialistischer Wirtschaft. Sie mag praktisch so bedeutsam und folgenreich sein wie sie will, sie ist nicht eine theoretisch wesentliche Bestimmung für die Unterscheidung dieser beiden Wirtschaftsformen. Es läßt sich keine Zahl für die Lebenshaltung angeben, die einen Schnitt macht, im mathematischen Sinne dieses Wortes, zwischen kapitalistischer und sozialistischer Wirtschaftsform, d.h. unterhalb der die eine, und oberhalb der sich die andere Wirtschaftsform befindet.

Die wichtigsten Folgerungen, die sich aus der allgemeinen Formel für den Übergang von kapitalistischer zu sozialistischer Wirtschaftsform ergeben, lassen sich nach dem Vorstehenden wie folgt zusammenfassen:

  1. Sozialistische Wirtschaft ist im ganzen Planwirtschaft.
     
  2. Sie ist Produktion unmittelbar für den Bedarf.
     
  3. Die Tendenz des Kapitalismus zur Senkung der Lebenshaltung der Arbeiterklasse, der unmittelbaren Produzenten, fällt weg; an ihre Stelle tritt die entgegengesetzte Tendenz als Motiv und Ziel der Produktion.

    Wobei wohl zu beachten ist, daß zwischen Tendenz und Verwirklichung ein Unterschied besteht, der zeitweilig sogar in den Gegensatz übergehen kann: sowohl im Falle der kapitalistischen wie der sozialistischen Wirtschaft. Wie und in welchem Tempo sich hier und dort diese Grundtendenzen verwirklichen, hängt von weiteren Bedingungen ab, die jeweils im einzelnen zu untersuchen sind.
     
  4. Durch die Enteignung werden die Kapitalisten als Klasse aufgehoben, denn es war gerade das ausschließliche Eigentum an den Produktionsmitteln, das sie zur Klasse machte. Durch die kollektive Aneignung des Landes und der Produktionsmittel von Seiten der Arbeiter werden sie als Arbeiterklasse aufgehoben, denn es war ihr Nichteigentum an Produktionsmitteln und die Verfügung ausschließlich über ihre Arbeitskraft, die sie zur Arbeiterklasse machten. Durch beides zusammen wird die Teilung der Gesellschaft in zwei Teile, die nichtproduzierenden Besitzer der Produktionsmittel, und die die Produktionsmittel nichtbesitzenden Produzenten, aufgehoben. Dies sind aber die Klassen der kapitalistischen Gesellschaft. Indem aber die Klassenteilung der kapitalistischen Gesellschaft aufgehoben wird, werden die Klassen überhaupt aufgehoben, denn die Klassen sind eine geschichtliche Form der Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft. Die „Arbeiterklasse“, indem sie sich Land und Produktionsmittel kollektiv aneignet, hört damit auf, eine Klasse im historischen und eigentlichen Sinne des Wortes zu sein. Es wird somit jetzt die Einheit der Gesellschaft hergestellt.

Welches sind nun die Voraussetzungen für die allgemeine Formel des Übergangs von der kapitalistischen zur sozialistischen Wirtschaft?

1. Um die Gesetze des Kapitalismus rein darzustellen, unterstellt Marx in seiner ganzen Analyse, daß nur die Kapitalisten- und die Arbeiterklasse vorhanden sind, und er betrachtet die kapitalistische Wirtschaftsform als die ausschließlich herrschende. Diese Annahmen sind nur der entsprechende Ausdruck der reinen Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsform, der Darstellung ihrer ungestörten allgemeinen Gesetzlichkeit.

Dies gilt folgerichtig auch für die allgemeine Analyse des Übergangs von der kapitalistischen zur sozialistischen Wirtschaftsform. Der Ausgangspunkt ist die reine kapitalistische Gesellschaft, bestehend nur aus Kapitalisten- und Arbeiterklasse. Das Resultat des Übergangs ist somit auch die reine sozialistische Gesellschaft. Der Übergang selbst ist reiner Übergang von der einen in die andere Form, oder die rein dargestellte sozialistische Revolution.

