Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

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Das „nationale Interesse“


Herr v. Plener hat auch gemeint, das allgemeine Wahlrecht sei in Österreich unmöglich wegen der nationalen Verschiedenheiten, und er hatte die Kühnheit, zu behaupten, das allgemeine Wahlrecht würde den Nationalitätenzwist verschärfen. Die Wahrheit ist, daß nur die Ausschließung der großen Mehrheit des Volkes von den politischen Rechten den Nationalitätenkampf in seiner heutigen Form und Hitze möglich macht. Die bevorrechteten Klassen haben heute ein leichtes Spiel, sie provozieren einen Streit um Dinge, die das Volk nicht interessieren. Die Frage, ob die deutschen Bourgeois oder die tschechischen Bourgeois für ihre Söhne mehr Beamtenstellen ergattern sollen, wird zu einer Angelegenheit aufgebauscht, welche die Kräfte des Staates lähmt. Der Großgrundbesitz insbesondere lebt geradezu vom Nationalitätenstreit, ebenso wie die Advokatenclique, welche der Bourgeoisie parlamentarische Vertreterdienste leistet. Die Großgrundbesitzer verkleiden sich als Deutsche oder als Tschechen, je nach Bedürfnis; sie kompromisseln, brechen Verträge, erfinden neue Streitpunkte und gebärden sich als die eigentlichen Vertreter des Volkes. Der Krone gegenüber spielen sie sich als solche auf, und selbst den breiten Schichten des Bürgertums Sand in die Augen zu streuen, gelingt ihnen häufig. Ist das allgemeine Wahlrecht eingeführt, sind die täuschenden Masken und Theaterkulissen beseitigt, dann werden wir ein Volkshaus bekommen, in welchem allerdings noch immer die Mehrheit des Volkes von einer Minderheit vertreten ist, aber wo die eigentlichen Gegensätze und die eigentlichen Ziele des Kampfes klar im Vordergrund stehen werden. Jedem Sehenden ist es unzweifelhaft, daß dann der nationale Zwist, wie er ja heute tatsächlich nur künstlich geschürt und auf der Höhe seiner Heftigkeit gehalten wird, in den Hintergrund tritt [1], sobald mit dem Einzug der Vertreter der breiten Volksmasse ins Parlament der Kampf um die Klasseninteressen auf die Tagesordnung gesetzt würde, wie sich ja auch heute schon in allen wirtschaftlichen Fragen die Parteien nicht nach Nationalitäten, sondern nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten gruppieren.

Wir wissen sehr wohl, daß das allgemeine Wahlrecht den Nationalitätenstreit nicht sofort aus der Welt schaffen wird; aber es bildet die notwendige Vorbedingung zum nationalen Frieden. Es wird ermöglichen, ja erzwingen, daß Angehörige aller Volksstämme sich auf dem gemeinsamen Boden ihrer politischen und wirtschaftlichen, ihrer Klasseninteressen zusammenfinden und gemeinsam zu kämpfen lernen. In einer wirklichen Volksvertretung wird trotz der nationalen Gegensätze sich zusammenfinden, was zusammengehört und dadurch ein ehrlicher nationaler Friedensschluß möglich werden. Alle „Ausgleiche“ der Volksverderber werden aber niemals zum Frieden führen und wenn sie noch so fein ausgetüftelt und der Pakt mit noch so feinem Champagner begossen wird.

Es ist nicht zu zweifeln, der Nationalitätenstreit ist ein bewußtes und mit größter Raffiniertheit gehandhabtes Mittel, um alle Völker Österreichs zugleich zu unterdrücken. Es ist das „Divide et impera“, „Teile und herrsche“, der alten Staatskunst. Die Völker werden mit Absicht in hypnotischer Gebundenheit gehalten. Das alte hypnotische Experiment erlebt hier seine groteske Wiederholung im großen. Man nehme ein Huhn, lege es auf den Boden, ziehe ihm mit der Kreide einen Strich über den Schnabel und auf dem Boden weiter und halte es nur eine halbe Minute fest, dann kann man es ruhig auslassen; wie gelähmt liegt es da, rührt sich nicht und sieht nur immer hin auf den Kreidestrich. Man kann es stoßen und schütteln, man kann es sogar rupfen, es ist wehrlos, es ist hypnotisiert. So werden die Völker Österreichs, Deutsche und Tschechen, Italiener und Slowenen, Polen und Ruthenen, alle miteinander hypnotisiert durch den dicken Kreidestrich des „nationalen Gedankens“, der ihnen über die Nase gezogen wird, und während sie hinstarren auf dieses eine Phantom, sind sie wehrlos und man kann sie rupfen alle miteinander – und man rupft sie.

