Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

* * *

Die „Steuerträger“


Für den Zensus wird neben der politischen Reife der oberen Klassen noch ins Feld geführt, daß sie die eigentlichen „Steuerträger“ seien und daß das Maß ihrer politischen Rechte dem Maße ihrer Leistungen für den Staat entspreche. Ist unser ganzes Wahlsystem eine Fälschung, so ist diese Begründung desselben die gröbste Lüge. Die ordentlichen Ausgaben des österreichischen Staatshaushaltes bezifferten sich 1890 auf zirka 560 Millionen Gulden. [1] Hievon werden im Wege direkter Steuern nur zirka 107,7 Millionen Gulden hereingebracht und hievon sind noch abzuziehen der größte Teil der Gebäudesteuer und der Erwerbsteuer, welche beide prompt auf die gesamte Bevölkerung überwälzt werden. Nicht der Hausherr, welcher die Steuer aufs Steueramt trägt, sondern der Mieter der Wohnung bezahlt die Steuer. Es bleiben dann nur etwa 66 Millionen übrig an direkter Steuer. Der ganze Rest sind indirekte Abgaben und Erträgnisse aus den Monopolen und Zöllen. Davon machen die Verzehrungssteuern allein über 94 Millionen aus. Dazu das Erträgnis des Salzmonopols mit 17 Millionen, des Tabakmonopols mit 51 Millionen gerechnet, kommen wir auf Abgaben von Dingen, welche jeder konsumiert, welche die allerärmsten Klassen treffen und den gesamten Ertrag der direkten Einnahmen um mehr als das Doppelte überragen. Aber das ist noch lange nicht alles. Es ist festgestellt, daß, je geringer das Einkommen ist, es um so mehr mit indirekten Abgaben belastet ist, und hauptsächlich ist das durch die Verzehrungssteuern bewirkt. Nach dem sogenannten „Ernährungsgesetz“, das der Statistiker Engel feststellte, werden die Ernährungsausgaben einer Familie zu einem um so größeren Teil der Gesamtausgaben, je kleiner ihre Einnahmen sind. Und es ist eine weitere bekannte Tatsache, daß auch der Mietzins und mit ihm die Steuern von demselben einen um so höheren Prozentsatz von dem Einkommen der Familie in Anspruch nehmen, je geringer dieses Einkommen ist. Während der Wohlhabende für Nahrung und Wohnung etwa die Hälfte seines Einkommens verbraucht, muß der Arbeiter 75 Prozent, ja in den am schlechtesten gezahlten Schichten bis zu 90 Prozent dafür ausgeben und somit von 90 Prozent seines Einkommens indirekte Abgaben leisten. Ein gewiß unverdächtiger Zeuge, der Sekretär des Industriellenklubs in Wien, Herr G. Raunig, hat in einem sehr wertvollen Aufsatz [2] aus den ihm vorliegenden Budgets einiger Arbeiterfamilien die indirekten Steuern berechnet, die sie zu zahlen haben. Er kam zu dem Resultat, daß eine sechsköpfige Familie mit dem außerordentlich hohen Einkommen von 1.200 Gulden an indirekten Abgaben nicht weniger als 11 Prozent zahlt, daß aber eine Familie von fünf Köpfen, die jährlich 626 Gulden 70 Kreuzer ausgibt, an indirekten Abgaben 106 Gulden 13 Kreuzer oder etwa 17 Prozent bezahlt. Hievon zahlt diese Familie 38 Gulden 33 Kreuzer – 6 Prozent allein an Verzehrungssteuern von ihrer Nahrung. Wieviel müßte ein Rothschild verfressen, wenn er 6 Prozent seines Einkommens an Verzehrungssteuer zahlen sollte? Nun ist aber zu bedenken, daß ein Einkommen von 600 Gulden noch lange nicht die unterste Grenze des Einkommens einer Familie ist, sondern daß man leider sagen kann, daß die Mehrheit der Arbeiterbevölkerung ein Jahreseinkommen von 300 Gulden nicht erreicht. In demselben Maße aber steigert sich der Prozentsatz aller Beiträge zu den Staatslasten noch weit über diese 17 Prozent hinaus.

