Eduard Bernstein

Die Voraussetzungen des Sozialismus


Zweites Kapitel
Der Marxismus und Hegelsche Dialektik


a) Die Fallstricke der hegelianisch-dialektischen Methode

 

„Während langer, oft übernächtiger Debatten infizirte ich ihn zu seinem großen Schaden mit Hegelianismus.“

Karl Marx über Proudhon

Die marxistische Geschichtsauffassung und die auf ihr beruhende sozialistische Lehre wurden in ihrer ersten Form in den Jahren von 1844 bis 1847 ausgearbeitet, in einer Zeit, wo sich West- und Mitteleuropa in einer großen revolutionären Gährung befanden. Sie köunen als das radikalste Produkt dieser Epoche bezeichnet werden.

In Deutschland war jene Zeit die Epoche des erstarkenden bürgerlichen Liberalismus. Wie in anderen Ländern, trieb auch hier die ideologische Vertretung der gegen das Bestehende ankämpfenden Klasse weit über das praktische Bedürfniß der Klasse hinaus. Das Bürgerthum, worunter die breite Schicht der nichtfeudalen und nicht im Lohnverhältniß stehenden Klassen zu verstehen ist, kämpfte gegen den noch halbfeudalen Staatsabsolutismus, seine philosophische Vertretung begann mit der Negirung des Absoluten, um mit der Negirung des Staates zu enden.

Die philosophische Strömung, die in Max Stirner ihren nach dieser Seite hin radikalsten Vertreter fand, ist als die radikale Linke der Hegelschen Philosophie bekannt. Wie bei Friedrich Engels nachzulesen, der ebenso wie Marx eine gewisse Zeit in ihrem Bannkreis lebte – beide verkehrten in Berlin mit den „Freien“ der Hippelschen Weinstube – verwarfen die Vertreter dieser Richtung das Hegelsche System, gefielen sich aber um so mehr in dessen Dialektik, bis theils der praktische Kampf gegen die positive Religion (damals eine wichtige Form des politischen Kampfes), theils der Einfluß Ludwig Feuerbachs sie zur rückhaltlosen Anerkennung des Materialismus trieben. Marx und Engels blieben indeß bei dem, bei Feuerbach immer noch wesentlich naturwissenschaftlichen Materialismus nicht stehen, sondern entwickelten nun mit Anwendung der ihres mystischen Charakters entkleideten Dialektik und unter dem Einfluß des in Frankreich, und noch weit mächtiger in England spielenden Klassenkampfs zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse ihre Theorie des historischen Materialismus.

Engels hat mit großer Energie die Mitwirkung der dialektischen Methode bei der Entstehung dieser Theorie hervorgehoben. Nach dem Vorbild Hegels unterscheidet er zwischen metaphysischer und dialektischer Betrachtung der Dinge und erklärt die Erstere dahin, daß sie die Dinge oder ihre Gedankenbilder, die Begriffe, in ihrer Vereinzelung als starre, ein für allemal gegebene Gegenstände behandele. Die Letztere dagegen betrachte sie in ihren Zusammenhängen, ihren Veränderungen, ihren Uebergängen, wobei sich ergebe, daß die beiden Pole eines Gegensatzes, wie positiv und negativ, trotz aller Gegensätzlichkeit sich gegenseitig durchdringen. Während aber Hegel die Dialektik als die Selbstentwicklung des Begriffs auffasse, ward bei Marx und ihm die Begriffsdialektik zum bewußten Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen Welt, womit die Hegelsche Dialektik wieder „vom Kopf auf die Füße gestellt wurde“.

So Engels in seiner Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie.

Es ist indeß mit dem „auf die Füße stellen“ der Dialektik keine so einfache Sache. Wie immer sich die Dinge in der Wirklichkeit verhalten, sobald wir den Boden der erfahrungsmäßig feststellbaren Thatsachen verlassen und über sie hinausdenken, gerathen wir in die Welt der abgeleiteten Begriffe, und wenn wir dann den Gesetzen der Dialektik folgen, wie Hegel sie aufgestellt hat, so befinden wir uns, ehe wir es gewahr werden, doch wieder in den Schlingen der „Selbstentwicklung des Begriffs“. Hier liegt die große wissenschaftliche Gefahr der Hegelschen Widerspruchslogik. Ihre Sätze mögen unter Umständen sehr gut zur Veranschaulichung von Beziehungen und Entwicklungen realer Gegenstände dienen. [1] Sie mögen auch für die Formulirung wissenschaftlicher Probleme von großem Nutzen gewesen sein und zu wichtigen Entdeckung Anstoß gegeben haben. Aber sobald auf Grund dieser Satze Entwicklung deduktiv vorweggenommen werden, fängt auch schon die Gefahr willkürlicher Konstruktion an. Diese Gefahr wird um so größer, je zusammengesetzter der Gegenstand ist, um dessen Entwicklung es sich handelt. Bei einem leidlich einfachen Objekt schützen uns meist Erfahrung und logisches Urtheilsvermögen davor, durch Analogiesätze wie „Negation der Negation“ uns zu Folgerungen hinsichtlich seiner Veränderungsmöglichkeiten verleiten zu lassen, die außerhalb des Bereichs der Wahrscheinlichkeit liegen. Je zusammengesetzter aber ein Gegenstand ist, je größer die Zahl seiner Elemente, je verschiedenartiger ihre Natur und je mannigfaltiger ihre Kraftbeziehungen, um so weniger können uns solche Sätze über seine Entwicklungen sagen, denn um so mehr geht, wo auf Grund ihrer geschlossen wird, alles Maß der Schätzung verloren.

