Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

* * *

Bisherige Versuche einer Wahlreform


Das Wahlrecht in Österreich, dessen Schönheiten wir geschildert haben, wurde von den rechtlosen Volksklassen stets als ein drückendes Unrecht empfunden.

Mit dein Erwachen einer Arbeiterbewegung in Österreich hat auch sofort die Agitation für das allgemeine Wahlrecht begönnern ist wiederholt zurückgetreten hinter drängenderen Forderungen und immer wieder stärker und allgemeiner geworden. Die Methode war zu verschiedenen Zeiten verschieden. Tausende von Petitionen mit vielen Zehntausenden von Unterschriften frißt der Staub des Archivs im Abgeordnetenhaus. Heute freilich petitioniert die Arbeiterschaft nicht mehr; sie hat gewußt, sich Gehör zu verschaffen auch ohne dieses Mittel, und sie wird verstehen, ihren Willen durchzusetzen, ob die Herren da drinnen gutwillig sich fügen oder nicht.

Aber auch aus der Mitte des Parlaments selbst kamen wiederholt Reformvorschläge, deren Schicksale folgende Zusammenstellung erzählt:

1. Antrag Rechbauer. [1] Art. I. Der Reichsrat besteht aus dem Länderhaus und Volkshaus.

Art. II. Das Länderhaus besteht aus den kaiserlichen Prinzen, Herrenhausmitgliedern und aus den vom Landtag zu entsendenden Abgeordneten.

Art. III. Das Volkshaus wird gebildet durch unmittelbar direkte Wahlen der sämtlichen steuerzahlenden Bevölkerung des Reiches in der Art, daß auf 50.000 Einwohner ein Vertreter entfällt und ein Drittel der sämtlichen Volksvertreter von den Bewohnern der Städte und Märkte, zwei Drittel von den übrigen Bewohnern des Reiches direkt und unmittelbar gewählt werden.

In der 40. Sitzung der V. Session vom 30. März 1870 wurde der Antrag der „geschäftsordnungsmäßigen Behandlung zugeführt“, das heißt er verschwand spurlos.

2. Antrag Schönerer, Kronawetter, Fürnkranz und Steudl, eingebracht am 10. Dezember 1880: Das Abgeordnetenhaus soll aus 400 Abgeordneten bestehen, gewählt auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes, vom 24. Lebensjahre an. Auf je 50.000 Seelen entfällt ein Abgeordneter, unter tunlichster Berücksichtigung des Grundsatzes, „daß die Bewohner des Wahlkreises derselben Nation angehören“. Der Antrag kam zur ersten Lesung am 29. Jänner 1881 und wurde nach längerer Debatte (Auspitz namens der Liberalen dagegen) mit großer Majorität abgelehnt.

3. Antrag Kronawetter, Schönerer, Fürnkranz und Steudl (Gegenantrag zu Lienbachers Vorschlag der Einbeziehung der Fünfguldenmänner), am 28. Jänner 1881: Direkte Wahlen; wahlberechtigt in der Wählerklasse der Stadt- und Landgemeinden ist jedermann, der eine direkte Steuer zu entrichten hat. Erste Lesung am 18. Februar 1881, dem Wahlreformausschuß zugewiesen. Der Ausschußbericht (Hohenwart, Zeithammer) beantragt Übergang zur Tagesordnung, der auch in der Sitzung vom 20. März 1882 beschlossen wird.

Dem Antrag Lienbacher auf Einbeziehung der Fünfguldenmänner stellte die Linke ein Minoritätsvotum (Berichterstatter Herbst) gegenüber, welches für die Städte 5 Gulden, für die Landgemeinden 2 Gulden (beides mit Einbeziehung der Staatszuschläge) beantragte. Der Antrag fiel mit 150 gegen 167 Stimmen, während der Antrag Zeithammer-Lienbacher mit 178 gegen 118 Stimmen, in dritter Lesung mit 162 gegen 124 Stimmen, also mit einfacher Majorität angenommen wurde. (20. März 1882.) Die Ausdehnung des Wahlrechtes war in dem Antrag der Rechten mit der Teilung des böhmischen Großgrundbesitzes in die Gruppen des fideikommissarischen und nichtfideikommissarischen verknüpft, und um diesen Punkt handelte es sich eigentlich hauptsächlich.

