Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

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Die „Gefahren“ des allgemeinen Wahlrechts
für die Sozialdemokratie


Fassen wir noch kurz die Einwürfe zusammen, die gegen das allgemeine Wahlrecht gemacht werden. In erster Linie müssen wir uns mit einem Standpunkt abfinden, der von Leuten geltend gemacht wird, die insofern uns nahestehen, als sie, gleich der Sozialdemokratie, Gegner der heutigen Wirtschaftsordnung sind, die Herbeiführung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung wünschen und sich einbilden, in viel mehr revolutionärer Weise dazu beizutragen als wir. Wir schließen hier von vornherein die verschiedenen Gruppen der Anarchisten aus, insofern sie mit ihren Bestrebungen die Anwendung terroristischer Mittel verbinden oder solche gutheißen. Der Terrorismus ist mit Recht aus der Mode gekommen; er beruhte auf einer falschen Schätzung der Machtverhältnisse und einer falschen Beurteilung der geistigen Zustände der Arbeiterklasse in Westeuropa. Aber außer den Anarchisten gibt es bekanntlich Gruppen, die, auf dem Boden der Sozialdemokratie emporgewachsen, sich von ihr losgetrennt haben und sich „Junge“ ... „unabhängige Sozialisten“ [1] und dergleichen nennen. Ihre Bedeutung für die proletarische Bewegung ist eine ziemlich unerhebliche, aber ihre Stimme ist laut und wird verstärkt durch die Resonanz, welche ihr die bürgerlichen Parteien und deren Presse in ihrem wohlverstandenen Interesse an einer Zersplitterung des Proletariats zu geben lieben. Hier müssen wir aber schon wieder unterscheiden. Die „Unabhängigen“ in Deutschland erklären sich gegen den parlamentarischen Kampf, also gegen die Teilnahme an den Wahlen, insbesondere gegen die Teilnahme an den parlamentarischen Verhandlungen. Sie halten das alles für korrumpierend für die Partei, wie es ja wohl nicht leicht ein Wort gibt, mit welchem ein ärgerer Mißbrauch getrieben wird, als mit dem Wort „Korruption“. Alles mögliche, was einem oder dem anderen unangenehm oder ihm nachteilig ist, wird kurzweg als „Korruption“ bezeichnet. Aber immerhin, diese deutschen „Unabhängigen“ haben unseres Wissens stets nur die Ausnützung des Wahlrechtes verworfen, niemals aber das Wahlrecht selbst.

Die eigentümlichen Verhältnisse Österreichs haben aber einer Richtung Raum gegeben, welche doktrinär und sonderbar genug ist, nicht nur die Teilnahme an den parlamentarischen Verhandlungen und die Ausübung des Wahlrechtes, sondern das Wahlrecht selbst als etwas unserer Bewegung Schädliches zu erklären und den Kampf für das Wahlrecht als ein die Sozialdemokratie schwächendes, wie der hier gebrauchte Ausdruck lautet, „verflachendes“ und selbstverständlich „korrumpierendes“ Moment zu bezeichnen. Wenn wir auch die Entstehung dieser Anschauung geschichtlich zu erklären wissen, ebenso wie ihr Verschwinden, so müssen wir doch gestehen, daß von allen unklaren Behauptungen diese wohl die unklarste ist. Es ist schließlich noch begreiflich, wenn einer großen und mächtigen, nach Millionen zählenden Partei als Mittel der Geltendmachung, als Protest gegen die heutigen Zustände die Enthaltung von der Wahl empfohlen wird. Das Mittel ist unserer Ansicht nach schlecht, führt nicht zum Ziel, aber man kann sich immerhin vorstellen, daß es halbwegs vernünftige Leute gibt, die auf einen solchen Plan verfallen. Anders liegt aber die Sache, wenn es sich um die Erlangung des Wahlrechtes handelt. Auch diejenigen, welche Wahlenthaltung predigen, suchen in der Wahlenthaltung nur eine besondere Form der Ausnützung des Wahlrechtes zur Agitation. Um das aber zu können, muß man es vor allem haben. Und es gehört eine äußerste Begriffsverwirrung dazu, das Recht zu wählen an sich als schädlich zu erachten, an sich als verflachend anzusehen. Ein einziger Standpunkt ist es, der etwa noch dafür spricht. In Österreich und in allen Ländern mit Zensus bildet das Wahlrecht eine scharfe und in die Augen springende Scheidung zwischen dem Proletariat und den Besitzenden. Der Gegensatz in der ökonomischen Lage tritt auch für jedes Auge klar in dem Ausmaß der politischen Rechte hervor. Es wurde zwar dieser Standpunkt nie geltend gemacht, aber ein vernünftiger Verfechter jener Theorie könnte sagen, daß nichts den Klassengegensatz dem allgemeinen Bewußtsein schärfer einpräge, als die politische Rechtlosigkeit der unteren Schichten. Auch dieser Einwand aber wäre falsch. Denn das Fehlen des Wahlrechtes ist zugleich die Ursache, daß dieser Gegensatz nie ausdrücklich zum Bewußtsein kommt und noch weniger sich zur Äußerung bringt; es läßt die Massen stumpf und dumpf und vor allem vollständig verständnislos allen politischen Konflikten gegenüberstehen. Wenn wir aber in irgendeinem Punkt einig sein müßten und wenn irgendein Punkt vollständig über jeden Zweifel erhaben ist, so ist es der, daß unsere allererste und wichtigste Aufgabe die Aufrüttelung der Massen überhaupt ist, wobei es zunächst in zweiter Reihe steht, nach welcher Richtung dies geschieht. Wir gehen darin so weit, daß auch jede Äußerung des Klassenbewußtseins bei den Besitzenden, insbesondere aber bei den Kleinbürgern uns erwünscht ist, vor allem darum, weil je offener, ja, je brutaler der Klassenstandpunkt von unseren Gegnern betont wird, um so rascher um so energischer das Klassenbewußtsein des Proletariats erweckt wird und zur Wirkung kommt.

