Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

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Einiges über Geschichte und Wesen der Verfassung


Es kann nicht unsere Absicht sein, hier auch nur im gedrängtesten Abriß eine Geschichte der österreichischen Verfassung zu geben. Aber es muß gesagt werden, weil es immer vergessen wird: Die heutige Verfassung Österreichs knüpft an vormärzliche ständische Formen an. Was 1848 mit dem Blute der Arbeiter und Studenten erobert wurde, blieb preisgegeben und hat die Verfassung Schmerlings nicht zurückerobert. Die am 25. April 1848 erlassene „Verfassungsurkunde des österreichischen Kaiserstaates“ verwies den Großgrundbesitz in die erste Kammer, den Senat. Die zweite Kammer sollte auf Grund des gleichen, freilich nicht des allgemeinen Wahlrechtes gewählt werden. Der anfänglich geplante Steuerzensus wurde aufgegeben, aber noch sollten alle vom Tag- oder Wochenlohn Lebenden und die Dienstleute vom Wahlrecht ausgeschlossen bleiben. Aber am 15. Mai rückte die akademische Legion auf den Burgplatz, und Tausende von Arbeitern zogen aus den Vorstädten herein. Die in dieser Form überreichte „Petition“ wurde sehr rasch erledigt. Die Beseitigung des Senats und der Beschränkungen des Wahlrechts wurden sofort bewilligt. Die Wahlen zum konstituierenden Reichstag wurden auf Grund eines nahezu allgemeinen Wahlrechts (nur die Dienstleute blieben noch immer rechtlos) durchgeführt. Kaum war aber dies Bürgertum zur Konstituante versammelt, als es sein Werk mit der Ausschließung der Besitzlosen vom Wahlrecht begann. Der Verfassungsentwurf des Kremsierer Reichstages nahm wieder den Zensus auf; das Wahlrecht für das „Volkshaus“ sollte nur jener 24jährige Staatsbürger erhalten, der eine direkte Steuer in einem vom Wahlgesetz (aber nicht höher als 5 fl. C. M. [1]) zu bestimmenden Minimum-entrichtet oder einen Pacht- oder Mietzins zahlt, von dem eine direkte Steuer gleichen Betrages entfällt. Zudem sollte neben der Volkskammer eine von den Landtagen und Kreistagen zu wählende Länderkammer stehen.

Während die Wiener Proletarier den Kanonen des Windischgrätz gegenüberstanden, wurden sie ihres Bürgerrechtes beraubt. Der Kremsierer Reichstag vernichtete, was der Maisturm erobert hatte; er fühlte sich als die Vertretung der Bourgeoisie, er wollte, wie Violand [2] sich ausdrückt, „den Besitz zum Regulator aller Verhältnisse, zur alleinigen Herrschaft erheben“. Aber immerhin, er war konsequent; das gleiche Wahlrecht wurde nicht angetastet; die Stände blieben begraben. Am 7. März 1849 wurde der Reichstag gesprengt und die oktroyierte Reichsverfassung für das Kaisertum Österreich kundgemacht, welche das Wahlrecht für das Unterhaus noch weiter einschränkt und den Zensus auf 5 Gulden, in den Städten über 10.000 Seelen aber auf 10 bis 20 Gulden festsetzte. Während aber die Gleichheit des Wahlrechtes für das Unterhaus unangetastet blieb, wurde für das Oberhaus die „Interessenvertretung“ eingeführt, das heißt, es wurde an die Höchstbesteuerten ausgeliefert, die 130 Mandate gegenüber 40 von den Landtagen zu wählenden Mitgliedern erhalten sollten. Diese Reichsverfassung trat nie ins Leben. Der Fall der Revolution in Ungarn machte bald jede Maske überflüssig. Das totgeborene Kind wurde am 31. Dezember 1851 mit einem Patent begraben, welches sie zugleich mit den Grundrechten außer Kraft setzte. Der Absolutismus war in aller Form wiederhergestellt.

Als die Niederlage von Solferino 1859 den Ruin des Reiches enthüllte und man Geld und Kredit brauchte, dachte man wieder an „zeitgemäße Verbesserungen in Gesetzgebung und Verwaltung“ (Manifest vom 15. Juli 1859). Der aus ernannten Mitgliedern bestehende verstärkte Reichsrat wurde einberufen und bald erschien das Oktoberdiplom (20. Oktober 1860), welches eine Verfassung ankündigte. Das Schwergewicht der Gesetzgebung sollte in die Landtage fallen, welche 100 Delegierte in eine aus einer einzigen Kammer bestehende, im übrigen zu ernennende Reichsvertretung zu entsenden hätten. Aber bevor noch dieses föderalistische Experiment versucht werden konnte, fand abermals ein Systemwechsel statt. Schmerling wurde Minister und erließ das Februarpatent (26. Februar 1861), die eigentliche Grundlage der heute geltenden Verfassung. Das Februarpatent zerlegte die vom Oktoberdiplom geplante Reichsvertretung in zwei Kammern: das Herrenhaus, in welchem aber nun neben den vom Kaiser zu ernennenden Mitgliedern die Vertreter des Großgrundbesitzes als erbliche Pairs sitzen; und das „Haus der Abgeordneten“, dessen Mitglieder von den Landtagen nach einem bestimmten Verteilungsmodus aus den einzelnen Kurien derselben zu wählen sind. Das Haus sollte aus 343 Mitgliedern bestehen, wovon 223 den „engeren Reichsrat“ der Länder des späteren Zisleithanien bilden, 120 Mitglieder auf die Länder der ungarischen Krone entfallen sollten. Da diese Verfassung von Ungarn nie anerkannt wurde, kam nur der „engere Reichsrat“ zustande.