4. Antrag Kronawetter, Kreuzig, Lueger am 16. April 1886: „Die Regierung wird aufgefordert, mit tunlichster Beschleunigung einen Gesetzesvorschlag einzubringen über die Änderung der Verfassung durch Bildung eines auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes und die Beseitigung der privilegierten Kurien zu wählenden Volkshauses.“ Kam nie zur ersten Lesung.

Am 12. Dezember 1888, gelegentlich der Annahme des Wehrgesetzes, verlangte Abgeordneter Lažansky [2], daß der Antrag auf die Tagesordnung gestellt werde. Präsident Smolka erwiderte: „Er werde den Augenblick wahrnehmen, wo dies wird geschehen können.“ Dieser „Augenblick“ ist nie eingetreten.

5. Antrag Plener, Exner, Wrabetz [3], am 5. Oktober 1886: auf Errichtung von Arbeiterkammern und von diesen zu wählenden neun Reichsratsabgeordneten. Erste Lesung am 1. Februar 1887 (107. Sitzung), einem besonderen Ausschuß übergeben; Enquete vom 23. bis 26. Februar 1889. Der Antrag wurde in der letzten Session mit unwesentlichen Abänderungen wieder eingebracht am 25. Mai 1891.

6. Antrag Fürnkranz, Schönerer, Fiegl und Türk am

8. Oktober 1886: Unter Belassung der Kurien Ausdehnung des Wahlrechtes auf alle, die eine direkte Steuer entrichten und das 30. Lebensjahr zurückgelegt haben. Direkte Wahlen. – Der Antrag wurde „geschäftsordnungsmäßig behandelt“, verschwand also spurlos.

7. Anträge auf Einführung direkter Wahlen in den Landgemeinden wurden eingebracht: Von Tilšer [4] am 20. April 1891, von Plener an demselben Tage.

Fürnkranz erneuert seinen Antrag (siehe oben) am 24. April 1891.

Am gleichen Tage bringt Geßmann einen ähnlichen Antrag ein.

8. Antrag Pernerstorfer am 8. Oktober 1891: Es sei ein vierundzwanziggliedriger Ausschuß aus dem ganzen Hause zu wählen, welcher diesem Vorschläge zu erstatten hat bezüglich der Änderung der Verfassung durch Bildung einer auf Grund des allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrechtes zu schaffenden Volksvertretung an Stelle des gegenwärtigen auf Steuerzensus und Privilegien beruhenden Abgeordnetenhauses. – Kam nie auf die Tagesordnung.

9. Antrag Slavik [5] am 16. März 1893 (Antrag der Jungtschechen).

Der Antrag der Jungtschechen beginnt mit der obligaten „Rechtsverwahrung“, welche zum jungtschechischen Zeremonial gehört und lautet:

Die Vertreter des tschechischen Volkes haben wiederholt und insbesondere neuerdings in der ersten Sitzung dieser Sessionsperiode erklärt, daß die gegenwärtige Verfassung und die auf Grund derselben bestehende Reichsvertretung den unverjährbaren Rechten der Länder der böhmischen Krone, wie dieselben durch Krönungseide, grundlegende Staatsakte und königliche Zusicherungen gewährleistet sind, durchaus widerspricht, daher diese Verfassung für die Vertreter des tschechischen Volkes keine rechtliche Geltung haben kann. Gestützt auf diese Rechtsüberzeugung, welche auch in der a. h. Thronrede vom Jahre 1879 Anerkennung fand, und unter Wahrung der vollsten Aktionsfreiheit, mit allen gesetzlichen Mitteln diese Verfassung zu bekämpfen und die Restituierung der Rechte der Länder der böhmischen Krone in integrum anzustreben, nehmen die Gefertigten an den Arbeiten der Reichsvertretung teil. Insolange aber jenes staatsrechtliche Ziel nicht erreicht ist, halten es die Gefertigten für ihre pflichtgemäße Aufgabe, im Geiste der fortschrittlichen Tendenzen, welche die tschechische freisinnige Nationalpartei in ihren programmatischen Erklärungen bereits des öfteren formuliert und veröffentlicht hat, wie in den Landtagen so nicht minder in diesem hohen Hause zu wirken, also auch dahin zu streben, daß zum mindesten der bestehende Wahlmodus auf eine der Gerechtigkeit entsprechende Basis gestellt werde. Diese Basis erblicken die Gefertigten in dem allgemeinen Stimmrecht und stellen daher den Antrag: Das hohe Haus wolle dein. beiliegenden Gesetzentwurf seine Genehmigung erteilen.