Jedermann weiß, daß die kapitalistische Gesellschaft nirgends in dieser Reinheit tatsächlich existiert, überall, auch in ihren höchst entwickelten Formen, sind in wechselndem Umfange noch vorkapitalistische Klassen beigemischt, vor allem die Klasse der „einfachen Warenproduzenten“, die im Besitz ihrer Produktionsmittel sind und keine fremden Arbeitskräfte anwenden, individuelle Produzenten: selbstarbeitende Bauern, Handwerker, Händler. Ferner: neben kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen herrschen noch auf großen Strecken des Erdballs vorkapitalistische Ausbeutungsverhältnisse: vor allem der feudale oder halbfeudale Großgrundbesitz, der mehr oder weniger unfreie Arbeitskräfte ausbeutet.

Die allgemeine Formel des Übergangs von der kapitalistischen zur sozialistischen Wirtschaft wird sich daher mit keinem der besonderen Übergänge auf Teilgebieten der kapitalistischen Gesellschaft decken, so wenig wie etwa das Fallgesetz sich in irgend einem konkreten Falle rein darstellt. Sie muß für jedes Gebiet durch die Besonderheiten seiner Klassenverhältnisse ergänzt und modifiziert werden. Das nimmt dem allgemeinen Gesetz des Übergangs nichts von seiner Bedeutung. Das Allgemeine ist im Besonderen enthalten und beherrscht es.

2. Der Übergang von der einen in die andere Wirtschaftsform ist bedingt dadurch, daß der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Produktionsweise zu einem Punkt geführt hat, wo die Existenzbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft im Ganzen, also ihrer beiden Grundklassen, nicht mehr aufrechterhalten werden können: weder die der Produzenten als Lohnarbeiter, noch die der Nichtproduzenten als Aneigner von Mehrwert in ständig wachsendem Umfang. Dies ist die Krise der kapitalistischen Wirtschaft im Ganzen, im Unterschied von den periodischen Wirtschaftskrisen, die das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft periodisch wiederherstellen.

3. Wenn die kapitalistische Wirtschaftsform so „wie jede andere bestimmte Produktionsweise eine gegebne Stufe der gesellschaftlichen Produktivkräfte- und ihrer Entwicklungsformen als ihre geschichtliche Bedingung voraussetzt“ (Kapital, Bd.III, S. 934), so gilt auch für den Bestand und die normale Entfaltung der sozialistischen Wirtschaft, daß sie „eine gewisse materielle Grundlage oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen“ erfordert, „welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind.“ (Kapital, Bd.I S.85)

Dies wird noch näher zu bestimmen sein.
 

3. Andere frühmarxistische Formeln des Übergangs zum Sozialismus

In der Deutschen Ideologie (1846) findet sich folgende Formulierung:

„Schließlich erhalten wir noch folgende Resultate aus der entwickelten Geschichtsauffassung: 1. In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktivkräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (Maschinerie und Geld) – und was damit zusammenhängt, daß eine Klasse hervorgerufen wird, welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Gesellschaft herausgedrängt, in den entschiedensten Gegensatz zu allen anderen Klassen forciert wird; eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den anderen Klassen vermöge der Auffassung der Stellung dieser Klasse bilden kann ...“ (Deutsche Ideologie, S.59)

Wie man sieht, eine konsequente materialistische Ableitung.

In den von Friedrich Engels verfaßten Grundsätzen des Kommunismus (1847) wird auf die Frage: „Welcher Art wird diese neue Gesellschaftsordnung sein müssen?“ geantwortet:

„Sie wird vor allen Dingen den Betrieb der Industrie und alle Produktionszweige überhaupt aus den Händen der einzelnen, einander Konkurrenz machenden Individuen nehmen und dafür alle diese Produktionszweige durch die ganze Gesellschaft, d.h. für gemeinschaftliche Rechnung, nach gemeinschaftlichem Plan und unter Beteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft betreiben lassen müssen. Sie wird also die Konkurrenz aufheben und die Assoziation an ihre Stelle setzen ... Das Privateigentum wird also ebenfalls abgeschafft werden müssen und an seine Stelle wird die gemeinsame Benützung aller Produktionsinstrumente und die Verteilung aller Produkte nach gemeinsamer Übereinkunft oder die sogenannte Gütergemeinschaft treten. Die Abschaffung des Privateigentums ist sogar die kürzeste und bezeichnendste Zusammenfassung der aus der Entwicklung der Industrie notwendig hervorgehenden Umgestaltung der gesamten Gesellschaftsordnung und wird daher mit Recht von den Kommunisten als Hauptforderung hervorgehoben.“ (Fr. Engels, Grundsätze des Kommunismus, S.10/11, Verlag ausländischer Arbeiter in der U.S.S.R., Moskau 1932)

