Georg Lukács

 

Lenin

 

II. Das Proletariat als führende Klasse

Die Unhaltbarkeit der russischen Zustände hat sich lange vor der wirklichen Entwicklung des Kapitalismus, lange vor dem Vorhandensein eines industriellen Proletariats gezeigt. Die Auflösung des Agrarfeudalismus und die Zersetzung des bureaukratischen Absolutismus waren schon viel früher nicht nur unbestreitbare Tatsachen der russischen Wirklichkeit geworden sie produzierten auch – in der Unruhe der Bauernschaft und in der Revolutionierung der sogenannten deklassierten Intelligenz – Gesellschaftsschichten, die sich, wenn auch noch so unklar, verworren und bloß elementarisch, doch von Zeit zu Zeit gegen den Zarismus erhoben haben. Es ist klar, daß die Entwicklung des Kapitalismus, mag auch sowohl ihre Tatsache selbst wie ihre Bedeutung sogar den Scharfblickenden verborgen geblieben sein, diese objektive Zerrüttung und ihre revolutionär-ideologischen Folgen stark steigern mußte. In der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts mußte es immer offenkundiger werden, daß Rußland, 1848 noch der sichere Hort der europäischen Reaktion, sich allmählich einer Revolution entgegen entwickelt. Die Frage war bloß: welchen Charakter wird diese Revolution haben? Und im engsten Zusammenhang damit: welche Klasse sollte die führende Rolle in ihr spielen?

Es ist ohne weiteres verständlich, daß die ersten Generationen der Revolutionäre sich diese Fragen noch höchst unklar gestellt haben. Vor allem sahen sie in den sich gegen den Zarismus erhebenden Gruppen etwas Einheitliches: das Volk. Die Gliederung in Intellektuelle und Handarbeiter konnte zwar auch auf dieser Stufe nicht verborgen bleiben, hatte aber kein entscheidendes Gewicht, da das „Volk“ klassenmäßig noch eine sehr wenig deutliche Physiognomie haben konnte und von den Intellektuellen sich nur noch die wirklich ehrlichen Revolutionäre der Bewegung angeschlossen hatten; Revolutionäre, für die es unerschütterlich feststand, im „Volke“ aufzugehen und nur seinen Interessen zu dienen.

Immerhin konnte die Entwicklung Europas auch in diesem Zustand der revolutionären Bewegung den Gang der Ereignisse und dementsprechend auf die Geschichtsperspektive sein, von der aus die Revolutionäre die Ereignisse gewertet haben. Hier mußte nun zwangsläufig die Frage auftauchen: ist die europäische Entwicklung, die Entwicklung des Kapitalismus, ein unentrinnbares Schicksal auch für Rußland? Muß auch Rußland durch die Hölle des Kapitalismus hindurchgehen, um im Sozialismus seine Rettung zu finden? Oder vermag es, infolge der Eigenart seiner Verhältnisse, infolge der noch bestehenden Dorfkommune diese Entwicklungsstufe zu überspringen und vom ursprünglichen Kommunismus direkt den Weg zum entwickelten Kommunismus zu finden?

Die Antwort auf diese Frage war damals keineswegs so selbstverständlich, wie sie uns heute scheint. Hat doch selbst Engels noch im Jahre 1882 sie so beantwortet: wenn eine russische Revolution zugleich eine europäische proletarische Revolution hervorruft, „dann kann das heutige russische Gemeineigentum zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen“.