In formaler Beziehung ist dieser Antrag dem Wahlreformausschuß zuzuweisen.

Der Gesetzentwurf lautet:

„Gesetz, betreffend die Wahl der Abgeordneten in das Abgeordnetenhaus des Reichrates.

Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrates finde Ich anzuordnen wie folgt:

Artikel 1, §§ 6 und 7 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, Nr. 141 R.-G.-Bl., werden hiemit außer Kraft gesetzt und es tritt an deren Stelle nachstehende Bestimmung:

§ 6. In das Haus der Abgeordneten kommen durch Wahl 400 Mitglieder, und zwar in der für die einzelnen Königreiche und Länder auf folgende Art festgesetzten Zahl: Für das Königreich Böhmen 98, für die Markgrafschaft Mähren 38, für das Herzogtum Ober- und Niederschlesien 10, für das Königreich Galizien und Lodomerien mit dem Herzogtum Krakau 110, für das Herzogtum Bukowina 11, für das Königreich Dalmatien 9, für die Markgrafschaft Istrien 5, für die Stadt Triest mit ihrem Gebiet 3, für die gefürstete Grafschaft Görz und Gradiska 4, für das Herzogtum Krain 8, für das Herzogtum Steiermark 21, für das Herzogtum Kärnten 6, für die gefürstete Grafschaft Tirol 14, für das Land Vorarlberg 2, für das Herzogtum Salzburg 3, für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns 45, für das Erzherzogtum Österreich ob der Enns 13.

Artikel 2. Die Reichsratswahlordnung vom 2. April 1873, R.-G.-Bl. Nr. 41, samt deren Anhang sowie die sämtlichen Gesetze, wodurch dieselbe abgeändert und ergänzt wird, treten außer Kraft.

Artikel 3. Reichsratswahlordnung.

§ 1. Aktiv wahlberechtigt im allgemeinen für das Abgeordnetenhaus des Reichsrates ist jeder eigenberechtigte österreichische Staatsbürger, welcher das 24. Lebensjahr vollstreckt hat und von diesem Wahlrecht nicht ausgeschlossen ist.

§ 2. Vom aktiven Wahlrecht sind ausgeschlossen: 1. diejenigen, welche unter Vormundschaft oder Kuratel stehen; 2. diejenigen, über deren Vermögen der Konkurs eröffnet ist, solange derselbe nicht aufgehoben wurde; 3. diejenigen, welche eine Armenversorgung aus öffentlichen Mitteln genießen oder in dem der Wahl unmittelbar vorangegangenen Jahre genossen haben. Die Bestimmungen des § 6 des Gesetzes vom 15. November 1867, R.-G.-Bl., Nr. 31 [6], bleiben aufrecht. § 3. Für Personen des Soldatenstandes des Heeres und der Marine ruht das aktive Wahlrecht so lange, als dieselben sich bei der Fahne befinden.

§ 4. Jeder Wähler kann sein Wahlrecht nur persönlich und nur in einem Wahlbezirk ausüben.

§ 5. Wählbar ist jeder in den Wahllisten eingetragene Wähler, welcher das 30. Lebensjahr vollstreckt hat und seit mindestens drei Jahren das österreichische Staatsbürgerrecht besitzt.

§ 6. Zum Zwecke der Wahl wird jedes der Königreiche und Länder in Wahlbezirke geteilt, von denen jeder nur einen Abgeordneten zu wählen hat. Die Stimmenabgabe geschieht womöglich in Ortsgemeinden, bei volkreichen Ortsgemeinden in Unterabteilungen. Mit Ausschluß der Enklaven müssen die Wahlbezirke zusammenhängend und geographisch tunlichst abgerundet sein und haben mindestens 50.000, höchstens 70.000 Seelen der Bevölkerungszahl zu enthalten.

§ 7. Jeder Wähler kann sein Wahlrecht nur in dem Wahlbezirk ausüben, in welchem derselbe zur Zeit der Wahl seinen Wohnsitz hat.

§ 8. In jeder Ortsgemeinde, in welcher die Stimmenabgabe erfolgen soll, sind Wahllisten anzulegen, in welchen die zum Wählen Berechtigten nach Zu- und Vornamen, Alter, Beschäftigung und Wohnort eingetragen werden. Diese Listen sind spätestens vier Wochen vor dem zur Wahl bestimmten Tage zu jedermanns Einsicht aufzulegen, und ist dieser zuvor unter Hinweisung auf das Reklamationsrecht bekanntzumachen.