Damit soll der Hegelschen Dialektik nicht jedes Verdienst abgesprochen werden. Vielmehr dürfte, was ihren Einfluß auf die Geschichtschreibung anbetrifft, Fr.A. Lange sie am treffendsten beurtheilt haben, als er in seiner Arbeiterfrage von ihr schrieb, man könne die Hegelsche Geschichtsphilosophie mit ihrem Grundgedanken, der Entwicklung in Gegensätzen und deren Ausgleichung „fast eine anthropologische Entdeckung nennen“. Aber Lange hat auch gleich den Finger in die Wunde „fast“ gelegt, wenn er hinzufügte, daß „wie im Leben des Einzelnen, so auch in der Geschichte die Entwicklung durch den Gegensatz sich weder so leicht und radikal, noch so präzis und symmetrisch macht wie in der spekulativen Konstruktion“. (8. Aufl., S. 248/49) Für die Vergangenheit wird dies jeder Marxist heute zugeben, nur für die Zukunft, und zwar schon eine sehr nahe Zukunft sollte dies nach der marxistischen Lehre anders sein. Das Kommunistische Manifest erklärte 1847, daß die bürgerliche Revolution, an deren Vorabend Deutschland stehe, bei der erreichten Entwicklung des Proletariats und den vorgeschrittenen Bedingungen der europäischen Zivilisation „nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann.“

Diese geschichtliche Selbsttäuschung, wie sie der erste beste politische Schwärmer kaum überbieten konnte, würde bei einem Marx, der schon damals ernsthaft Oekonomie getrieben hatte, unbegreiflich sein, wenn man in ihr nicht das Produkt eines Restes Hegelscher Widerspruchsdialektik zu erblicken hätte, das Marx – ebenso wie Engels – sein Lebtag nicht völlig losgeworden ist, das aber damals, in einer Zeit allgemeiner Gährung, ihm um so verhängnißvoller werden sollte. Wir haben da nicht bloße Ueberschätzung der Aussicht einer politischen Aktion, wie sie temperamentvoll Führern unterlaufen kann und ihnen unter Umständen schon zu überraschenden Erfolgen verholfen hat, sondern eine rein spekulative Vorwegnahme der Reife einer ökonomischen und sozialen Entwicklung, die noch kaum die ersten Sprossen gezeitigt hatte. Was Generationen zu seiner Erfüllung brauchen sollte, das ward im Lichte der Philosophie der Entwicklung von und in Gegensätzen schon als das unmittelbare Resultat einer politischen Umwälzung betrachtet, die erst der bürgerlichen Klasse freien Raum zu ihrer Entfaltung zu schaffen hatte. Und wenn Marx und Engels schon zwei Jahre nach Abfassung des Manifests sich genöthigt sahen – bei der Spaltung des Kommunistenbundes – ihren Gegnern im Bunde „die unentwickelte Gestalt des deutschen Proletariats“ vorzuhalten und dagegen zu protestiren, daß man „das Wort Proletariat zu einem heiligen Wesen mache“ (Kölner Kommunistenprozeß, S. 21), so war das zunächst nur das Resultat einer momentanen Ernüchterung. In anderen Formen sollte sich derselbe Widerspruch zwischen wirklicher und konstruirter Entwicklungsreife noch verschiedene Male wiederholen.

Da es sich hier „einen Punkt handelt, der meines Dafürhaltens der Marx-Engelsschen Lehre am verhängnißvollsten geworden ist, sei die Vorführung eines Beispiels erlaubt, das in die jüngste Vergangenheit fällt.

In einer Polemik mit einem süddeutschen sozialdemokratischen Blatte hat Franz Mehring kürzlich in der Leipziger Volkszeitung eine Stelle aus dem Vorwort der zweiten Auflage von Fr. Engels’ Schrift Zur Wohnungsfrage neu abgedruckt, wo Engels vom „Bestehen eines gewissen kleinbürgerlichen Sozialismus“ in der deutschen Sozialdemokratie spricht, der „bis in die Reichstagsfraktion hinein“ seine Vertretung finde. Engels charakterisirt dort den kleinbürgerlichen Charakter dieser Richtung dahin, daß sie zwar die Grundanschauungen des modernen Sozialismus als berechtigt anerkenne, ihre Verwirklichung aber in eine entfernte Zeit verlege, womit man „für die Gegenwart auf bloßes soziales Flickwerk angewiesen“ sei. Engels erklärte diese Richtung in Deutschland begreiflich genug, aber bei dem „wunderbar gesunden Sinn“ der deutschen Arbeiter für ungefährlich. Mehring bringt diese Ausführungen mit dem Streite über die Dampfersubventionsfrage in Verbindung, der kurz vor ihrer Abfassung in der deutschen Sozialdemokratie gespielt hatte, und den er als „die erste größere Auseinandersetzung über ‚praktische Politik‘ und proletarisch-revolutionäre Taktik in der Partei“ hinstellt. Was Engels an der betreffenden Stelle sage, sei dasjenige, was die Vertreter der proletarisch-revolutionären Richtung, zu der er sich rechnet, „meinen und wollen“: Auseinandersetzung mit den so qualifizirten „kleinbürgerlichen Sozialisten“.

Es läßt sich nicht leugnen, daß Mehring die betreffende Stelle bei Engels richtig interpretirt. So sah Engels damals – Januar 1887 – die Sachlage an. Und fünfzehn Monate vorher hatte er der Neuauflage der Enthüllungen über den Kommunistenprozeß die beiden, von ihm und Marx verfaßten Rundschreiben aus dem März und Juni 1850 beigegeben, die als die Politik des revolutionären Proletariats „die Revolution in Permanenz“ proklamiren, und im Vorwort bemerkt, manches von dem dort Gesagten passe auch für die bald fällige „europäische Erschütterung“ . Als die letzte frühere derartige Erschütterung wird der Krieg von 1870/71 hingestellt, die Verfallzeit der europäischen Revolutionen aber währe in unserem Jahrhundert fünfzehn bis achtzehn Jahre.

Das ward 1885/87 geschrieben. Wenige Jahre später kam es in der deutschen Sozialdemokratie zum Konflikt mit den sogenannten „Jungen“'. Schon längere Zeit schleichend, ward er 1890 aus Anlaß der Frage der Feier des 1. Mai durch Arbeitsruhe akut. Daß die Mehrheit der „Jungen“ ehrlich glaubten, im Sinne von Engels zu handeln, wenn sie den damaligen „Opportunismus der Reichstagsfraktion bekämpften, wird heute Niemand bestreiten. Wenn sie die Mehrheit der Reichstagsfraktion als „kleinbürgerlich“ angriffen – wer anders war ihre Autorität dafür als Engels? Bestand jene ja doch aus denselben Leuten, die in der Dampfersubventionsfrage die opportunistische Mehrheit gebildet hatten. Als aber die damalige Redaktion der Sächsischen Arbeiterzeitung sich schließlich für ihre Auffassung auf Engels berief, fiel die Antwort, wie Mehring weiß, in einer Weise aus, die ganz anders lautete, wie jene von ihm zitirte Notiz. Engels erklärte die Bewegung der Jungen für eine bloße „Literaten- und Studentenrevolte“, warf ihr „krampfhaft verzerrten Marxismus“ vor und erklärte, was von dieser Seite der Fraktion vorgeworfen werde, laufe ins besten Falle auf Lappalien hinaus; möge die Sächsische Arbeiterzeitung auf eine Ueberwindung der erfolgssüchtigen parlamentarischen Richtung in der Sozialdemokratie durch den gesunden Sinn der deutschen Arbeiter hoffen, so lange sie wolle, er, Engels, hoffe nicht mit, ihm sei von einer solchen Mehrheit in der Partei nichts bekannt.