Ist es schon aus dieser Darlegung klar, wer der eigentliche „Steuerträger“ ist. so muß eine weitere Betrachtung ergeben, daß das arbeitende Volk nicht nur der bedeutendste, sondern auch der ausschließliche Steuerträger ist. Denn jene direkten Abgaben, welche der Grundbesitz und der Kapitalbesitz zahlt, sind ja tatsächlich nichts anderes als ein Teil des Arbeitsproduktes, welches dem eigentlichen Produzenten abgenommen wurde. Was die Ausbeuterklassen an Arbeit leisten, steht in gar keinem Verhältnis zu ihrem Einkommen oder bestenfalls in dem Verhältnis des Einkommens von Rothschild zu dem seines Bergwerkdirektors oder des Einkommens des Fürsten Schwarzenberg zu dem seines Verwalters.

Wenn also tatsächlich die Deckung der Bedürfnisse des Staates aufgebracht wird von der Arbeiterklasse im weitesten Sinne, so ergibt sich, daß die Wahlgesetzgebung Österreichs der Gerechtigkeit geradezu ins Gesicht schlägt. In demselben Maße, als eine Klasse mehr beiträgt zu den Staatslasten, in demselben Maße verliert sie an politischem Einfluß, und diejenige Klasse, die am meisten leistet, ist vollständig rechtlos.

Aber es gibt noch eine Last, schwerer als alle anderen. Nicht nur sein Gut schuldet das Volk dem „Vaterlande“, sondern auch sein Blut, und auch diese Last ist selbst heute, unter dem System der allgemeinen Wehrpflicht, in höchst ungleicher Weise verteilt. Für die Meistbesitzenden, für den hohen Adel und die Plutokratie, ist der Militärstand eine Ehre, eine angenehme Ausrede für ihre Existenz, jedenfalls ein Mittel, ihr Leben angenehmer zu machen. Für die Sprößlinge unseres Geburts- und Geldadels sind die hohen Offiziersstellen und die militärischen Sinekuren reserviert. Bei der Arcièrenleibgarde [3] dient es sich entschieden angenehmer als beim Infanterieregiment. Auch die Bourgeoisie hat eine Form gefunden, ihren Söhnen den Militärdienst erträglich zu machen, die Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen. Nur auf dem Arbeiter, dem Bauer und einem Teil des unteren Mittelstandes lastet mit voller Schwere die dreijährige Dienstpflicht. Dabei darf man nicht vergessen, was das Opfer des Militärdienstes auch wirtschaftlich für die Arbeiterfamilie oder Bauernfamilie bedeutet. Aber derselbe Mann, der selbst gedient und vielleicht in einer Schlacht Wunden davongetragen hat, der seine Söhne als Kanonenfutter zur Verfügung stellen muß, ist unwürdig des Wahlrechtes. So wie er in der Armee von dem geborenen Herrscher, dem adeligen oder gutbürgerlichen Offizier, sein Kommando erhielt, so empfängt er im zivilen Leben vom Adel und von der Bourgeoisie seine Gesetze; hier wie dort hat er zu parieren und zu kuschen.

*

Fußnoten

1. Ein Gulden (1 fl.), gleich später zwei Kronen. 1 K = etwa S 1,50. Natürlich war die Kaufkraft eines Guldens weit höher als die von drei Schilling.

2. Erschienen in Pernerstorfers Deutschen Worten, Märzheft 1892,.unter dem Titel: Ein Wiener Haushalt in Beziehung zu den indirekten Steuerlasten.“ (v. a.)

3. Die aus alten hohen Offizieren bestehende Leibgarde des Kaisers.


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020