Aber man vergißt bei der plumpen Nachahmung des alten Scherzes nur ein Moment; die Hypnose ist wirksam, aber sie hat eine zeitliche Begrenzung; endlich erwachen die Völker doch aus ihrem Schlaf und erkennen, daß man sie getäuscht. Dann aber, wehe den frivolen Hypnotiseuren!

Übrigens begreifen wir nicht, wie man wagen kann, die Korruption des heutigen Wahlsystems als ein nationales Interesse für die Deutschen respektive für die Polen hinzustellen. Die Leute, die das tun, haben die Frechheit, das Interesse ihrer Clique, das Interesse einer verschwindenden Minorität des Volkes mit dem Interesse der ganzen Nation zu verwechseln. Was insbesondere die Deutschen angeht, muß es jeden, der wirklich Liebe zu seinem Volk empfindet, anekeln, wenn er ansehen muß, wie die brutalste Gewalt entschuldigt und beschönigt wird, als ausgeübt in seinem angeblichen Interesse. „Im nationalen Interesse der Deutschen“ werden zwei Drittel der deutschen Bevölkerung in Österreich vom Wahlrecht ausgeschlossen und werden ihre Angelegenheiten ausgeliefert den reaktionären Grafen, den Leuten von der Richtung Chlumecky [2], welche für alles, was Volksinteresse ist, weder Verständnis noch Herz haben. Nein, gerade auch im nationalen Interesse, welches kein anderes ist als das internationale, muß das allgemeine Wahlrecht verlangt werden, denn die Nation umfaßt nicht nur ein paar Privilegierte und Protzen, und sowohl Deutsche wie Slawen bedanken sich schönstens dafür, ihre Interessen von diesen vertreten zu sehen.

Es ist ganz bezeichnend, daß die eigentlich nationalen Parteien, weil sie volkstümliche Parteien sind, von dem allgemeinen Wahlrecht so wenig befürchten, daß sie ganz energisch dafür eintreten. Schönerer [3], Pernerstorfer sind von jeher seine Vorkämpfer gewesen und die deutschnationale Vereinigung (Steinwender) hat sich erst kürzlich dafür erklärt, ebenso auf der anderen Seite die extrem nationalen Jungtschechen, Jungpolen und Jungruthenen. Aber die „Verfassungstreuen“, Schwarzgelben, wie die Plener, Jaques und Auspitz, entdecken ihr deutschnationales Herz, sobald das allgemeine Wahlrecht in Frage kommt, und treffen da mit den Alttschechen, dem böhmischen Feudaladel und der galizischen Schlachta in dem glühenden Wunsche zusammen, „nationale Interessen“ zu schützen. Wir denken, solche Maskenfreiheit gestattet selbst der politische Karneval in Österreich nicht. Der Schwindel ist denn doch zu durchsichtig.

Die Nationalitätenfrage in Österreich wird gelöst werden auf Grundlage der gemeinsamen Interessen aller Völker, welche sich vereinigen werden, um die Privilegien des Geldsackes und des Großgrundbesitzes abzuschütteln. Heute schon existiert in der klassenbewußten Arbeiterschaft eine nationale Frage nicht; es gibt, nicht einen Sprachstamm in Österreich, welcher nicht sein Kontingent zur Sozialdemokratie stellte, und trotzdem gibt es keinen Nationalitätenzwist, trotzdem stehen Sozialdemokraten aller Zungen in Österreich geeint und fest gegen ihre gemeinsamen Feinde.

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Fußnoten

1. Wer etwa meint, daß Adler hier falsch prophezeit hat, der vergißt, daß durch die Einführung der Badenischen fünften Kurie der Staat selbst die bürgerlichen Schwindelparteien geschaffen hat, die das allgemeine Wahlrecht verfälschten und den nationalen Kampf vergifteten (siehe u. a. die beiden Parteitagsreden Adlers vom Jahre 1902 über den Zusammenbruch der Schwindelparteien [Bd. VIII, Seite 439] und über die bürgerlichen Verfälschungen der Arbeiterbewegung [Bd. VIII, Seite 444]); der vergißt aber auch, was Adler immer wieder gesagt hat, daß das allgemeine Wahlrecht nicht das Ende, sondern der Anfang der Reform sein müsse (siehe Bd. VIII, Seite 243 f., 251, 290, 330 und viele andere Stellen). Übrigens sagt Adler ja gleich selbst das Entscheidende dazu.

2. Johann Freiherr v. Chlumecky, Abgeordneter des mährischen Großgrundbesitzes, ein Führer der Liberalen, wurde nach dem Rücktritt des Polen Smolka am 20. März 1893 zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt und war es bis zum Jahre 1897, bis zur Schaffung der fünften Kurie.

3. Schönerer und die Deutschnationalen sind später, als die Sozialdemokratie groß wurde, die heftigsten Feinde des allgemeinen Wahlrechts geworden und haben das ebenfalls mit nationalen Interessen begründet. Pernerstorfer ist später Sozialdemokrat geworden.


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020