§ 9. Die Wahl erfolgt geheim mittels Stimmzettel.

§ 10. Als gewählt erscheint derjenige, welcher die absolute Majorität aller in einem Wahlbezirk abgegebenen Stimmen hat. Stellt bei einer Wahl eine absolute Stimmenmehrheit sich nicht heraus, so ist nur unter den Kandidaten zu wählen, welche die meisten Stimmen erhalten haben. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los.

§ 11. Über die Gültigkeit der Wahl entscheidet das Abgeordnetenhaus des Reichsrates. Einwendungen gegen die Wahl müssen längstens binnen drei Tagen nach dem Zusammentritt des Abgeordnetenhauses des Reichsrates demselben überreicht werden.

§ 12. Die allgemeinen Wahlen sind in jedem einzelnen Königreich oder Lande an einem Tage, und zwar an einem Sonntag, vorzunehmen.

§ 13. Die Anordnungen bezüglich der Feststellung der Wahlbezirke, des Verfassens der Wählerlisten, des Reklamationsverfahrens und der Vornahme der Wahl werden im Wege der Landesgesetzgebung bestimmt.

§ 14. Das vorliegende Gesetz tritt erst dann in Kraft, nachdem die im § 13 angeführten, von den Landtagen der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder geschlossenen Bestimmungen in Gesetzeskraft erwachsen sind.

§ 15. Mit der Durchführung dieses Gesetzes wird Mein Minister des Innern beauftragt.

Gewiß ist der vorliegende Gesetzentwurf keineswegs einwandfrei. Er trägt alle Kennzeichen des Machwerks einer Bourgeoispartei. Vor allem haben die Jungtschechen natürlich das Alter der Wahlfähigkeit auf derselben Höhe – 24 Jahre – belassen, welche nicht den Verhältnissen der Arbeiterschaft, wohl aber den Bedürfnissen der Bourgeoisie angepaßt ist. Weiter ist der Punkt 3 des § 2 auf das entschiedenste zu verwerfen. Es ist eine richtige Protzenidee, daß die armen Menschen, welche die Opfer der Wirtschaftsordnung sind und vom heutigen Staate mit einem elenden Almosen, „Armenunterstützung“ genannt, abgefertigt werden, ihrer Rechte als Staatsbürger verlustig erklärt werden sollen. Das Verbrechen der Gesellschaft, welches Tausende auf die elende „öffentliche Wohltätigkeit“ anweist, wird so nicht an den Verübern des Verbrechens, sondern an seinen Opfern gerächt. Wenn aber gesagt wird, diesen Leuten fehle die nötige „Unabhängigkeit“, um frei und unabhängig zu wählen, so ist das gedankenlose Faselei. Jeder „Vagabund“, der heimatlos von Ort zu Ort zieht um Arbeit zu suchen, ist politisch unabhängiger als der erbgesessene Spießbürger, der nicht einmal einen Versuch wagt, gegen die Gevatterschaft in Opposition zu treten, als der wohlhabende Kaufmann, der Rücksicht auf seine Kundschaft nimmt, und gewiß unabhängiger als der Staats- oder Privatbeamte, dessen Chef sich den Stimmzettel zeigen läßt. Auch ist nicht einmal die Befürchtung, daß das Ergebnis der Wahl durch die Stimmen der Armenunterstützung Genießenden erheblich beeinflußt werden könnte, das eigentliche Motiv dieser Bestimmung, sondern vielmehr der Hochmut der Besitzenden ist es, welcher sich sträubt, die politische Gleichstellung seiner werten Person mit dem „Armen“ anzuerkennen. Diese Bourgeoisie vergißt, daß sie selbst die eigentliche Klasse der „Pfründner“ ist, und daß sie mitsamt dem hohen Adel zum guten Teil das Wahlrecht verlöre, wenn jeder davon ausgeschlossen wäre, der von fremder Arbeit lebt.