Daß Engels bei der Abfassung dieser Erklärung durchaus nur seiner Ueberzeugung folgte, weiß Niemand besser als der Schreiber dieser Zeilen. Ihm stellte sich die Bewegung der „Jungen“, die doch mindestens auch eine solche von Arbeitern war, und zwar von Arbeitern, die unter dem Sozialistengesetz zu den thätigsteu Propagandisten der Partei gehört hatten, als eine von radikalisirenden Literaten angezettelte Revolte dar, und die von ihr befürwortete Politik als im Moment für so schädlich, daß ihr gegenüber die „Kleinbürgereien“ der Fraktion thatsächlich zu Lappalien zusammenschrumpften.

Aber so politisch verdienstvoll die, im Sozialdemokrat vom 13. September 1890 veröffentlichte Antwort war, so zweifelhaft ist es, ob Engels sonst auch völlig im Rechte war, wenn er die Jungen in dieser Weise von seinen Rockschößen abschüttelte. Stand die europäische Revolution so nahe vor der Thür, wie er es im Vorwort zu den Enthüllungen hingestellt hatte – nach dem dort Gesagten war die Verfallzeit mittlerweile eingetreten – und war die in dem Rundschreibeu skizzirte Taktik prinzipiell noch giltig, dann waren die Jungen in der Hauptsache Fleisch von seinem Fleisch und Blut von seinem Blut. Wenn aber nicht, dann lag der Fehler weniger bei den Jungen wie bei den, 1885 und 1887 in die Propaganda geworfenen Schriften mit den erwähnten Anhängen und den, zweifacher Auslegung fähigen Zusätzen. Diese Zweideutigkeit aber, die so wenig dem Charakter von Engels entsprach, wurzelte zuletzt in der von Hegel übernommenen Dialektik. Deren „ja, nein und nein, ja“ statt des „ja, ja und nein, nein“, ihr Ineinanderfließen der Gegensätze und Umschlagen von Quantität in Qualität, und was der dialektischen Schönheiten noch mehr sind, stellte sich immer wieder der vollen Rechenschaftsablegung über die Tragweite erkannter Veränderungen hindernd entgegen. Sollte das ursprünglich hegelianisch konstruirte Entwicklungsschema bestehen bleiben, so mußte entweder die Wirklichkeit umgedeutet oder bei der Ausmessung der Bahn zum erstrebte Ziel alle reale Proportion ignorirt werden. Daher der Widerspruch, daß peinliche, dem Bienenfleiß des Genies entsprechende Genauigkeit in der Erforschung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft Hand in Hand geht mit fast unglaublicher Vernachlässigung der handgreiflichsten Thatsachen, daß dieselbe Lehre, die von dem maßgebenden Einfluß der Oekonomie über die Gewalt ausgeht, in einem wahren Wunderglauben an die schöpferische Kraft der Gewalt ausläuft, und daß die theoretische Erhebung des Sozialismus zur Wissenschaft so häufig in eine Unterordnung der Ansprüche jeder Wissenschaftlichkeit unter die Tendenz „umschlägt“.

Wenn nichts anderes, so ist es jedenfalls durchaus unwissenschaftlich, den Standpunkt eines Politikers oder Theoretikers schlechthin nach der Auffassung zu bestimmen, die er von der Schnelligkeit des Ganges der gesellschaftlichen Entwicklung hat. Die Identifizirung des Begriffs „proletarisch“ mit der Vorstellung unvermittelter, unmittelbarer Aufhebung von Gegensätzen läuft auf eine sehr niedrige Auslegung dieses Begriffs hinaus. Das Krasse, Grobe, Banausische wäre danach das „Proletarische“. Wenn der Glaube an die jedesmal in Kürze zu erwartende revolutionäre Katastrophe den proletarischen revolutionären Sozialisten macht, so sind es die Putsch-Revolutionäre, die vor Allem auf diesen Namen Anspruch haben. In einer wissenschaftlichen Lehre sollte doch mindestens irgend ein rationeller Maßstab für die Entfernungslinie da sein, diesseits derer der Phantast und jenseits derer der Kleinbürger zu suchen wäre. Aber davon war keine Rede, die Abschätzung blieb Sache der reinen Willkür. Da nun die Proportionen immer kleiner erscheinen, aus je weiterer Ferne man die Dinge betrachtet, so stellt sich in der Praxis gewöhnlich die merkwürdige Thatsache heraus, daß man die, in dem obigen Sinne „kleinbürgerlichste“ Auffassung bei Leuten findet, die, selbst der Arbeiterklasse angehörig, in intimster Berührung mit der wirklichen proletarischen Bewegung stehen, während der bürgerlichen Klasse angehörige oder in bürgerlichen Verhältnissen lebende Leute, die entweder gar keine Fühlung mit der Arbeiterwelt haben, oder sie nur aus politischen, von vornherein auf einen gewissen Ton gestimmten Versammlungen kennen, von proletarisch-revolutionärer Stimmung überfließen.

Engels hat am Abend seines Lebens, im Vorwort zu den Klassenkämpfen, den Irrthum, den Marx und er in der Abschätzung der Zeitdauer der sozialen und politischen Entwicklung begangen hatten, rückhaltlos eingestanden. Das Verdienst, das er sich durch dieses Schriftstück, das man wohl mit Recht sein politisches Testament nennen darf, um die sozialistische Bewegung erworben hat, ist gar nicht hoch genug zu schätzen. Es steckt in ihm mehr als es ausspricht. Weder war jedoch das Vorwort der Ort dazu, alle Folgerungen zu ziehen, die sich aus dem so freimüthig gemachten Geständniß ergeben, noch konnte man überhaupt von Engels erwarten, daß er die damit nöthige Revision der Theorie selbst vornehmen werde. Hätte er es gethan, so hätte er unbedingt, wenn nicht ausdrücklich, so doch in der Sache, mit der Hegeldialektik abrechnen müssen. Sie ist das Verrätherische in der Marxischen Doktrin, der Fallstrick, der aller folgerichtigen Betrachtung der Ding im Wege liegt. Ueber sie konnte oder mochte Engels nicht hinaus. Er zog die Folgerungen aus der gewonnenen Erkenntniß nur hinsichtlich bestimmter Methoden und Formen des politischen Kampfes. So Bedeutungsvolles er in dieser Hinsicht sagt, so deckt es doch nur einen Theil des Gebiets der nunmehr aufgeworfenen Fragen.

