Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

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Vorwort


Die vorliegende Broschüre soll Material für die Wahlrechtsagitation liefern. Die Lücken und Mängel des Schriftchens erkennt niemand mehr, als der Verfasser. Wenn aber auf Vollständigkeit kein Anspruch gemacht werden kann, die schon durch die Notwendigkeit, den Umfang zu beschränken, ausgeschlossen war, so ist die Richtigkeit der angeführten Tatsachen, insbesondere der Ziffern, dadurch gewährleistet, daß sie sämtlich der amtlichen Statistik entnommen oder aus derselben berechnet sind. Eine genaue Darstellung aber des in Österreich geltenden Wahlunrechtes würde ein umfangreiches Buch erfordern.

Am 16. März 1893 brachte der Abgeordnete Slavik namens der Jungtschechen einen Antrag auf Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts ein, und zwar in einer Form, welche nicht nur das Prinzip, sondern auch die Einzelbestimmungen soweit feststellt, daß die Grundlage für ernste Diskussion gegeben ist. Der Antrag wurde wenig beachtet.

In der zweiten Woche des April erkämpfte das Proletariat Belgiens das allgemeine Wahlrecht.

Am 1. Mai zeigte eine gewaltige Demonstration der österreichischen Arbeiterschaft, daß sie entschlossen ist, für das allgemeine Wahlrecht zu kämpfen. Der Wahlsieg der deutschen Sozialdemokratie am 15. Juni wurde am 18. Juni von Hunderttausenden ihrer Genossen in Österreich in öffentlichen Versammlungen gefeiert. In Prag und Brünn floß Blut; Blut, das freilich nicht für die Erringung des Wahlrechts, sondern zur Verteidigung des Versammlungsrechtes vergossen wurde.

Am 9. Juli standen mehr als 50.000 Männer und Frauen in und vor dem Rathaus zu Wien und verlangten das allgemeine Wahlrecht. An diesem Tage hörten die Tauben den Ruf des Volkes, sahen die Blinden ein, daß die Wahlreform von der Tagesordnung nicht mehr verschwinden werde, bis Österreich statt seiner ständischen Verfassung ein modernes, europäisches Wahlrecht hat, bis wenigstens dieses eine politische Privilegium der Besitzenden verschwunden ist.

Statt jeder weiteren Vorrede wiederholen wir hier die Resolution vom 9. Juli:

Die erste Vorbedingung jeden politischen und wirtschaftlichen Fortschrittes in Österreich ist die Beseitigung der heutigen, auf das Monopol der Besitzenden gegründeten Verfassung. Großgrundbesitz und Großkapital sind nicht nur im alleinigen Besitz des Herrenhauses, sondern sie sind durch ihre Wahlprivilegien auch die eigentlichen Beherrscher des Abgeordnetenhauses. Die gesamte Gesetzgebungsmaschine steht im Dienste einer kleinen Gruppe von Meistbesitzenden, welche das arbeitende Volk nicht nur als einzelne Unternehmer wirtschaftlich ......... [1], sondern es auch als Klasse politisch knechten.

Die Versammlung erkennt das rückständige und ......... [2] Wahlsystem Österreichs als Grundursache der politischen Versumpfung des Reiches und als Wurzel des sinnlosen, maßlosen und fruchtlosen Nationalitätenhaders lind der kläglichen staatsrechtlichen Wirren.

Die heutige Versammlung protestiert gegen jenes Wahlsystem, welches Österreich zu einer traurigen Ausnahmestellung in Europa verurteilt. Sie protestiert gegen die Ausschließung von mehr als zwei Dritteln des Volkes vom Wahlrecht in Stadt und Land und Gemeinde, und verlangt als Grundlage und Vorbedingung einer ernsten Geltendmachung der Volksinteressen die Aufhebung der politischen Vorrechte aller privilegierten Interessengruppen und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für alle Staatsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechtes vom 21. Lebensjahr an.

Die heutige Versammlung protestiert auch aufs entschiedenste gegen jene ......... [3] und verhängnisvollen Einschränkungen des Versammlungsrechtes, die in Brünn und Prag zum Blutvergießen führten, durch welche aber der Kampf um das Volksrecht wohl verbittert, niemals aber verhindert werden kann.

Die große Masse der Besitzlosen hat es satt, sich von einer verschwindenden Minderheit gängeln und übervorteilen zu lassen. Die sozialdemokratische Arbeiterschaft insbesondere verlangt das politische Wahlrecht als Grundlage der Organisation des Proletariats, als das vornehmste Mittel politischer Bildung, als wichtigste

Waffe im Kampfe gegen Ausbeutung, Rechtlosigkeit und Bevormundung.

Die heutige Versammlung erklärt es als Pflicht jedes Rechtdenkenden, mit aller Kraft dahin zu wirken, daß endlich die Verfassung den Grundsatz: „Gleiches Recht für alle“ auch wirklich zur Wahrheit mache,

sie erklärt, nicht ruhen und vor keinem Opfer, das dem Volke auferlegt wird, zurückschrecken zu wollen, bis das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht erkämpft ist.

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Fußnoten

1. In der Arbeiter-Zeitung vom 14. Juli 1893, in der über die Versammlung vom 9. Juli berichtet wird, steht folgende Glosse, aus der man auch erfährt, was in der Resolution fehlt:

Konfisziert hat der Polizeikommissär im Arkadenhof die Verrottung, die Ungesetzlichkeit und die Ausbeutung. (Die Unterstreichung ist von uns.) Wir fürchten, daß diese Konfiskation so wenig helfen wird als alle anderen und daß diese drei Mächte weiter bestehen wie bisher. Amüsant ist, daß, was in deutscher Sprache konfiskabel erschien, in tschechischer Sprache erlaubt wurde. In der Volkshalle wurde über unsere Resolution samt den drei Worten ohne Anstand abgestimmt. Standen denn wirklich so wenige Detektivs zum Verkehr zwischen Rathaus und Polizeipräsidium zu Gebote, daß man nicht wenigstens eine Gleichmäßigkeit des Vorgehens erzielen konnte? Aus Rücksicht auf die Aufrechterhaltung des Verkehrs wurde die Versammlung auf dem Rathausplatz bekanntlich untersagt. Die Möglichkeit des Verkehrs wurde durch unsere Ordner aufrechterhalten, zugleich aber kontrolliert, wie stark dieser Verkehr war. Nun denn, es fuhren über den Rathausplatz in der Zeit von ½9 Uhr vormittags zwei Einspänner, ein Sodawasserwagen, ein Postwagen und ein Radfahrer. Diesen fünf Vehikeln zuliebe wurde das Versammlungsrecht von tausenden Personen eingeschränkt.

Man erfuhr also schon aus der Zeitung, wenn man sich nur etwas anstrengte, daß man in der Resolution nicht sagen durfte, daß die Besitzenden das arbeitende Volk als Unternehmer wirtschaftlich ausbeuten, daß das Wahlsystem nicht nur rückständig, sondern auch verrottet war und daß die Einschränkungen des Versammlungsrechtes, die in Brünn und Prag zu Blutvergießen führten, nicht nur verhängnisvoll, sondern auch ungesetzlich waren. So waren damals die Polizeikommissäre! Und so geistreich war der Staatsanwalt!

Das fehlende Wort hier soll also heißen ausbeuten.

Siehe übrigens später Adlers Rede in der Versammlung am 9. Juli, unter dem Titel: Das erste Wahlrechtsmeeting.

2. verrottete.

3. ungesetzlichen.


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020