Die wesentlichen Punkte sind hier wieder: die Enteignung des kapitalistischen Eigentums, die kollektive Aneignung und Nutzung der Produktionsmittel durch die „ganze Gesellschaft“, nämlich die der Produzenten.

Die 17. Frage lautet: „Wird die Aufhebung des Privateigentums mit einem Schlage möglich sein?“

Die Antwort lautet:

„Nein, ebensowenig, wie sich mit einem Schlage die schon bestehenden Produktionskräfte so weit werden vervielfältigen lassen, als zur Herstellung der Gemeinschaft notwendig ist. Die aller Wahrscheinlichkeit nach eintretende Revolution des Proletariats wird also nur allmählich die jetzige Gesellschaft umgestalten und erst dann das Privateigentum abschaffen können, wenn die dazu nötige Masse von Produktionsmittel geschaffen ist.“ (Ebenda, S.12)

Diese Fassungen zeigen deutlich den Stempel ihrer Zeit und sind deshalb von besonderem Interessse. Es ist der Kapitalismus von vor hundert Jahren, den wir vor uns haben. Typisch ist noch der individuelle Kapitalist. Die typische Form des kapitalistischen Eigentums ist das individuelle Eigentum, das Privateigentum. Hoch entwickelt ist der Kapitalismus erst in England, weniger hoch in Frankreich. In Deutschland ist er erst in den Anfängen. Mit Ausnahme etwa von England würde die proletarische Revolution damals erst noch die Durchindustrialisierung der anderen Länder vorzunehmen haben: also Industrialisierung auf sozialistischer Grundlage. Marx und Engels machten also keineswegs die vollendete Industrialisierung zur Voraussetzung der sozialistischen Revolution. Sonst hätten sie das kommunistische Programm ausdrücklich auf England beschränken müssen. Es hätte kein internationales Programm sein können. Aber sie machten allerdings die vollständige sozialistische Umwandlung der Gesellschaft und die vollständige Aufhebung des Privateigentums (an den Produktionsmitteln) abhängig von der vollständigen Industrialisierung.

Daher kann auch nicht die Rede sein vom „Sozialismus in einem Lande“, vielmehr ist die kommunistische Revolution „eine universelle Revolution und wird daher auch ein universelles Terrain haben“ (19. Frage, ebenda).

Über die Verteilungsart sagt die 20. Frage:

„Auf diese Weise (d.h. durch die Folgen der Umwandlung der planlos betriebenen kapitalistischen in die planmäßig geleitete sozialistische Produktionsweise, d. Verf) wird die Gesellschaft Produkte genug hervorbringen, um die Verteilung so einrichten zu können, daß die Bedürfnisse aller Mitglieder befriedigt werden. Die Trennung der Gesellschaft in verschiedene, einander entgegengesetzte Klassen wird hiermit überflüssig. Sie wird aber nicht nur überflüssig, sie ist sogar unverträglich mit der neuen Gesellschaftsordnung. Die Existenz der Klassen ist hervorgegangen aus der Teilung der Arbeit, und die Teilung der Arbeit in ihrer bisherigen Weise fällt gänzlich weg.“ (Ebenda, S.15)

Wohlgemerkt: der Ausgangspunkt ist hier nicht die reine kapitalistische Gesellschaft wie in der Marxschen Analyse. Es ist demgemäß auch nicht die reine sozialistische Wirtschaft, die gleich zu Anfang fertig dasteht. Aber der sozialistische Ausgangspunkt gegeben, so wird mit dem Wachstum der Produktivkräfte, mit der Industrialisierung der Länder die Klassenteilung überflüssig, ja ein Hindernis werden für den weiteren gesellschaftlichen Fortschritt. In den Hauptländern West- und Mitteleuropas waren die kapitalistischen Produktivkräfte, absolut genommen und im Vergleich mit heute zwerghaft.