Es ist hier nicht der Ort, eine Geschichte der theoretischen Kämpfe um diese Frage auch nur zu skizzieren. Wir mußten bloß bei diesem Problem unseren Ausgangspunkt wählen, weil mit ihm für Rußland die Frage nach der führenden Klasse der kommenden Revolution aufgeworfen war. Denn es ist klar, daß die Anerkennung des Dorfkommunismus als Ausgangspunkt und ökonomische Grundlage der Revolution notwendig die Bauern zur führenden Klasse der gesellschaftlichen Umwälzung macht. Und dieser von Europa verschiedenen ökonomischen und sozialen Basis der Revolution entsprechend, müßte die Revolution auch eine andere theoretische Grundlegung suchen, als den historischen Materialismus, der ja nichts weiter ist als der begriffliche Ausdruck für den notwendigen Übergang aus dem Kapitalismus in den Sozialismus, den die Gesellschaft unter Führung der Arbeiterklasse vollzieht. Der Streit um die Tatsache: ob Rußland im Begriffe ist, sich kapitalistisch zu entwickeln, ob der Kapitalismus in Rußland entwicklungsfähig ist; weiter die wissenschaftlich-methodische Kontroverse: ob der historische Materialismus eine allgemein gültige Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung ist; und endlich die Diskussion um die Frage: welche Gesellschaftsklasse der wirkliche Motor der russischen Revolution zu werden berufen ist – drehen sich alle um dieselbe Frage. Sie sind alle ideologische Ausdrucksformen der Entwicklung des russischen Proletariats: Momente der Entfaltung seiner ideologischen (und dementsprechend taktischen, organisatorischen usw.) Selbständigkeit den anderen Gesellschaftsklassen gegenüber.

Dies ist ein langwieriger und schmerzlicher Prozeß, den jede Arbeiterbewegung überstehen muß. Spezial-russisch sind dabei bloß die einzelnen Probleme, an denen die Eigenart der Klassenlage und die Selbständigkeit der Klasseninteressen des Proletariats zur Geltung kommen. (In Deutschland befand sich die Arbeiterklasse in der Periode Lassalle-Bebel-Schweitzer auf dieser Stufe, und die deutsche Einheit war eine der hierbei ausschlaggebenden Fragen.) Jedoch gerade diese speziellen, lokalen Probleme müssen als solche eine richtige Lösung finden, wenn die Selbständigkeit des klassenmäßigen Handelns für das Proletariat errungen werden soll. Die beste theoretische Schulung, wenn sie im Allgemeinen steckenbleibt, nützt hier gar nichts; sie muß in der Lösung gerade dieser Spezialprobleme zum Ausdruck gelangen, um praktisch wirksam zu werden. (So vermochte zum Beispiel der glühende Internationalist Wilhelm Liebknecht, der unmittelbare Schüler von Marx, in solchen Einzelfragen keineswegs öfter und sicherer die richtige Entscheidung zu finden als die rein theoretisch viel verworreneren Lassalleaner.) Spezial-russisch in dieser Sachlage ist aber noch, daß dieser theoretische Kampf um die Selbständigkeit des Proletariats, um die Erkenntnis seiner führenden Rolle in der kommenden Revolution nirgends ein derart klare und eindeutige Lösung gefunden hat, wie gerade in Rußland. So konnten jene Schwankungen und Rückfälle, nicht in den Erfolgen des Klassenkampfes, wo sie unvermeidlich sind, sondern in der theoretischen Klarheit und in der taktisch-organisatorischen Sicherheit der Arbeiterbewegung, die wir in allen entwickelten Ländern ausnahmslos beobachten können, dem russischen Proletariat größtenteils erspart bleiben. Es konnte sich – wenigstens in seiner bewußtesten Schicht – theoretisch und organisatorisch so geradlinig und klar entfalten, wie seine objektive Klassenlage von den ökonomischen Kräften des russischen Kapitalismus entfaltet worden ist.

Lenin ist nicht der erste gewesen, der diesen Kampf aufgenommen hat. Er ist aber der Einzige gewesen, der sämtliche Fragen radikal zu Ende gedacht, der Einzige, der seine theoretische Einsicht radikal in Praxis umgesetzt hat.