So ist es zum Beispiel klar, daß wir die politischen Kämpfe, über die uns Marx und Engels Monographien hinterlassen haben, heute unter etwas anderem Gesichtswinkel zu betrachten haben, als dies von ihnen geschah. Ihr Urtheil über Parteien und Personen konnte bei den Selbsttäuschungen, denen sie sich über den Gang der Ereignisse hingaben, trotz der sehr realistischen Betrachtungsweise kein völlig zutreffendes sein, und ebenso wenig ihre Politik immer die richtige. Die nachträgliche Korrektur wäre von keiner praktischen Bedeutung, wenn nicht gerade in der sozialistischen Geschichtschreibung, soweit die neuere Zeit in Betracht kommt, die Ueberlieferung eine so große Rolle spielte, und wenn nicht anderseits doch immer wieder auf diese früheren Kämpfe als Beispiel zurückgegriffen würde.

Wichtiger aber als die Korrektur, welche die sozialistische Geschichtschreibung der Neuzeit nach dem Engelsschen Vorwort vorzunehmen hat, ist die Korrektur, welche sich aus ihm für die ganze Auffassung vom Kampfe und den Aufgaben der Sozialdemokratie ergiebt. Und dies führt uns zunächst auf einen bisher wenig erörterten Punkz, nämlich den ursprünglichen inneren Zusammenhang des Marxismus mit dem Blanquismus und die Auflösung dieser Verbindung.
 

b) Marxismus und Blanquismus

 

„Wenn die Nation ihre Hilfsquellen im Voraus erschöpft hat;

„Wenn das Land ohne Produktion und ohne Verkehr ist;

„Wenn die durch die Politik der Klubs und durch das Stillstehen der Nationalwerkstätten demoralisirten Arbeiter sich zu Soldaten anwerben lassen, um nur leben zu können ...

„O dann werdet ihr wissen, was eine Revolution ist, die durch Advokaten hervorgerufen, durch Künstler zu Stande gebracht, durch Romandichter und Poeten geleitet wird.

„Erwacht aus eurem Schlummer, ihr Moutagnards, Feuillants, Cordeliers, Muscadins, Jansonisten und Babouvisten! Ihr seid nicht sechs Wochen von den Ereignissen entfernt, die ich euch verkünde.“

Proudhon, im Représentant du Peuple,
am 29. April 1848

Die Hegelsche Philosophie ist von verschiedenen Schriftstellern als ein Reflex der großen französischen Revolution bezeichnet worden, und in der That kann sie mit ihren gegensätzlichen Evolutionen der Vernunft als das ideologische Gegenstück jener großen Kämpfe bezeichnet werden, in denen nach Hegel „der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellte“. Im Hegelschen System kulminirt freilich die Evolution der politischen Vernunft im preußischen aufgeklärten Polizeistaat der Restaurationszeit. Aber ein Jahr vor Hegels Tode wich in Frankreich die Restauration dem Bourgeoiskönigthum, ein radikaler Drang zog wieder durch Europa, der schließlich zu immer heftigeren Angriffen gegen dieses und die Klasse führte, deren Schildträger er war: die Bourgeoisie. Das Kaiserthum und die Restauration erschienen den radikalen Vertretern des Neuen jetzt nur als Unterbrechungen des aufsteigenden Entwicklungsgangs der großen Revolution, mit dem Bourgeoiskönigthum hatte die Wendung zur alten Entwicklung eingesetzt, die nunmehr, angesichts der veränderten sozialen Bedingungen, nicht mehr das Hinderniß auf ihrem Wege vorfinden sollte, das den Lauf der französischen Revolution unterbrach.

Das radikalste Produkt der großen französischen Revolution war die Bewegung Babeufs und der Gleichen gewesen. Ihre Traditionen wurden in Frankreich von den geheimen revolutionären Gesellschaften aufgenommen, die unter Louis Philipp ins Leben traten und aus denen später die blanquistische Partei hervorging. Ihr Programm war: Sturz der Bourgeoisie durch das Proletariat mittels gewaltsamer Expropriation. In der Februarrevolution von 1848 werden die Klubrevolutionäre noch ebenso oft „Babouvisten“ und „Partei Barbès“ genannt, wie nach dem Manne, der mittlerweile ihr geistiges Haupt geworden war, Auguste Blanqui.

In Deutschland kamen Marx und Engels auf Grund der radikalen Hegelschen Dialektik zu einer, dem Blanquismus durchaus verwandten Lehre. Erben der Bourgeois konnten nur deren radikalstes Gegenstück, die Proletarier sein, dieses ureigene soziale Produkt der Bourgeoisökonomie. Im Anschluß an die, heute mit Unrecht geringschätzig angesehenen sozialkritischen Arbeiten der Sozialisten der Owenschen, Fourierschen und Saint-Simonistischen Schulen begründeten sie es ökonomisch-materialistisch, aber im Materialismus argumentirten sie doch wieder hegelianisch. Das moderne Proletariat, das schon bei den Saint-Simonisten dieselbe Rolle gespielt hatte, wie im vorigen Jahrhundert bei der Schule Rousseaus der Bauer, ward von ihnen in der Theorie völlig idealisirt, vor Allem nach seinen geschichtlichen Möglichkeiten, zugleich aber auch nach seinen Anlagen und Neigungen. Auf diese Weise gelangten sie trotz der tieferen philosophischen Schulung zur gleichen politischen Auffassung wie die babouvistischen Geheimbündler. Die partielle Revolution ist Utopie, nur die proletarische Revolution ist noch möglich, deduzirt Marx in den Deutschfranzösischen Jahrbüchern (vergl. den Aufsatz Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie). Diese Auffassung leitete direkt zum Blanquismus.