Aber wenn Marx und Engels trotzdem die sozialistische Revolution auf dem „Weltgebiet“ ins Auge faßten und als internationale Aufgabe des Proletariats proklamierten, so taten sie dies in der Voraussicht, daß das Zusammenwirken der europäischen Hauptländer und der sozialistische Ausgangspunkt die Durchindustrialisierung der kapitalistisch weniger entwickelten Länder West- und Mitteleuropas entscheidend abkürzen werde.
 

4. Die letzten Formulierungen

Die letzten Formulierungen über das, was Sozialismus ist, und über seine Voraussetzungen finden sich in der kleinen Schrift von Fr. Engels „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“. Sie ist eine weitere Ausarbeitung von drei Kapiteln des Anti-Dühring (das erste Kapitel der Einleitung und das erste und zweite Kapitel des 3. Abschnittes). Die erste deutsche Ausgabe erschien 1883, dem Todesjahr von Marx.

Das besondere Interesse dieser Formulierungen ist, daß sie erstens die inzwischen stattgefundene Entwicklung der Kapitalmonopole (Syndikate, Kartelle, Trusts) berücksichtigen, zweitens die Verstaatlichungen, die im Bismarckischen Deutschland und anderwärts stattgefunden hatten oder geplant waren, vor allem aber darin, daß sie die Voraussetzungen für die Aufhebung der Klassen und das „Absterben des Staates“ ausführlicher und genauer entwickelten als bisher.

In der Bildung von kapitalistischen Gesellschaften, Syndikaten, Trusts usw. sieht Engels die „teilweise Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte“. [10]

„Es ist dieser Gegendruck der gewaltig anwachsenden Produktivkräfte gegen ihre Kapitaleigenschaft“, der – nach Engels – „die Kapitalistenklasse selbst nötigt, mehr und mehr, soweit dies innerhalb des Kapitalverhältnisses überhaupt möglich, sie als gesellschaftliche Produktivkräfte zu behandeln“, die schließlich „zu derjenigen Form der Vergesellschaftung größerer Massen von Produktionsmitteln“ treiben, „die uns in den verschiedenen Arten von Aktiengesellschaften gegenübertritt“. Aber „auf einer gewissen Entwicklungsstufe genügt auch diese Form nicht mehr“, weshalb die konzentrierte Form des „Trusts“ notwendig wird. Jedoch „in den Trusts schlägt die freie Konkurrenz um ins Monopol, kapituliert die planlose Produktion der Gesellschaft vor der planmäßigen Produktion der hereinbrechenden sozialistischen Gesellschaft.“ (Anti-Dühring, S.342, 343)

Aber auch die kapitalistischen Monopole sind keine Lösung der Widersprüche des Kapitalismus. Umgekehrt wird hier „die Ausbeutung so handgreiflich, daß sie zusammenbrechen muß“, sagt Engels und folgert daraus: „Kein Volk würde eine durch Trusts geleitete Produktion, eine so unverhüllte Ausbeutung der Gesamtheit durch eine kleine Bande von Kuponabschneidern, sich gefallen lassen.“ (Anti-Dühring, S.343)

Der nächste Schritt besteht nach Engels darin, daß „schließlich der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, ihre Leitung (der Produktion) übernehmen“ muß. (Post, Telegraphen, Eisenbahnen usw.) „Aber“, so fügt er hinzu, „weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften und Trusts, noch die in Staatseigentum, hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf.“ (Anti-Dühring, S.343-345)

Denn:

„Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitahst, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe zur Lösung.“ (Anti-Dühring, S.345)

„Diese Lösung kann“ – nach Engels – „nur darin liegen, daß die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte tatsächlich anerkannt... wird ... Und dies kann nur dadurch geschehen, daß die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift von den, jeder anderen Leitung außer der ihrigen, entwachsenen Produktivkräften.“ (Anti-Dührung, S.345)