Lenin war nur einer der theoretischen Wortführer im Streite gegen den „urwüchsigen“ russischen Sozialismus, gegen die Narodniki. Verständlicherweise. Denn sein theoretischer Kampf hatte den Zweck, die selbständige, die führende Rolle des Proletariats in dem kommenden Schicksal Rußlands nachzuweisen. Da aber Weg und Mittel dieser Diskussion nur darin bestehen konnten, nachzuweisen, daß der von Marx entworfene, typische Entwicklungsgang des Kapitalismus (die ursprüngliche Akkumulation) auch für Rußland gilt; daß in Rußland ein lebensfähiger Kapitalismus entstehen kann und muß, mußte diese Debatte die Wortführer des proletarischen Klassenkampfes mit den Ideologen des entstehenden russischen Kapitalismus – vorübergehend – in ein Lager bringen. Die theoretische Herauslösung des Proletariats aus dem Brei des „Volkes“ brachte eben keineswegs von selbst die Erkenntnis und die Anerkennung seiner Selbständigkeit, seiner führenden Rolle mit sich. Im Gegenteil. Die einfache, undialektisch-mechanische Konsequenz des Nachweises, daß die Entwicklungstendenzen des russischen Wirtschaftslebens in der Richtung auf den Kapitalismus gehen, scheint die restlose Anerkennung dieser Realität, die Förderung ihres Herannahens zu sein. Und zwar nicht bloß für die progressive Bourgeoisie, deren vorübergehend – „marxistische“ Ideologie verständlich wird, wenn man bedenkt, daß der Marxismus die einzige ökonomische Theorie ist, die die Genesis des Kapitalismus mit Notwendigkeit aus der Auflösung der vorkapitalistischen Welt aufzeigt. Dieses Zusammengehen muß vielmehr auch für alle „proletarischen“ Marxisten als notwendig erscheinen, die den Marxismus in mechanischer und nicht in dialektischer Weise auffassen. Die es nicht verstehen – was Marx von Hegel gelernt und von jeder Mythologie und jedem Idealismus befreit in seine Theorie eingearbeitet hat –, daß die Anerkennung einer Tatsache oder Tendenz als wirklich vorhanden noch lange nicht soviel bedeutet, daß sie als die für unser Handeln maßgebende Wirklichkeit anerkannt werden muß. Daß es zwar die heilige Pflicht eines jeden echten Marxisten ist, den Tatsachen unerschrocken und illusionslos ins Auge zu blicken; daß es aber für den echten Marxisten stets etwas gibt, das wirklicher und darum wichtiger ist als die einzelnen Tatsachen oder Tendenzen: die Wirklichkeit des Gesamtprozesses, das Ganze der gesellschaftlichen Entwicklung. Darum schreibt Lenin: „Es ist die Sache der Bourgeoisie, Trusts zu entfalten, Kinder und Frauen in die Fabriken zu jagen, sie dort zu ruinieren und zu schinden und sie zur äußersten Not zu verurteilen. Wir ‚fordern‘ eine solche Entwicklung nicht, wir ‚unterstützen‘ sie nicht, sondern wir kämpfen dagegen. Aber wie kämpfen wir? Wir wissen, daß Trusts und Fabriksarbeit der Frauen ein Fortschritt ist. Wir wollen nicht rückwärts schreiten zum Handwerk, zum Kapitalismus ohne Monopolstellung, zur Heimarbeit der Frauen zurück. Vorwärts durch die Trusts und anderes und über sie hinaus zum Sozialismus!“

Damit ist der Gesichtspunkt für die Leninsche Lösung dieses ganzen Fragenkomplexes gegeben. Und daraus folgt, daß die Anerkennung der Notwendigkeit einer kapitalistischen Entwicklung in Rußland, die Anerkennung des geschichtlichen Fortschritts, der hierin liegt, keineswegs soviel bedeutet, als ob das Proletariat diese Entwicklung nun auch unterstützen sollte. Es muß sie begrüßen, denn erst diese Entwicklung schafft den Boden für die Entstehung des Proletariats als entscheidender Machtfaktor. Es muß sie aber begrüßen, als Bedingung, als Voraussetzung seines eigentlichen, unerbittlichen Kampfes gegen den wirklichen Träger dieser Entwicklung: gegen die Bourgeoisie.

