Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

* * *

Der „Bildungszensus“


Einige deutschliberale Parteigänger hat die öffentlich an sie gestellte Frage, wie sie sich zum allgemeinen Wahlrecht verhielten, in arge Verlegenheit gebracht. Dafür einzutreten, erlaubt ihnen der Plener nicht; dagegen zu sein, bringt sie in Gefahr, den Rest von politischer Reputation zu verlieren, den sie etwa noch besitzen. Sie wählten den Ausweg zu erklären, daß sie wohl mit dem allgemeinen Wahlrecht einverstanden seien, aber daß ihr Gewissen nicht zulasse, den Reichsrat an die Analphabeten Galiziens, der Bukowina, Dalmatiens usw. auszuliefern. Darum seien sie für den „Bildungszensus“, das heißt das Wahlrecht solle an die Kenntnis des Lesens und Schreibens gebunden sein.

Das klingt ganz hübsch und es ließe sich nicht viel dagegen einwenden, wenn der Mann, der es nicht der Mühe wert hält, sich diese einfachsten Kenntnisse zu verschaffen, der aus eigenem Wollen Analphabet geblieben ist, als eine Art Selbstverstümmler vom Wahlrecht ausgeschlossen bliebe. Stehen aber die Dinge so? Keineswegs. Die Analphabeten sind die Opfer unserer Zustände in Staat und Gesellschaft. Sie sind dem Fluch der Unwissenheit verfallen aus denselben Gründen, aus welchen sie der Unterdrückung und dem Elend verfallen sind. Unsere Volksschulgesetzgebung ist überdies nur eine halbe Tat gewesen; sie hat die Lasten der Schule den armen, von den Grundherren ausgesaugten Dorfgemeinden aufgewälzt und darum ist sie in Galizien und der Bukowina, in Krain und Dalmatien zum großen Teile auf dem Papier geblieben. Die polnischen Magnaten, die im Landtag regieren, sind schuld an der Unwissenheit wie an dem Elend im Lande. Es wäre also die größte Ungerechtigkeit, die armen Leute, die man gewaltsam von den notwendigen Kenntnissen ausgeschlossen hat, auch noch vom Wahlrecht auszuschließen, sie mit gebundenen Händen wehrlos ihren Peinigern auszuliefern.

So notwendig übrigens die Volksschulbildung für das politische Urteil ist, unentbehrlich ist sie durchaus nicht und mancher in schwerer Lebenserfahrung geprüfte Bauer, der weder schreiben noch lesen kann, wird seine Interessen vielleicht ganz gut verstehen und gewiß vernünftiger wählen als sein Herr Graf, dem seine „Bildung“ ausschließlich dazu dient, die Liste der startenden Rennpferde und, wenn es hoch kommt, den Kurszettel zu studieren.

Leider würde aber die Erteilung des Wahlrechtes auch ohne jede Einschränkung an der heutigen Vertretung dieses Landes wenig ändern. Wir können die besorgten Liberalen beruhigen, ihre Lieblinge, die polnischen Grafen, kämen ziemlich alle wieder in den Reichsrat. Dafür spricht’ die Erfahrung in Ostpreußen und Posen, wo trotz des allgemeinen Wahlrechtes genau dieselbe Sorte von Leuten in den Reichstag gewählt wird wie in Galizien. Wir haben also kaum Hoffnung, daß daran zunächst sich viel ändern werde. Jede Änderung aber wäre ein Fortschritt. Der analphabetische Bauer, der etwa gewählt würde, wäre gewiß ein geringeres Hindernis für eine vernünftige Gesetzgebung als die Gruppe von politischen Analphabeten und verbissenen Gegnern jedes Fortschrittes, die heute im Polenklub das Parlament beherrscht.

Wir finden es nur verwunderlich, daß die Herren, welche so ängstlich die Analphabeten vom Wahlrecht ausschließen wollen, auf diese Idee erst verfallen, wenn vom allgemeinen Wahlrecht die Rede ist und warum sie diese Maßregel nicht längst für die heutige Wahlordnung beantragt haben. Die Zahl der Analphabeten, denen das Gesetz die politische „Reife“ voll zuerkennt, ist nämlich in den in Frage kommenden Provinzen auch heute eine sehr beträchtliche. Sehen wir einmal zu.

Von je 100 Personen über 6 Jahre alten
konnten weder lesen noch schreiben:

 

1880

1890

männlich

weiblich

männlich

weiblich

Krain

46,10

45,02

34,12

32,97

Küstenland

52,63

61,08

43,26

50,80

Galizien

74,24

79,92

64,87

71,60

Bukowina

84,22

90,79

75,45

83,10

Dalmatien

82,06

92,68

75,75

89,91

Das furchtbare Gewicht dieser Zahlen wird dadurch einigermaßen gemildert, daß die Zahl der Analphabeten in allerdings langsamem Sinken begriffen ist und daß sie hauptsächlich die höheren Lebensalter umfaßt.

Aus einer Tabelle des Österreichischen statistischen Handbuches für 1892 geht hervor, daß für das ganze Reich fast die Hälfte aller Männer, die 1890 schreiben und lesen konnten, unter 24 Jahre alt waren, also noch nicht in wahlfähigem Alter standen. Gerade für die analphabetenreichen Kronländer ist dieser Prozentsatz gewiß ein noch höherer. Betrachten wir nun die Ziffern, welche die letzte Volkszählung über die Zahl der des Lesens und Schreibens Kundigen angibt und vergleichen wir sie mit der Wählerzahl, so erfahren wir:

in

Galizien

Bukowina

Dalmatien

gab es des Lesens und Schreibens kundige Männer

736.333

61.344

51.145

davon in wahlfähigem Alter höchstens

368.000

30.000

25.000

Wahlberechtigte aber analphabetische Wähler

550.000

54.438

53.400

also mindestens

182.000

14.000

28.400

Wir finden also, daß bei dem heutigen Wahlgesetz in der Bukowina mehr als ein Viertel, in Galizien mehr als ein Drittel, in Dalmatien über die Hälfte der Wahlberechtigten Analphabeten sind, ohne daß es jemals den liberalen Politikern eingefallen wäre, an der Vorzüglichkeit dieser famosen Wahlordnung oder an der Tauglichkeit der von den Analphabeten gewählten Abgeordneten auch nur im geringsten zu zweifeln.

Die angebliche Furcht vor den Analphabeten ist also erst aufgetaucht, um als Ausrede zu dienen und die Wahlrechtsagitation zu verwirren. Was aber nicht gelingen wird.


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020