Leo Trotzki

 

Die Notwendigkeit einer Streitschrift über Kronstadt [1]

(19. November 1937)


Übersetzung: Internationale Sozialisten.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Lieber Freund!

Es ist absolut notwendig, eine kurze Streitschrift über Kronstadt zu verfassen. Ich hoffe, daß Dir das anarchistische Material übersandt wurde. Wie dem auch sei, ich werde es noch herausfinden. Hier sind die wesentlichen Punkte, die man festhalten könnte:

  1. Kronstadt war von proletarischen Elementen völlig entblößt. Alle Matrosen, die zu den mashinnye komandy (Schiffsbesatzungen) gehörten waren Kommissare, Kommandanten. Vorsitzende lokaler Sowjets geworden. Als ich Ende 1919 oder 1920, telegrafisch anforderte „eine Gruppe Kronstädter Matrosen zu diesem oder jenem Punkt zu entsenden“, antwortete man mir: „Es ist niemand mehr da, den man verschicken könnte.“ Sogar die verschiedenen Armeen begannen die letzteir Verstärkungen aus Kronstadt (und auch teilweise aus Petersburg) zurückzunehmen. lch weiß nicht ob es viele Dokumente darüber gibt, aber dieser Punkt muß stark hervorgehoben werden.
  2. So weit ich es verstanden habe, sagt Victor Serge: „Aber Kronstadt wollte den Freien Handel, und die Bolschewiki mußten die Neue Ökonomische Politik während des Aufstands selbst einführen, Deshalb war Kronstadt im Recht. Warum wurde es dann niedergeschlagen?“ Dieses Argument ist an zwei und sogar drei Stellen falsch:
    1. Kronstadt repräsentierte die Tendenzen des landbesitzenden Bauern des kleinen Spekulanten, des Kulaken. Wir waren gezwungen einige Zugeständnisse an diese bürgerlichen Tendenzen zu machen Dies bedeutet in keiner Weise daß unser Programm, in dem die Arbeiter Zugeständnisse an kleinbürgerliche Strömungen machten, mit dem kleinbürgerlichen Programm identisch war Es gibt einen breiten Graben zwischen den beiden.
    2. Genau weil es diese wirtschaftlichen Zugeständnisse machte, mußte das Proletariat die politische Macht mit verdoppelter Energie in seinen Händen halten. Das ist der Grund, warum es nicht das mindeste Recht hatte, die Festung den rebellierenden Kleinbürgern zu überlassen.
    3. Die bäuerlichen Matrosen, angeführt von den antiproletarischen Elementen, hätten die Macht nicht ausüben können, sogar wenn wir sie ihnen überlassen hätten. In ihren Händen wäre die Macht nur eine Brücke - und eine kurze damals – zu einem bürgerlichen Regime gewesen.
  3. Victor Serge sagt anscheinend daß, falls die Partei meinem (wirtschaftlichen) Vorschlag ein Jahr früher zugestimmt hätte, der Aufstand von Kronstadt nicht stattgefunden hätte. Gestehen wir das noch zu. Aber wir konnten die Festung den Matrosen nicht überlassen als Strafe für einen Fehler, den die führende Partei gemacht hat.
  4. Dem Aufstand gingen Diskussionen, Verhandlungen usw. voraus. Sie fingen nicht gleich an zu schießen. Aber die Unzufriedenheit war sehr groß. Die anarchistischen und menschewistischen Elemente, die untergetauchten Konterrevolutionäre (und es gab nicht wenig von ihnen) taten ihr Bestes, um die Sache zu einem Aufstand zu führen. Es gelang ihnen. So blieb nichts übrig als bewaffneter Kampf.
  5. Die Arbeiter, die über das Eis gegen die Festung marschierten, vertraten die proletarische Revolution, trotz aller Fehler, die die Partei gemacht hatte. Die revoltierenden Matrosen vertraten den bäuerlichen Thermidor.
  6. Auf dem Parteitag selber diskutierten wir, was wir mit der Festung machen sollten. Stalin schlug vor - aber nicht sehr nachdrücklich – daß die Rebellen ihrem Schicksal überlassen werden sollten; in zwei oder drei Wochen, halbverhungert würden sie sich ergeben. Ich argumentierte gegen diesen Vorschlag. Einige Schlitten waren bereits von Finnland mit Proviant gekommen. Einige Wochen später wäre das Eis geschmolzen und es hätten sehr leicht Schiffe von Europa kommen können. Wir hätten dann eine neue Intervention gehabt, extrem gefährlich wegen der Festung und der Schlachtschiffe. Es wurde beschlossen, die Festung sofort anzugreifen.
  7. Auch Dan übernimmt die Rechtfertigung Kronstadts, genauso wie Kuskova, die alte Schwatztante. Das ist sehr erhellend. Es mag genügen, die Haltung der Menschewiki gegenüber Kronstadt 1917 in Erinnerung zu rufen, als es, angeführt von den arbeitenden Massen, tatsächlich an der Spitze der Revolution stand.

Hier hast Du die Kommentare, die ich aus dem Gedächtnis machen kann. Aber was am wichtigsten ist, ist die Fakten zusammenzustellen, so daß sie für sich selbst sprechen können.

Ich wäre sehr froh, wenn Du mir das Manuskript schicken könntest, oder nur schon die wichtigsten Auszüge, je nachdem wie Deine Arbeit vorankommt. Ich könnte sogar einen kurzen Artikel für unsere Presse daraus machen, und es könnte als Einführung in Deine Streitschrift dienen.

P.S. Ich hoffe, daß Dir Genosse Wassermann alle anarchistischen Dokumente schickt.

 

Anmerkung

1. Dieser Brief wurde an Trotzkis Sohn Leo Sedow geschrieben. Als Sedow nicht in der Lage war, Trotzkis Bitte, über Kronstadt zu schreiben nachzukommen, schrieb John G. Wright, ein Führer der amerikanischen Sozialistischen Arbeiterpartei, die Broschüre Die Wahrheit über Kronstadt.


Zuletzt aktualiziert am 15. Mai 2021