Erst diese dialektische Auffassung der Notwendigkeit geschichtlicher Entwicklungstendenzen schafft den theoretischen Spielraum für das selbständige Auftreten des Proletariats im Klassenkampf. Denn wird die Notwendigkeit der kapitalistischen Entwicklung Rußlands einfach bejaht, wie dies die ideologischen Vorkämpfer der russischen Bourgeoisie und die späteren Menschewiki getan haben, so ergibt sich daraus die Folgerung, daß Rußland vor allem seine kapitalistische Entwicklung vollenden muß. Träger dieser Entwicklung ist die Bourgeoisie. Erst nachdem diese Entwicklung sehr weit fortgeschritten ist, erst nachdem die Bourgeoisie ökonomisch und politisch die Überreste des Feudalismus weggeschafft und an ihre Stelle ein modernes, kapitalistisches, demokratisches usw. Land gestellt hat, kann der selbständige Klassenkampf des Proletariats beginnen. Ein vorzeitiges Hervortreten mit den selbständigen Klassenzielen des Proletariats ist nicht nur unnütz, weil das Proletariat als eigener Machtfaktor in diesem Kampf zwischen Bourgeoisie und Zarismus kaum in Betracht kommt, sondern ist auch für das Proletariat verhängnisvoll. Denn es erschreckt die Bourgeoisie, schwächt ihre Stoßkraft dem Zarismus gegenüber, treibt sie geradezu in die Arme des Zarismus. Das Proletariat kommt also – vorerst – nur als Hilfstruppe der progressiven Bourgeoisie im Kampfe für ein modernes Rußland in Betracht.

Es ist klar – wenn dies in den damaligen Diskussionen auch nicht durchgehends deutlich gemacht wurde – daß dieser ganzen Kontroverse die Frage nach der Aktualität der Revolution zugrunde lag. Daß die Wege für jene Teilnehmer des Streites, die nicht mehr oder weniger bewußte Ideologen der Bourgeoisie waren, sich danach schieden, ob die Revolution als ein aktuelles Problem, als eine Tagesfrage der Arbeiterbewegung angesehen wurde, oder ob sie als fernes „Endziel“ auf die Entscheidungen des Augenblickes keinen bestimmten Einfluß auszuüben geeignet schien. Es ist freilich mehr als fraglich, ob der menschewistische Standpunkt, selbst wenn die Richtigkeit seiner Geschichtsperspektive anerkannt werden könnte, für das Proletariat annehmbar wäre. Ob eine derart treue Gefolgschaft der Bourgeoisie gegenüber nicht das Klassenbewußtsein des Proletariats so stark verdunkeln müßte, daß eine Loslösung von ihr, ein selbständiges Handeln des Proletariats sogar in einem geschichtlichen Augenblick, den auch eine menschewistische Theorie für geeignet hielte, ideologisch unmöglich machen oder wenigstens sehr erschweren müßte. (Man denke an die englische Arbeiterbewegung.) Freilich ist diese Annahme praktisch müßig. Denn die Dialektik der Geschichte, die die Opportunisten aus dem Marxismus zu entfernen versuchen, muß in ihnen selbst – gegen ihren Willen – dennoch wirksam bleiben; sie treibt sie in das Lager der Bourgeoisie, und der Zeitpunkt für das selbständige Auftreten des Proletariats verschiebt sich bei ihnen in die nebelhafte Ferne einer nie wirklich werdenden Zukunft.