Man faßt in Deutschland den Blanquismus nur als die Theorie der Geheimbündelei und des politischen Putsches auf, als die Doktrin von der Einleitung der Revolution durch eine kleine, zielbewußte, nach wohlüberlegtem Plane handelnde Revolutionspartei. Das ist aber eine Betrachtung, die bei einer reinen Aeußerlichkeit Halt macht und höchstens gewisse Epigonen des Blanquismus trifft. Der Blanquismus ist mehr wie die Theorie einer Methode, seine Methode ist vielmehr blos der Ausfluß, das Produkt seiner tiefer liegenden politischen Theorie. Diese nun ist ganz einfach die Theorie von der unermeßlichen schöpferischen Kraft der revolutionären politischen Gewalt und ihrer Aeußerung, der revolutionären Expropriation. Die Methode ist theilweise Sache der Umstände. Wo Vereine und Presse nicht frei sind, ist die Geheimbündelei von selbst angezeigt, und wo ein politisches Zentrum in revolutionären Erhebungen faktisch das Land beherrscht, wie bis 1848 in Frankreich, da war auch der Putsch, sofern nur bestimmte Erfahrungen dabei berücksichtigt wurden, nicht so irrationell, wie er dem Deutschen erscheint. [2] Die Verwerfung des Putsches ist daher noch keine Emanzipation vom Blanquismus. Nichts zeigt dies klarer, als das Studium der von Marx und Engels herrührenden Schriften aus der Zeit des Kommmunistenbundes. Mit Ausnahme der Verwerfung des Putsches athmen sie schließlich immer wieder blanquistischen, bezw. babouvistischen Geist. Im Kommunistischen Manifest bleiben bezeichnenderweise von aller sozialistischen Literatur die Schriften Babeufs unkritisirt; es heißt von ihnen nur, daß sie in der großen Revolution „die Forderungen des Proletariats aussprachen“, eine jedenfalls zeitwidrige Charakteristik. Das revolutionäre Aktionsprogram des Manifests ist durch und durch blanquistisch. In den Klassenkämpfen, im 18. Brumaire und ganz besonders in den Rundschreiben des Kommunistenbundes werden die Blanquisten als die proletarische Partei hingestellt – „die eigentliche proletarische Partei“ heißt es im Rundschreiben vom Juni 1850 –, was lediglich in dem Revolutionarismus, keineswegs aber in der sozialen Zusammensetzung dieser Partei begründet war. Die proletarische Partei Frankreichs waren 1848 die um das Luxemburg gruppirten Arbeiter. Die gleiche Rücksicht entscheidet für die Parteistellung zu den streitenden Fraktionen im Lager der Chartisten. [3] In der Darstellung des Ganges der Ereignisse in Frankreich mischt sich in den Klassenkämpfen und Brumaire in die meisterhafte Analyse der wirklich treibenden Kräfte die schon stark ausgebildete Legende der Blanquisten ein. Aber nirgends kommt der blanquistische Geist so scharf und uneingeschränkt zum Ausdruck, wie in dem Rundschreiben des Kommunistenbundes vom März 1850 mit seinen genauen Anweisungen, wie bei denn bevorstehenden Neuausbruch der Revolution die Kommunisten alles aufzubieten haben, die Revolution „permanent“ zu machen. Alle theoretische Einsicht in die Natur der modernen Oekonomie, alle Kenntniß des gegebenen Standes der ökonomischen Entwicklung Deutschlands, der doch noch tief hinter dem des damaligen Frankreich zurück war, von dem Marx um dieselbe Zeit schrieb, daß in ihm „der Kampf des industriellen Arbeiters gegen den industriellen Bourgeois erst ein partielles Faktum sei“, alles ökonomische Verständniß verfliegt in nichts vor einem Programm, wie es der erste beste Klubrevolutionär nicht illusorischer aufstellen konnte. Was Marx sechs Monate später den Willich-Schapper vorwarf, proklamirten er und Engels da selbst; statt der wirklichen Verhältnisse machen sie „den bloßen Willen zur Triebkaft der Revolution“. Die Bedürfnisse des modernen Wirthschaftslebens werden vollständig ignorirt und das Stärkeverhältniß und der Entwicklungsstand der Klassen gänzlich außer Augen gelassen. Der proletarische Terrorismus aber, der nach Lage der Dinge in Deutschland als solcher nur zerstörerisch auftreten konnte und daher vom ersten Tage an, wo er in der angegebenen Weise gegen die bürgerliche Demokratie ins Werk gesetzt wurde, politisch und wirthschaftlich reaktionär wirken mußte, wird zur Wunderkraft erhoben, welche die Produktionsverhältnisse auf die Höhe der Entwicklung treiben sollte, die als die Vorbedingung der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft erkannt war.

Es wäre unbillig, bei der Kritik des Rundschreibens zu übersehen, daß es ihn Exil verfaßt wurde, zu einer Zeit, wo die durch den Sieg der Reaktion doppelt erregten Leidenschaften in den höchsten Wogen gingen. Indeß diese so natürliche Erregung erklärt wohl gewisse Uebertreibungen hinsichtlich der Nähe des revolutionären Rückschlags – Erwartungen, von denen Marx und Engels indeß sehr bald zurückkamen –, sowie gewisse Ausschreitungen in der Darstellung, aber jener schreiende Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Programm wird durch sie nicht erklärt. Er war nicht das Produkt einer Augenblicksstimmung – ihn damit entschuldigen wollen, hieße den Verfassern des Rundschreibens geschichtlich Unrecht anthun –, er war das Produkt eines intellektuellen Fehlers, eines Dualismus in ihrer Theorie.

Man kann in der modernen sozialistischen Bewegung zwei große Strömungen unterscheiden, die zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Gewand und oft gegensätzlich zu einander auftreten. Die eine knüpft an die von sozialistischen Denkern ausgearbeiteten Reformvorschläge an und ist im Wesentlichen auf das Aufbauen gerichtet, die andere schöpft ihre Inspiration aus den revolutionären Volkserhebungen und zielt im Wesentlichen auf das Niederreißen ab. Je nach den Möglichkeiten, wie sie in den Zeitverhältnissen begründet liegen, erscheint die eine als utopistisch, sektirerisch, friedlich-evolutionistisch, die andere als konspiratorisch, demagogisch, terroristisch. Je mehr wir uns der Gegenwart nähern, um so entschiedener lautet die Parole hier: Emanzipation durch wirthschaftliche Organisation, und dort Emanzipation durch politische Expropriation. In früheren Jahrhunderten war die erstere Richtung meist nur durch vereinzelte Denker, die letztere durch unregelmäßige Volksbewegungen vertreten. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts standen schon auf beiden Seiten dauernd wirkende Gruppen: hier die sozialistischen Sekten, sowie allerhand Arbeitergenossenschaften, und dort revolutionäre Verbindungen aller Art. An Versuchen der Vereinigung hat es nicht gefehlt, auch siud die Gegensätze nicht immer absolut. So trifft der Satz des Komministischen Manifests, daß die Fourieristen Frankreichs gegen die dortigen Reformisten, die Owenisten Englands gegen die Chartisten reagiren, vollständig nur für die Extreme hüben und drüben zu. Die Masse der Oweniten waren durchaus für die politische Reform – man denke nur Männer wie Lloyd Jones – sie opponirten aber dem Gewaltkultus, wie ihn die radikaleren Chartisten – die „physical force men“ – trieben, und zogen sich zurück, wo diese die Oberhand behielten. Aehnlich bei den Anhängern Fouriers in Frankreich.