Aber der jungtschechische Antrag enthält noch eine Bestimmung, die gänzlich unannehmbar ist, weil sie geeignet erscheint, den ganzen Entwurf, selbst für den Fall seiner Annahme, dazu zu verurteilen, toter Buchstabe zu bleiben. Im § 13 werden alle Einzelheiten über die Durchführung der Wahl, insbesondere aber die Feststellung der Wahlbezirke den Landtagen überlassen. Dann aber würde es von jedem der 17 Landtage abhängen, wann und ob das allgemeine Wahlrecht in Kraft tritt. Der Kampf um die Einteilung der Wahlbezirke würde gerade auf jenen Schauplatz verlegt werden, wo er am hitzigsten sein muß, weil sich die Parteien unmittelbar und allein gegenüberstehen. Es würde aber auch eine so wichtige Sache gerade den Körperschaften überlassen bleiben, die womöglich noch reaktionärer sind als der Reichsrat, und schließlich gäbe es wahrscheinlich so viele Wahlordnungen als „Königreiche und Länder“ in unserem lieben Österreich. Die Änderung der Reichsratswahlordnung würde in jeder Session jedes Landtages wieder neu auf der Tagesordnung stehen und die Einteilung der Wahlbezirke würde wechseln mit der wechselnden Majorität. Nein, die Reichsratswahlordnung bis in alle Einzelheiten ist Sache der Reichsgesetzgebung, das ist so klar, daß es selbst die Jungtschechen einsehen müssen. Wenn sie das Gegenteil in ihrem Entwurf vorgesehen haben, so muß man geradezu auf den Verdacht kommen, daß ihr Antrag für sie nur ein Mittel der Agitation, nur ein Mittel, für sich im Volke Stimmung zu machen, ist, daß sie es aber nicht ernst meinen mit dem allgemeinen Wahlrecht.

Nun denn, die Sozialdemokratie hat dafür gesorgt, daß der Antrag auf allgemeines Wahlrecht mehr geworden ist, als ein demagogischer Schachzug der Jungtschechen. Die Wahlrechtsbewegung ist stärker angewachsen als ihnen lieb ist und alle ihre „staatsrechtlichen“ Schmerzen und der dazu gehörige Spektakel treten dagegen in den Hintergrund und verblassen vollständig.

Schließlich ist an dem Antrag der Jungtschechen noch auszusetzen, daß die Zahl der Abgeordneten eine auf 400 fixierte ist. Das richtige Prinzip, daß auf jeden Wahlkreis, welcher 50.000 bis 70.000 Einwohner umfaßt, ein Abgeordneter entfallen soll, wird dadurch auf die Dauer unmöglich, weil in dem Maße, wie die Bevölkerung wächst, und zwar in verschiedenen Kreisen mit ungleicher Schnelligkeit, dieses Verhältnis verschoben wird, wenn nicht durch Vermehrung der Wahlkreise und der Zahl der Abgeordneten immer wieder eine gleichmäßige Verteilung hergestellt wird. Wie die Handhabung in der im Antrag vorgeschlagenen Weise wirkt, sehen wir in Deutschland, wo die Verschiedenheit der Wahlkreise eine so ungeheure ist, daß sie zu den größten Ungerechtigkeiten führt.

So große Mängel aber der jungtschechische Entwurf haben mag, so sind sie durchaus leicht zu beseitigen, und wir verwahren uns von vornherein dagegen, daß der erprobte Pharisäismus der Deutschliberalen und der Feudalen sich auf diese Mängel berufe, nm den Antrag abzulehnen. Auch wenn er in seiner heutigen Gestalt angenommen würde, wäre cs noch ein ganz ungeheurer Fortschritt gegen das heute geltende Wahlsystem. Jeder Abgeordnete, der es irgendwie ernst meint mit dem Volksrccht, der sich nicht der Anteilnahme an der Aufrechterhaltung der heutigen ungerechten, den Volksinteressen ins Gesicht schlagenden Zuständen schuldig machen will, hat darum die Pflicht, zunächst für den jungtschechischen Antrag zu stimmen und hernach zu suchen, ihn durch Beseitigung seiner Mängel zu verbessern.