„Das Proletariat ergreift die öffentliche Gewalt, und verwandelt kraft dieser Gewalt die den Händen der Bourgeoisie entgleitenden gesellschaftlichen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum.“ Erst „durch diesen Akt befreit es (das Proletariat) die Produktionsmittel von ihrer bisherigen Kapitalseigenschaft und gibt ihrem gesellschaftlichen Charakter volle Freiheit, sich durchzusetzen.“ (Anti-Dühring, S.353)

„Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat... Sobald es keine Gesellschaftsklassen mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, ... gibt es nichts mehr zu reprimieren (unterdrücken), das eine besondere Repressionsgewalt, einen Staat, notwendig machte.“ (Anti-Dühring, S.347)

„In dem Maß wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet, schläft auch die politische Autorität des Staates ein.“ (Anti-Dühring, S.354)

Aber die Aufhebung der Klassen und des Staates hat ganz bestimmte materielle, wirtschaftliche Bedingungen oder Voraussetzungen. Und es ist heute von höchstem Interesse, diese materiellen Bedingungen sich im einzelnen und im ganzen klarzumachen. Engels erklärt:

„Sie (die Besitzergreifung der Produktionsmittel) wie jeder andre gesellschaftliche Fortschritt wird ausführbar nicht durch die gewonnene Einsicht, daß das Dasein der Klassen der Gerechtigkeit, der Gleichheit etc. widerspricht, nicht durch den bloßen Willen, diese Klassen abzuschaffen, sondern durch gewisse neue ökonomische Bedingungen.“ (Anti-Dühring, S.348)

Um die Bedingungen zu finden, durch die die Teilung der Gesellschaft in Klassen überflüssig gemacht wird, ist es notwendig, zuerst festzustellen, durch welche materiellen Bedingungen die Teilung der Gesellschaft in Klassen entstanden ist und aufrechterhalten wird, oder anders: welchen gesellschaftlichen Bedürfnissen die Klassenteilung bisher gedient hat. Darüber heißt es bei Engels:

„Die Spaltung der Gesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse war die notwendige Folge der frühern geringen Entwicklung der Produktion. Solange die gesellschaftliche Gesamtarbeit nur einen Ertrag liefert, der das zur notwendigen Existenz [11] aller Erforderliche nur um wenig übersteigt, solange also die Arbeit alle oder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsglieder in Anspruch nimmt, solange teilt sich die Gesellschaft notwendig in Klassen.“ (Anti-Dühring, S.348, 349)

Unter diesen Bedingungen ist die Teilung der Gesellschaft in Klassen notwendig. Neben den Arbeitenden ist notwendig eine Klasse von Leitenden: Leiter der Arbeit, der öffentlichen Geschäfte, der Justiz, der Wissenschaft, der Kunst: eine Klasse, die von der physischen Arbeit befreit ist.

„Das Gesetz der Arbeitsteilung ist es also, was der Klassenteilung zugrunde liegt“, sagt Engels und fügt hinzu: „Aber das hindert nicht, daß ... die herrschende Klasse, einmal im Sattel, nie verfehlt hat, ihre Herrschaft auf Kosten der arbeitenden Klasse zu befestigen und die gesellschaftliche Leitung umzuwandeln in gesteigerte Ausbeutung der Massen.“ (Anti-Dühring, S.349)

Die materielle Grundbedingung für das Verschwinden der Klassen kann daher nichts anderes sein, als eine solche Höhe der Ergiebigkeit der Arbeit, die jede herrschende Klasse überflüssig macht:

„Und in der Tat“ – erklärt Engels – „hat die Abschaffung der gesellschaftlichen Klassen zur Voraussetzung einen geschichtlichen Entwicklungsgrad, auf dem das Bestehen nicht bloß dieser oder jener bestimmten herrschenden Klasse, sondern eine herrschende Klasse überhaupt, also des Klassenunterschieds selbst, ein Anachronismus geworden, veraltet ist. Sie hat also zur Voraussetzung einen Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung der Produktionsmittel und Produkte, und damit der politischen Herrschaft, des Monopols der Bildung und der geistigen Leitung durch eine besondre Gesellschaftsklasse nicht nur überflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch und intellektuell ein Hindernis der Entwicklung geworden ist.“ (Anti-Dühring, S.349)

Das Verschwinden der Klassen ist das Entscheidende; denn es ist zugleich die Voraussetzung für das „Absterben des Staates“.