Die Marxsche Theorie suchte den Kern beider Strömungen zusammenzufassen. Von den Revolutionären übernahm sie die Auffassung des Emanzipationskampfes der Arbeiter als eines politischen Klassenkampfes, von den Sozialisten das Eindringen in die ökonomischen und sozialen Vorbedingungen der Arbeiteremanzipation. Aber die Zusammenfassung war noch keine Aufhebung des Gegensatzes, sondern mehr ein Kompromiß, wie ihn Engels in der Lage der arbeitenden Klassen den englischen Sozialisten vorschlägt: Zurücktreten des spezifisch-sozialistischen hinter das politisch-radikale, sozial-revolutionäre Element. Und welche Fortentwicklung die Marxsche Theorie später auch erfahren hat, im letzten Grunde behielt sie stets den Charakter dieses Kompromisses, bezw. des Dualismus. In ihm haben wir die Erklärung dafür zu suchen, daß der Marxismus wiederholt in ganz kurzen Zwischenräumen ein wesentlich verschiedenes Gesicht zeigt. Es handelt sich dabei nicht um solche Verschiedenheiten, wie sie sich für jede kämpfende Partei aus den mit den wechselnden Verhältnissen selbst wechselnden Anforderungen der Taktik ergeben, sondern um Verschiedenheiten, die ohne zwingende äußere Nothwendigkeit spontan auftreten, lediglich als Produkt innerer Widersprüche.

Der Marxismus hat den Blanquismus erst nach einer Seite hin – hinsichtlich der Methode – überwunden. Was aber die andere, die Ueberschätzung der schöpferischen Kraft der revolutionären Gewalt für die sozialistische Umgestaltung der modernen Gesellschaft anbetrifft, ist er nie völlig von der blauquistischem Auffassung losgekommen. Was er an ihr korrigirt hat, so z.B. die Idee straffer Zentralisation der Revolutionsgewalt, geht immer noch mehr auf die Form als auf das Wesen.

In dem Artikel, aus dem wir einige Sätze diesem Kapitel als Motto vorausgeschickt haben, und wo er in seiner Weise fast auf den Tag die Junischlacht voraussagt, hält Proudhon den in und von den Klubs bearbeiteten Pariser Arbeitern vor, daß, da die ökonomische Revolution des 19. Jahrhunderts grundverschieden sei von der des 18. Jahrhunderts, die Ueberlieferungen von 1793, die ihnen in den Klubs fortgesetzt gepredigt wurden, ganz und gar nicht auf die Zeitverhältnisse paßten. Der Schrecken von 1793, führt er aus, bedrohte in keiner Weise die Existenzbedingungen der übergroßen Masse der Bevölkerung. Im Iahre 1848 aber würde das Schreckensregiment zwei große Klassen im Zusammenstoß miteinander sehen, die beide für ihre Existenz auf den Umlauf der Produkte und die Gegenseitigkeit der Beziehungen angewiesen seien, ihr Zusammenstoß würde den Ruin Aller bedeuten.

Das war proudhonistisch übertrieben ausgedruckt, traf aber bei der gegebenen ökonomischen Verfassung Frankreichs in der Sache den Nagel auf den Kopf.

Die Produktion und ihr Austausch waren im Frankreich von 1789/94 zu mehr als neun Zehnteln auf lokale Märkte beschränkt, der innere nationale Markt spielte, bei der geringen Differenzirung der Wirthschaft auf dem Lande, eine sehr untergeordnete Rolle. So arg daher der Schrecken hauste, so ruinirte er, was die industriellen Klassen anbetraf, wohl Individuen und zeitweilig gewisse lokale Gewerbe, aber das nationale Wirthschaftsleben ward durch ihn nur sehr indirekt betroffen. Keine Sektion der in Produktion und Handel thätigen Klassen war als solche durch ihn bedroht, und so konnte das Land ihn eine ziemliche Weile aushalten und wurden die Wunden, die er ihm geschlagen, schnell geheilt. Im Jahre 1848 dagegen hieß schon die Unsicherheit, in welche die Zusammensetzung der provisorischen Regierung und das Aufschießen und Gebahren der allmächtig scheinenden Klubs die Geschäftswelt versetzte, zunehmende Stillsetzung von Produktionsbetrieben und Lähmung von Handel und Verkehr. Jede Steigerung und jeder Tag Verlängerung dieses Zustandes hieß immer neuer Ruin, immer neue Arbeitslosigkeit, bedrohte die ganze erwerbsthätige Bevölkerung der Städte und zum Theil auch schon des flachen Landes mit enormen Verlusten. Von einer sozialpolitischen Expropriation der groß- und kleinkapitalistischen Produktionsleiter konnte keine Rede sein, weder war die Industrie entwickelt genug dazu, noch waren die Organe vorhanden, die ihre Stelle übernehmen konnten. Man hätte immer nur das eine Individuum durch irgend ein anderes oder eine Gruppe von Individuen ersetzen müssen, womit an der sozialen Verfassung des Laudes nichts geändert, an der Wirthschaftslage nichts gebessert worden wäre. An die Stelle erfahrener Geschäftsleiter wären Neulinge getreten mit allen Schwächen des Dilettantismus. Kurz, eine Politik nach dem Muster des Schreckens von 1793 war das Sinnloseste und Zweckwidrigste, was man sich nur denken konnte, und weil sie sinnlos war, war das Anlegen der Kostüme von 1793, das Wiederholen und Ueberbieten der Sprache von 1793 mehr wie albern, es war, gerade weil man in einer politischen Revolution war, ein Verbrechen, für das bald genug Tausende von Arbeitern mit ihrem Leben, andere Tausende mit ihrer Freiheit büßen sollten. Mit all ihren grotesken Uebertreibungen zeugte daher die Warnung des „Kleinbürgers“ Proudhon von einer Einsicht und einem moralischen Muthe inmitten der Saturnalien der revolutionären Phrase, die ihn politisch hoch über die Literaten, Künstler und sonstigen bürgerlichen Zigeuner stellte, die sich in das „proletarisch-revolutionäre“ Gewand hüllten und nach neuen Prairials lechzten. Marx und Proudhon schildern fast gleichzeitig – der Erstere in den Klassenkämpfen, der Letztere in den Bekenntnissen eines Revolutionärs – den Verlauf der Februarrevolution als einen Geschichtsvorgang, bei dem jeder bedeutendere Abschnitt eine Niederlage der Revolution darstellt. Aber anders wie Proudhon sah Marx gerade in der Erzeugung der Kontrerevolution den revolutionären Fortschritt; erst durch Bekämpfung dieser reife, schrieb er, die Umsturzpartei zur wirklich revolutionären Partei heran. Daß er sich dabei in der Zeitabschätzung getäuscht hatte – denn es handelt sich hier um revolutionär impolitischen Sinne –, sah Marx bald genug ein, aber den prinzipiellen Irrthum, der dieser Voraussetzung zu Grunde lag, scheint er nie vollständig erkannt zu haben, und ebenso wenig hat ihn Engels im Vorwort zu den Klassenkämpfen aufgedeckt.