Die Geschichte hat Lenin und den wenigen Verkündern der Aktualität der Revolution recht gegeben. Das Bündnis mit der progressiven Bourgeoisie, das sich bereits im Zeitalter der Kämpfe um die deutsche Einheit als Illusion erwiesen hatte, wäre nur tragfähig gewesen, wenn es für das Proletariat klassenmäßig möglich gewesen wäre, der Bourgeoisie bis ins Bündnis mit dem Zarismus zu folgen. Denn aus der Aktualität der proletarischen Revolution folgt, daß die Bourgeoisie aufgehört hat, eine revolutionäre Klasse zu sein. Wohl bedeutet der ökonomische Prozeß, dessen Träger und Nutznießer sie geblieben ist, dem Absolutismus und dem Feudalismus gegenüber einen Fortschritt. Aber dieser progressive Charakter der Bourgeoisie ist wiederum dialektisch geworden. Das heißt, die notwendige Verknüpfung der ökonomischen Existenzbedinungen der Bourgeoisie mit jenen Forderungen der politischen Demokratie, des Rechtsstaates usw., die in der großen französischen Revolution auf den Trümmern des Feudalabsolutismus, wenn auch nur teilweise, verwirklicht wurden, hat sich gelockert. Die immer stärker herannahende proletarische Revolution macht einerseits ein Bündnis zwischen Bourgeoisie und Feudalabsolutismus, auf Grund der Sicherung der ökonomischen Existenz- und Wachstumsbedingungen der Bourgeoisie, bei politischer Vorherrschaft der alten Mächte möglich. Anderseits hinterläßt die auf diese Weise ideologisch verkommende Bourgeoisie die Realisierung ihrer alten revolutionären Forderungen der proletarischen Revolution. Mag auch dieses Bündnis zwischen der Bourgeoisie und den alten Mächten noch so problematisch sein, da es ja ein Kompromiß aus gemeinsamer Furcht vor einem größeren Übel und nicht ein Klassenbündnis auf der Grundlage einer positiven Interessengemeinschaft ist, so bleibt es doch eine wichtige und neue Tatsache. Eine Tatsache, gegen die der schematische und mechanische „Nachweis“ der „notwendigen Verknüpfung“ von kapitalistischer Entwicklung und Demokratie sich unbedingt als Illusion erweisen muß. „Überhaupt ist“ – sagt Lenin – „die politische Demokratie nur eine der möglichen (wenn auch theoretisch für den ‚reinen‘ Kapitalismus normalen) Formen des Überbaues über den Kapitalismus. Wie die Tatsachen beweisen, entwickelt sich sowohl der Kapitalismus als auch der Imperialismus bei jeder politischen Form und unterwirft sich alle Formen“. In Rußland speziell beruht dieses schnelle Umschwenken der Bourgeoisie von einer – scheinbar radikalen Opposition zu einer Unterstützung des Zarismus wesentlich darauf, daß der nicht „organisch“ gewachsene, auf Rußland aufgepfropfte Kapitalismus schon in seinen Anfängen einen stark monopolistischen Charakter zeigt. (Überwiegen der Großbetriebe, Rolle des Finanzkapitals usw.) Daraus folgt, daß die Bourgeoisie eine zahlmäßig kleinere und sozial schwächere Schicht ist als in anderen Ländern, wo eine „organischere“ kapitalistische Entwicklung stattgefunden hat, daß aber zugleich in den Großbetrieben schneller die materielle Grundlage zu der Entwicklung eines revolutionären Proletariats niedergelegt wird, als es die – schematisch zahlenmäßige – Auslegung des Entwicklungstempos des russischen Kapitalismus vermutet hätte.

Wenn aber das Bündnis mit der progressiven Bourgeoisie sich als Illusion erweist, wenn das sich zur Selbständigkeit emporarbeitende Proletariat mit dem chaotischen Begriff des „Volkes“ bereits endgültig gebrochen hat, wird es nicht gerade durch diese schwer erkämpfte Selbständigkeit in eine hoffnungslose Isolation gebracht und deshalb in einen von vornherein aussichtslosen Kampf geführt? Dieser oft gemachte und sehr naheliegende Einwand gegen die Geschichtsperspektive Lenins wäre stichhaltig, wenn die Ablehnung der Agrartheorie der Narodniki, die Erkenntnis von der notwendigen Auflösung der agrar-kommunistischen Überreste nicht ebenfalls eine dialektische Erkenntnis wäre. Die Dialektik dieses Auflösungsprozesses – denn die dialektische Erkenntnis ist stets nur die begriffliche Fassung eines real-dialektischen Tatbestandes – liegt darin, daß die Zwangsläufigkeit der Auflösung dieser Formen nur als Auflösungsprozeß, also nur negativ eine eindeutig bestimmte Richtung hat. Welche Wendung jedoch dieser Prozeß in positivem Sinne nehmen wird, ist aus ihm selbst keineswegs bestimmbar. Dies hängt von der Entwicklung der gesellschaftlichen Umwelt, von dem Schicksal des geschichtlichen Ganzen ab. Konkreter ausgedrückt: der ökonomisch unvermeidliche Auflösungsprozeß der alten Agrarformen – und zwar sowohl der junkerlichen wie der bäuerlichen – kann zwei Wege einschlagen. „Beide Formen der Lösung erleichtern“, nach den Worten Lenins, „jede auf ihre Weise, den Übergang zu einer höheren Stufe der Technik, und beide liegen auf der Bahn des Fortschritts der Agrikultur“. Der eine ist das Wegfegen aller mittelalterlichen (und älteren) Überreste aus dem Leben der Bauern. Der andere – Lenin nennt ihn den preußischen Weg – „ist dahin charakterisiert, daß die mittelalterlichen Landbesitzvermächtnisse nicht mit einemmal liquidiert, sondern allmählich dem Kapitalismus angepaßt werden“. Beide Wege sind möglich. Und beide sind im Vergleich zum Bestehenden – ökonomisch – fortschrittlich. Sind aber beide Tendenzen gleich möglich und – im gewissen Sinne – gleich fortschrittlich: was wird dann darüber entscheiden, welche von beiden wirklich zu werden bestimmt ist? Lenins Antwort ist auf diese Frage, wie auf jede andere, klar und eindeutig: der Klassenkampf.