Wie immer ist auch hier Engels konsequent materialistisch.

Die bloße Einsicht in die „Ungerechtigkeit“, in die Uberflüssigkeit der Klassenunterschiede und damit auch der Klassen selbst, genügt nicht. Auch nicht der bloße Wille, etwa, daß die Aufhebung der Klassen und des Staates im Programm einer revolutionären Partei steht, von ihr als Grundsatz oder Ziel proklamiert wird.

Es müssen dafür bestimmte materielle Vorbedingungen erfüllt sein.

Wie aber mißt man die Höhe der Produktivität, die dazu nötig ist? Gibt es dafür einen feststehenden, genauen, zahlenmäßigen Ausdruck? Es ist klar, daß es ihn nicht gibt und ihn nicht geben kann, weil in diese Bestimmung auch historische und kulturelle, lokal und zeitlich verschiedene Faktoren eingehen.

Die „elementaren Bedürfnisse“, das „strikt Notwendige“ sind von Land zu Land, von Zeit zu Zeit verschieden. Ein Element des Traditionellen ist in ihnen eingeschlossen. Sie können daher kein allgemein gültiges Maß haben. Das, was etwa der Durchschnittsamerikaner heute als „strikt notwendig“ betrachtet, ist nicht dasselbe, was er etwa vor 100 Jahren dafür ansah, und auch nicht, was etwa heute ein Durchschnittsfranzose dafür betrachtet.

Aber in jedem Lande ist für einen bestimmten Zeitabschnitt das „strikt Notwendige für die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse“ der Größe und der Qualität nach grob bestimmt.

Eine Grenze läßt sich dagegen hier von der anderen Seite her ungefähr bestimmen:

Die Produktivität der Arbeit, die das Verschwinden der Klassenunterschiede, der Klassen und des Staates möglich macht, ist dadurch bestimmt, daß sie der Allgemeinheit der Gesellschaftsmitglieder die Ausübung all der leitenden und kulturellen Tätigkeiten möglich macht, für die bisher ein Teil der Gesellschaft, eben die herrschenden Klassen, von der physischen Arbeit freigestellt werden mußten. Ob diese Bedingung für ein bestimmtes Land, in einer bestimmten Zeit, erfüllt ist oder nicht, läßt sich ohne Schwierigkeit, sozusagen durch Augenmaß, feststellen.

Aus dem Vorstehenden ergeben sich zwei wichtige Folgerungen, die für unsere weitere Untersuchung leitend sein müssen, und zwar:

Erstens: Das Verschwinden der Klassen, das „Absterben des Staates“ in einem gegebenen Lande, in dem die Arbeiterklasse die Macht übernommen hat, ist nicht abhängig und nicht zu messen am Programm dieser Arbeiterklasse oder ihrer leitenden Partei, oder an dem, was allgemein als sozialistischer Grundsatz oder Ziel erkannt wird, sondern an den materiellen Bedingungen und Voraussetzungen des gegebenen Landes.

Zweitens: Sind diese materiellen Bedingungen oder Voraussetzungen im Zeitpunkt des Übergangs von der kapitalistischen zur sozialistischen Wirtschaft noch nicht gegeben, so können sie auf der sozialistischen Wirtschaftsgrundlage geschaffen werden. Man kann das die Periode der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation, in Analogie zur ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation, nennen.

Wie man aus dem Vorstehenden gesehen hat, ist diese keine russische Erfindung. Sie wird von Marx und Engels in ihren frühesten Formulierungen der 40er Jahre, wie in ihren letzten Formulierungen der 80er Jahre in der Sache ins Auge gefaßt, wenn sie auch den Ausdruck dafür noch nicht geprägt hatten. Es konnte dies auf Grund des tatsächlichen Standes der kapitalistischen Entwicklung in den verschiedenen Ländern zu beiden genannten Zeitpunkten auch gar nicht anders sein.

Während aber die ursprüngliche Akkumulation vor sich geht und ihr Ziel noch nicht erreicht hat, wird das Verschwinden bestimmter herrschender Klassen noch nicht zusammenfallen mit dem Verschwinden „jeder herrschenden Klasse“. Das „Gesetz der gesellschaftlichen Arbeitsteilung“ wird sich in neuen Formen auswirken.