Engels und Marx gingen immer wieder von der Voraussetzung einer Revolution aus, die, bei aller Veränderung des Inhalts, äußerlich einen ähnlichen Verlauf nehmen würde, wie die Revolutionen des 17. und 18. Jahrlhunderts. Das heißt, es sollte zunächst eine vorgeschrittene, bürgerlich-radikale Partei aus Ruder kommen, mit der revolutionären Arbeiterschaft als kritisirender und drängender Kraft hinter sich. Nachdem jene abgewirthschaftet, gegebenenfalls eine noch radikalere bürgerliche bezw. kleinbürgerliche Partei, bis der sozialistischen Revolution die Bahn völlig geebnet worden und der Moment für die Ergreifung der Herrschaft durch die revolutionäre Partei des Proletariats gekommen sei. Wie dieser Gedanke, dem Rundschreiben vom März 1850 zum Ausdruck gebracht ist, so kehrt er auch 1887 im Vorwort zu den Enthüllungen über den Kommunistenprozeß sehr deutlich wieder, wenn es dort heißt, daß in Deutschland bei der nächsten europäischen Erschütterung „die kleinbürgerliche Demokratie unbedingt zunächst ans Ruder kommen muß“. Das „unbedingt“ war hier nicht sowohl das Ergebniß einer objektiven Schätzung, es war noch mehr die Kennzeichnung des für die erfolgreiche Herrschaft der Sozialdemokratie nothwendig erachteten Entwicklungsgangs. Mündliche und briefliche Aeußerungen von Engels lassen darüber nicht den geringsten Zweifel. Zudem ist der Gedankengang, einmal die Voraussetzungen gegeben, durchaus rationell.

Indeß gerade mit den Voraussetzungen steht es bedenklich. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß eine politische Revolution, die zunächst eine bürgerlich-radikale Partei zur Herrschaft brächte, in den vorgeschrittenen Ländern Europas ein Ding der Vergangenheit ist. Die modernen Revolutionen haben die Tendenz, die radikalsten der überhaupt möglichen Regierungskombinationen sofort am Anfang ans Ruder zu bringen. Das war schon 1848 in Frankreich der Fall. Die provisorische Regierung war damals die radikalste der selbst nur vorübergehend möglichen Regierungen Frankreichs. Das sah auch Blanqui ein, und darum trat er am 26. Februar dem Vorhaben seiner Auhänger, die „verrätherische Regierung“ gleich auseinanderzutreiben und durch eine waschecht revolutionäre zu ersetzen, mit aller Schärfe entgegen. Gleicherweise machte er auch am 15. Mai, als das in die Kammer eingedrungene revolutionäre Volk eine aus ihm und anderen Revolutionären und Sozialisten bestehende Regierung ausrief, ungleich den „ritterlichen“ Schwärmer Barbès keinerlei Versuch, sich auf den Stadthaus einzurichten, sondern ging ganz still nach Hause. Sein politischer Scharfblick siegte über seine Revolutionsideologien. Aehnlich wie 1848 ging es 1870 bei der Proklamirung der Republik zu, die Blanquisten erzwangen die Ausrufung der Republik, aber in die Regierung kamen nur bürgerliche Radikale. Als dagegen im März 1871 unter dem Einfluß der blauquistischer Sozialrevolutionäre es in Paris zum Aufstand gegen die von der Nationalversammlung eingesetzte Regierung kam und die Kommune proklamirt wurde, da zeigte sich eine andere Erscheinung: die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Radikalen zogen sich zurück und überließen dem Sozialisten und Revol|ltionärel das Feld und damit auch die politische Verantwortung.

Es spricht alles dafür, daß jede Erhebung in vorgeschrittenen Ländern in der nächsten Zeit diese Form annehmen würde. Die bürgerlichen Klassen sind da überhaupt nicht mehr revolutionär, und die Arbeiterklasse ist schon zu stark, um flach einer von ihr erkämpften siegreichen Erhebung in kritisirender Opposition verharren zu können. Vor Allem in Deutschland wäre bei Fortgang der bisheriger Parteientwicklung am Tage nach einer Revolution eine andere als eine sozialdemokratische Regierung ein Ding der Unmöglichkeit. Eine rein bürgerlich-radikale Regierung hätte keinen Tag Bestand, und eine aus bürgerlichen Demokraten und Sozialisten zusammengesetzte Kompromißregierung würde praktisch nur bedeuten, daß entweder ein paar der Ersteren als Dekoration in eine sozialistische Regierung eingetreten wären oder die Sozialdemokratie vor der bürgerlichen Demokratie die Segel gestrichen hätte. In einer revolutionären Epoche sicher eine ganz unwahrscheinliche Kombination.

Man darf wohl annehmen, daß Ueberlegungen dieser Art mitbestimmend waren, als Friedrich Engels im Vorwort zu den Klassenkämpfen mit einer Entschiedenheit wie nie vorher das allgemeine Wahlrecht und die parlamentarische Thätigkeit als Mittel der Arbeiteremanzipation pries und der Idee der Eroberung der politischen Macht durch revolutionäre Ueberrumpelungen den Abschied gab.