Damit zeichnen sich aber die Umrisse jenes Milieus, in dem das Proletariat selbständig, als führende Klasse aufzutreten berufen ist, deutlicher und konkreter ab. Denn die entscheidende Kraft in diesem Klassenkampfe, der für Rußland die Richtung des Überganges aus dem Mittelalter in die Neuzeit weist, kann nur das Proletariat sein. Die Bauern sind nicht nur wegen ihrer fürchterlichen kulturellen Rückständigkeit, sondern vor allem wegen ihrer objektiven Klassenlage nur zu einer elementaren Auflehnung gegen ihre immer unhaltbarer werdende Lage fähig. Sie sind – von ihrer objektiven Klassenlage aus – dazu bestimmt, eine schwankende Schicht zu bleiben, eine Klasse, deren Schicksal letzten Endes der Klassenkampf in der Stadt, das Schicksal der Stadt, der Großindustrie, des Staatsapparates usw. entscheidet.

Erst dieser Zusammenhang legt die Entscheidung in die Hände des Proletariats. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie wäre vielleicht – im gegebenen geschichtlichen Augenblick – wenig aussichtsreich, wenn es dieser gelingen würde, den Feudalismus der Agrarverfassung Rußlands in ihrem Sinne zu liquidieren. Daß der Zarismus ihr dies erschwert, ist ein Hauptgrund ihres – vorübergehend – revolutionären oder wenigstens oppositionellen Verhaltens. Solange aber diese Frage ungelöst bleibt, ist ein elementares Losbrechen der geknechteten und ausgesaugten ländlichen Millionen jederzeit möglich. Ein elementares Losbrechen, dem nur das Proletariat eine Richtung geben kann, durch welche Richtung erst diese Massenbewegung zu einem für die Bauernmassen wirklich vorteilhaften Ziel geführt wird. Ein elementares Losbrechen, das erst das Milieu schafft, in dem das Proletariat mit allen Chancen des Sieges den Kampf gegen Zarismus und Bourgeoisie aufnehmen kann.

So hat der ökonomisch-soziale Aufbau Rußlands die objektiven Grundlagen für das Bündnis von Proletariat und Bauernschaft geschaffen. Ihre Klassenziele sind verschieden. Darum mußte ihre chaotische Zusammenschweißung unter dem unklaren volkstümlerischen Begriff „Volk“ auseinanderfallen. Aber sie können diese verschiedenen Klassenziele nur im gemeinsamen Kampfe verwirklichen. So kehrt in der Leninschen Konzeption vom Charakter der russischen Revolution der alte Gedanke der Narodniki dialektisch verwandelt wieder. Der unklare und abstrakte Begriff des „Volkes“ mußte beseitigt werden, jedoch nur, um aus dem konkreten Verständnis der Bedingungen einer proletarischen Revolution den revolutionär differenzierten Begriff des Volkes, das revolutionäre Bündnis aller Unterdrückten entstehen zu lassen. Aus diesem Grunde betrachtet sich die Partei Lenins mit Recht als Erben der wirklich revolutionären Traditionen der Narodniki. Da aber das Bewußtsein und mit ihm die Fähigkeit zur Führung in diesem Kampfe – objektiv klassenmäßig – nur im Klassenbewußtsein des Proletariats vorhanden ist, kann und muß es in der nahenden Revolution die führende Klasse der gesellschaftlichen Umwälzung werden.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003