Der Staat unterliegt dem gleichen Gesetz.

Die Periode der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation ist nicht mehr Kapitalismus. Es ist kein Kapital, das akkumuliert wird, sondern es sind von den Produzenten kollektiv produzierte, angeeignete und angewandte Produktionsmittel und Rohstoffe im wachsenden Umfang. Sie ist aber auch noch nicht vollendeter Sozialismus oder „reiner“ Sozialismus.

Was ist sie also positiv?

Sie ist ein Anfang [12] des Sozialismus, ein bestimmter Entwicklungsabschnitt innerhalb des Sozialismus, ein Übergang von einer Entwicklungsstufe des Sozialismus zu einer anderen, höheren.

Sie ist, um den Ausdruck der Deutschen Ideologie zu gebrauchen, kein Zustand, sondern eine Bewegung.

Während dieser Bewegung und der Veränderung der materiellen Grundlagen der sozialistischen Wirtschaft und durch sie, müssen sich alle gesellschaftlichen Formen bewegen, verändern, vor allem die Klassen und der Staat. Solange aber Klassen existieren, existiert auch Klassenkampf. Er nimmt neue Formen an. Die gesellschaftliche Entwicklung bewegt sich noch in Widersprüchen: in neuen Widersprüchen. Wer Bewegung sagt, sagt Widersprüche.

Dabei ist noch folgendes zu beachten.

Die ursprüngliche sozialistische Akkumulation ist ein wesentlich, kontinuierlicher, stetiger Prozeß (wenn man die Störungen durch inneren und auswärtigen Krieg, Naturkatastrophen usw. ausschaltet). Die Auswirkungen dieses Prozesses auf den gesellschaftlichen Überbau vollziehen sich aber in doppelter Form: kontinuierliche Veränderungen in den Elementen des Gesellschaftsbaues fassen sich von Zeit zu Zeit in Sprüngen, in diskontinuierlichen Veränderungen der gesellschaftlichen Großformen zusammen.

Man sieht aus dem Vorstehenden, wie sinnlos es ist, an diese Bewegung den festen Maßstab des vollendeten oder reinen Sozialismus anzulegen. Es hieße das die materialistische wie die dialektische Seite der Marxschen Methode aufgeben.

Auf Grund der so materialistisch und dialektisch bestimmten Maßstäbe können wir nunmehr an die Untersuchung der Sowjetunion von heute gehen.

Anmerkungen

1. Marx-Engels, Gesamtausgabe, 1. Abteilung, Band 5, 1845/46. Moskau-Leningrad 1933.

2. Marx-Engels, Deutsche Ideologie, S.25.

3. Marx-Engels, Deutsche Ideologie, S.398.

4. Alle weiterhin folgenden Zitate aus dem Kapital entstammen derselben Ausgabe.

5. G.W.F. Hegel, Sämtl. Werke, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1927. 2. Band, S.13.

6. Ebenda, S.24.

7. G.W.F. Hegel, Sämtl. Werke, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1929, 8. Band, S.60.

8. Ebenda, S.185.

9. Ebenda, S.195/196.

10. Friedrich Engels, Anti-Dühring, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1946, S.353.

11. Engels verwendete in der französischen Ausgabe den schärfer gefaßten Ausdruck: „ce qui est strictement nécessaire pour maintenir l’existence de tous“. Wir würden heute dafür den Ausdruck „Existenzminimum“ oder „physisches Existenzminimum“ gebrauchen.

12. „... die Sache ist noch nicht in ihrem Anfang, aber es ist nicht bloß ihr Nichts, sondern es ist schon auch ihr Sein darin. Der Anfang ist selbst auch Werden, drückt jedoch schon die Rücksicht auf das weitere Fortgehen aus.“ (G.W.F. Hegel, Sämtl. Werke, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1929, 8. Band, § 88, S.212)

„Der Anfang enthält also das Sein als ein solches, das sich von dem Nichtsein entfernt oder es aufhebt, als ein ihm Entgegengesetzes.“ (G.W.F. Hegel, Werke, Berlin 1841, 3. Band, Wissenschaft der Logik, S.64)


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008