Es war das eine weitere Abstoßung blanquistischer, wenn auch modernisirt blanquistischen Vorstellungen. Aber die Frage wird doch noch ausschließlich mit Bezug auf die Tragweite für die Sozialdemokratie als politische Partei untersucht auf Grund der veränderten militärisch strategischen Bedingungen wird die geringe Aussicht künftiger Aufstände bewußter Minderheiten nachgewiesen, und die Theilnahme der über den Charakter der vorzunehmenden vollständigen Umgestaltung der Gesellschaftsordnung aufgeklärten Massen als unerläßliche Vorbedingung der Ausführung dieser Umgestaltung betont. Das betrifft jedoch nur die äußeren Mittel und den Willen, die Ideologie. Die materielle Grundlage der sozialistischen Revolution bleibt ununtersucht, die alte Formel „Aneignung der Produktions- und Austauschmittel“ erscheint unverändert und keine Silbe zeigt an, daß oder ob sich in den ökonomischen Voraussetzungen der Verwandlung der Produktionsmittel in Staatseigenthum durch einen großen revolutionären Akt irgend etwas geändert habe. Nur das Wie der Gewinnung der politischen Macht wird revidirt, betreffs der ökonomischen Ausnutzungsmöglichkeiten der politischen Macht bleibt es bei der alten, an 1793 und 1796 anknüpfenden Lehre.

Ganz noch im Sinne dieser Auffassung hatte Marx 1850 in den Klassenkämpfen geschrieben: „Der öffentliche Kredit und der Privatkredit sind der ökonomische Thermometet, woran man die Intensität einer Revolution messen kann. In demselben Grade, worin sie fallen, steigt die Glut und die Zeugungskraft der Revolution.“ (a.a.O., S. 31) Ein echt Hegelscher und allen an Hegelsche Kost gewöhnten Köpfen sehr einleuchtender Satz. Es giebt aber jedesmal einen Punkt, wo die Gluth aufhört zu zeugen und nur noch zerstörend und verheerend wirkt. Sobald er überschritten wird, tritt nicht Weiterentwicklung, sondern Rückentwicklung ein, das Gegentheil des ursprünglichen Zweckes. Daran ist noch jedesmal in der Geschichte die blanquistische Taktik gescheitert, auch wenn sie Anfangs siegreich war. Hier, und nicht in der Putschtheorie ist ihr wundester Punkt, und gerade hier ist sie von marxistischer Seite nie kritisirt worden.

Es ist das kein Zufall. Denn hier wäre die Kritik des Blanquismus zur Selbstkritik des Marxismus geworden – zur Selbstkrüik nicht nur einiger Aeußerlichkeiten, sondern sehr wesentlicher Bestaudtheile seines Lehrgebäudes. Vor Allem, wie wir hier wieder sehen, seiner Dialektik. Jedesmal wo wir die Lehre, die von der Oekonomie als Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung ausgeht, vor der Theorie, die den Kultus der Gewalt auf den Gipfel treibt, kapituliren sehe, werden wir auf einen Hegelschen Satz stoßen. Vielleicht nur als Analogie, aber das ist dann um so schlimmer. Die große Täuschung der Hegelschen Dialektik ist, daß sie nie ganz im Unrecht ist. Sie schielt nach Wahrheit wie ein Irrlicht nach Erleuchtung. Sie widerspricht sich nicht, weil ja nach ihr jedes Ding seinen Widerspruch in sich trägt. Ist es ein Widerspruch, die Gewalt dahin zu setzen, wo eben noch die Oekonomie saß? O nein, denn die Gewalt ist ja selbst „eine ökonomische Potenz“.

Kein vernünftiger Mensch wird die relative Richtigkeit dieses letzteren Satzes bestreiten. Aber wenn wir uns die Frage vorlegen, wie und wann die Gewalt als ökonomische Potenz so wirkt, daß das gewollte Resultat herauskommt, dann läßt uns die Hegelsche Dialektik im Stiche, dann müssen wir mit konkreten Thatsachen und genau – „metaphysisch“ – definirten Begriffen rechnen, wollen wir nicht die gröbsten Böcke schießen. Die logischen Purzelbäume des Hegelianismus schillern radikal und geistreich. Wie das Irrlicht, zeigt er uns in unbestimmten Umrissen jenseitige Prospekte. Sobald wir aber ins Vertrauen auf ihn unseren Weg wählen, werden wir regelmäßig im Sumpfe landen. Was Marx und Engels Großes geleistet haben, haben sie nicht vermöge der Hegelschen Dialektik, sondern trotz ihrer geleistet. Wenn sie andererseits an dem gröbsten Fehler des Blanquismus achtlos vorbeigegangen sind, so ist das in erster Linie dem Hegelschen Beisatz in der eigenen Theorie geschuldet.


Fußnoten

1. Obwohl auch da der wirkliche Sachverhalt durch sie oft mehr verdunkelt als erhellt wird. So wird die Thatsache, daß eine Veränderung im Mengenverhältniß der Bestandtheile irgend eines Gegenstands Neffen Eigenschaften ändert, durch den Satz vom „Umschlagen der Quantität in die Qualität“ mindestens sehr schief und äußerlich ausgedrückt.

Beiläufig sei bemerkt, daß ich die Engelsschen Definitionen der Begriffe metaphysische und dialektische Anschauungsweise mit dem Vorbehalt übernehme, daß die qualifizirenden Beiworte „metaphysisch“ und „dialektisch“ in dem ihnen damit beigelegten Sinne nur für diese Gegenüberstellung gelten sollen. Sonst sind metaphysische Betrachtung der Dinge und Betrachtung der Dinge in ihrer Vereinzelung und Erstarrung meines Erachtens zwei ganz verschiedene Sachen.

Schließlich sei hier noch erklärt. daß es mir selbstverständlich nicht einfällt, Hegel selbst hier kritisiren zu wollen, noch die großen Dienste zu bestreite, die dieser bedeutende Denker der Wissenschaft geleistet hat. Ich habe es nur mit seiner Dialektik zu thun, wie sie auf die sozialistische Theorie von Einfluß gewesen ist.

2. Der Blanquismus hat denn auch keineswegs blos Niederlagen auf seinem Konto, sondern neben solchen sehr bedeutende zeitweilige Erfolge. 1848 und 1870 war die Proklamirung der Republik in hohem Grade dem Eingreisen der blanquistischen Sozialrevolutionäre geschuldet. Umgetehrt sind der Juni 1848 und der Mai 1871 in letzter Linie Niederlagen des Blanquismus.

3. Mit einer gewissen Genugthuzng stellt das Rundschreiben unter „England“ fest, daß der Bruch zwischen der revolutionären und der gemäßigten Fraktion der Chartisten durch „Delegirte des (Kommunisten-)Bundes wesentlich beschleunigt worden“ sei. Ob der völlige Niedergang des Chartismus ohne jenen Bruch vermieden worden wäre, ist höchst zweifelhaft. Aber die Genugthuung über den glücklich erzielten Bruch ist echt blanquistisch.


Zuletzt aktualisiert am 10 February 2010