Um dem jungtschechischen Antrag entgegenzutreten, verstecken sich die Gegner des allgemeinen Wahlrechtes, insbesondere die Deutschliberalen, hinter das Argument, daß einzelne Kronländer, insbesondere aber Galizien, einen bedeutenden Zuwachs an Abgeordneten dadurch erhielten und ihr Übergewicht auf die Gesetzgebung zuungunsten der anderen Länder vermehrt würde. Wie sich das stellen würde, ergibt folgende Tabelle:

Verteilung nach Kronländern und Kurien

Kronland

Groß-
grund-
besitz

Handels-
kammern

Stadt-
bezirke

Land-
bezirke

Zusammen

Hievon aus der
Bevölkerung
gewählt (abgerechnet
Großgrundbesitz und
Handelskammern)

Nach dem Antrag
der Jungtschechen
würden aufs
Kronland entfallen

Niederösterreich

  8

  2

  19

    8

  37

  27

  45

Oberösterreich

  3

  1

    6

    7

  17

  13

  13

Salzburg

  1

    2

    2

    5

    4

    3

Steiermark

  4

  2

    8

    9

  23

  17

  21

Kärnten

  1

  1

    3

    4

    9

    7

    6

Krain

  2

    3

    5

  10

    8

    8

Triest und Gebiet

  1

    3

    4

    3

    3

Görz und Gradiska

  1

    1

    2

    4

    3

    4

Istrien

  1

    1

    2

    4

    3

    5

Tirol

  5

    5

    8

  18

  13

  14

Vorarlberg

    1

    2

    3

    3

    2

Böhmen

23

  7

  32

  30

  92

  62

  98

Mähren

  9

  3

  13

  11

  36

  24

  38

Schlesien

  3

    4

    3

  10

    7

  10

Galizien

20

  3

  13

  27

  63

  40

110

Bukowina

  3

  1

    2

    3

    9

    5

  11

Dalmatien

  1

    2

    6

    9

    8

    9

Zusammen

85

21

118

129

353

247

400

Es zeigt sich, daß allerdings die Zahl der Abgeordneten für einige Kronländer vermindert und für Galizien erheblich vermehrt würde. Den größten Zuwachs wird Galizien, Niederösterreich und Böhmen erfahren, während sich für Oberösterreich, Steiermark und Tirol eine Verminderung ergibt. Allerdings würde sich demnach das Zahlenverhältnis zuungunsten der innerösterreichischen Länder verschieben. Wenn man aber bedenkt, daß nicht nur das allgemeine, sondern auch das gleiche Wahlrecht eingeführt werden soll, daß also die Gruppe der Großgrundbesitzer und der Handelskammern wegfiele, die heute durchaus nicht die Vertreter der Interessen der Bevölkerung des Kronlandes, sondern ausschließlich der Interessen ihrer kleinen Clique sind, so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Vergleicht man nämlich, wie wir in der obigen Tabelle getan haben, die Zahl der Abgeordneten, welche die Kronländer heute haben, ohne die beiden Kurien des Großgrundbesitzes und der Handelskammern dazuzurechnen, mit der Zahl der Abgeordneten, die sie nach dem Antrag der Jungtschechen zu bekommen haben, so ergibt sich ein ganz erklecklicher Zuwachs der Abgeordneten, die aus dem Volke gewählt sind. Dazu kommt, daß, während die 40 Abgeordneten, welche heute Galizien aus den Städten und Landgemeinden in den Reichsrat schickt, in den Klauen der Großgrundbesitzer stecken und im Polenklub, welcher mit seinen 63 Abgeordneten als eine geschlossene, reaktionäre Körperschaft dasteht, einfach Order zu parieren haben, nach Einführung des allgemeinen Wahlrechtes die 110 galizischen Abgeordneten naturgemäß nicht nur in Polen und Ruthenen, sondern auch in Vertreter der städtischen und landwirtschaftlichen Interessen zerfallen würden. Diese einzelnen Gruppen würden sich an die verwandte Interessengruppe in anderen Kronländern anschließen und die Herrschaft der polnischen Delegation wäre gebrochen. Die Vermehrung der Abgeordneten aus Galizien bedeutet also tatsächlich nicht eine Verstärkung des Einflusses der Schlachta, wie uns die Liberalen glauben machen wollen, sondern eine Schwächung derselben, ja seine Vernichtung.

*

Fußnoten

1. Dr. Karl Rechbauer war Abgeordneter von Graz, gehörte der sogenannten deutschen Autonomistenpartei an; ein aufrechter Demokrat gleich Fischhof.

2. Graf Leopold Lažansky, ein Jungtscheche. (Das ž wird gesprochen wie „j“ im Wort Journal.)

3. Über diesen Antrag der Liberalen siehe später.

4. Dr. Franz Tilšer, Obmann des Jungtschechenklubs, (š wird wie „sch“ gesprochen.)

5. „v“ wird wie „w“ ausgesprochen.

6. Dieses Gesetz enthält die Bestimmungen über die Folgen der Verurteilung wegen Verbrechen.


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020