Den guten Leuten und schlechten Musikanten jedoch, welche gar so ängstlich besorgt sind, daß durch das Wahlrecht die Sozialdemokratie zugrunde gerichtet würde, welche meinen, daß das Wählen von Abgeordneten, die parlamentarische Vertretung einer Partei schade, denen möchten wir einen Vorschlag machen: Sie mögen ihre Theorie, die so grau ist wie keine, nicht uns predigen, wo sie praktisch gar kein Feld haben – denn wir haben ja das Wahlrecht nicht –, sondern sie mögen gefälligst zu den Großgrundbesitzern. zu den Liberalen, zu den Klerikalen gehen und diese aufmerksam machen, wie sie durch ihr Wahlrecht sich schädigen, und sie werden dort gewiß – ausgelacht werden. Das Wahlrecht wird der Arbeiterklasse in Österreich gerade darum hartnäckig vorenthalten, und es wird der allergrößten Energie und einer ganzen Summe von begünstigenden Umständen bedürfen, um es zu erlangen, weil die bürgerlichen Parteien sehr genau wissen, welche schneidige und ausgezeichnete Waffe dieses Wahlrecht in den Händen der Arbeiterklasse wäre. Sehen wir doch hinaus nach Deutschland, wo Bismarck durch gewisse politische Motive gezwungen war, das Wahlrecht zu oktroyieren. Nach zweiundzwanzigjährigem Bestand des allgemeinen Wahlrechtes zittern sämtliche bürgerlichen Parteien vor der Sozialdemokratie und alle zerbrechen sich die Köpfe, wie es zu machen wäre, der Sozialdemokratie diese Waffe aus der Hand zu nehmen, das Wahlrecht einzuschränken. Freilich wagen sie das nicht, weil es seine Schwierigkeiten hat, einem mit scharfem Schwert ausgerüsteten Gegner dieses Schwert wegzunehmen, wenn man auch noch so sehr einsieht, daß gerade dieses ihn gefährlich macht.

Übrigens halten wir es für ausgeschlossen, daß in der österreichischen Arbeiterschaft noch einmal sich ein Streit um das Wahlrecht erhebt, wie es einst der Fall war. Die Überschätzung des allgemeinen Wahlrechtes liegt nahe, wie man das Gut immer überschätzt, welches man entbehrt. Aber gerade auch die Erfahrung an Deutschland hat uns gelehrt, das Wahlrecht weder zu unterschätzen noch zu überschätzen. Und weil wir wissen, daß wir an dem Wahlrecht nichts anderes haben als das beste Mittel der Agitation, das beste Mittel, unsere Ansichten zu verbreiten, das beste Mittel zur Organisation, das beste Mittel, die Genossen aneinanderzufügen, aus einer dumpfen Masse eine kampfbereite und kampffähige Armee zu machen, werden wir es mit aller Macht zu erlangen trachten. Aber niemals werden wir uns einbilden, mit dem Stimmzettel in der Hand den Kapitalismus aus der Welt hinauswählen zu können, niemals werden wir uns einbilden, daß eine parlamentarische Majorität an und für sich eine Macht sei, der sich die Besitzenden fügen werden. Der Parlamentarismus ist eine Form der Klassenherrschaft und wird mißbraucht zur Täuschung des arbeitenden Volkes. Wir machen aus dem Parlamentarismus ein Mittel zur Befreiung und gebrauchen es zur Aufklärung des Proletariats. In klassischer Weise hat Engels das ausgedrückt: „Und endlich herrscht die besitzende Klasse direkt mittels des allgemeinen Stimmrechtes. Solange die unterdrückte Klasse, also in unserem Falle das Proletariat, noch nicht reif ist zu seiner Selbstbefreiung, solange wird sie, der Mehrzahl nach, die bestehende Gesellschaftsordnung als die einzig mögliche erkennen und politisch der Schwanz der Kapitalistenklasse, ihr äußerster linker Flügel sein. In dem Maße aber, worin sie ihrer Selbstemanzipation entgegenreift, in dem Maße konstituiert sie sich als eigene Partei, wählt ihre eigenen Vertreter, nicht die der Kapitalisten. Das allgemeine Stimmrecht ist so der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse. Mehr kann und wird es nie sein im heutigen Staate; aber das genügt auch. An dem Tage, wo das Thermometer des allgemeinen Stimmrechtes den Siedepunkt bei den Arbeitern anzeigt, wissen sie sowohl wie die Kapitalisten, woran sie sind.“

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Fußnote

1. Siehe im Band VI dieser Schriften (Aufbau der Sozialdemokratie) die Kapitel Spaltungsversuche und Die Unabhängigen in Deutschland (Bd. VI, Seite 109 bis 175).


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020