In bezug auf unseren Gegenstand liegt das Schwergewicht der Schmerlingschen Verfassung in den im Anhang an das Februarpatent erlassenen Landesordnungen und Landtagswahlordnungen. In diesen wird die noch heute bestehende Grundlage des Wahlrechtes geschaffen, wird weit hinter die Verfassung vom Jahre 1848, ja selbst hinter die vom Monarchen oktroyierte Märzverfassung von 1849 zurückgegriffen; die Beschränkung des Wahlrechtes durch den Zensus wird selbstverständlich aufgenommen, aber auch die Gleichheit des Wahlrechtes wird aufgehoben und die Privilegien der vormärzlichen Stände wieder hergestellt. Die Wahlen in die Landtage geschehen in den Kurien des Großgrundbesitzes, der Handelskammern, der Städte und der Landgemeinden. Um eine „verfassungstreue“ Majorität zu schaffen, werden Wahlkreise von ganz naturwidriger Gestalt herausgeschnitzelt und so für das „Deutschtum“, das heißt für die deutschliberale Bürokratie und Bourgeoisie, eine künstliche Majorität hergestellt.

Der Widerstand der Ungarn gegen die zentralistische Verfassung machte die feudalen Kavaliere stark genug, das Werk Schmerlings zu beseitigen. Im Juli 1865 fiel Schmerling und am 20. September 1865 wurde von Belcredi die Verfassung sistiert. Keine Hand rührte sich zu ihrem Schutz; wer hätte auch für diesen Ausdruck engherzigsten Kastengeistes sich echauffieren sollen? Die „Verfassungstreuen“? Die Bourgeoisie war längst feige geworden und das Proletariat hatte wahrlich keinen Grund dazu.

So gab es wieder einmal keine Reichsvertretung in Österreich, bis die Schlacht bei Königgrätz die Nützlichkeit einer solchen Einrichtung nahelegte. Als dann der Ausgleich mit Ungarn zustande gekommen war, schuf die Dezemberverfassung (Gesetz vom 21. Dezember 1867) den österreichischen Reichsrat, welcher zunächst nichts anderes war als der durch den Verlust der italienischen Provinzen auf 203 Abgeordnete zusammengeschmolzene „engere Reichsrat“ Schmerlings. Der Widerstand der Föderalisten, insbesondere die Abstinenz der Tschechen, legte es nahe, den Reichsrat von den Landtagen unabhängiger zu machen und im Jahre 1873 wurden endlich die direkten Reichsratswahlen eingeführt. Die Zahl der Abgeordneten wurde auf 353 vermehrt, aber die Kurienwahl, das Prinzip der „Interessenvertretung“. wurde unverändert aus den Landtagswahlordnungen herübergenommen. Unberührt blieb dieses Prinzip des österreichischen Wahlunrechtes auch durch die Wahlreform des Jahres 1882, welches für die Größten der Großen, für den böhmischen Fideikommißadel, ein neues Monopol, einen besonderen Wahlkörper schuf und, um diesen Vorgang dem größeren Publikum annehmbar zu machen, den Zensus auf fünf Gulden herabsetzte.

Die „verfassungsmäßige Ära“ in Österreich ist also in ihrer Gesamtheit nichts anderes als eine Periode der Reaktion, welche die Errungenschaften des Jahres 1848 preisgibt. Das verehrliche Bürgertum macht seinen Frieden mit dein hohen Adel zum Schaden der ungeheuren Mehrheit des Volkes, welches rechtlos bleibt.

So sehen wir denn, wie es in Österreich mit dein wichtigsten Rechte des Staatsbürgers aussieht. Das heutige Wahlsystem mit seinem hohen Zensus und mit seinen Gruppen macht aus dein Wahlrecht ein höchst ungleich verteiltes Monopol der Besitzenden. Es beraubt nicht nur zwei Drittel des Volkes aller politischen Rechte, es liefert auch das bevorrechtete Drittel in die Hände von ein paar tausend Großgrundbesitzern, welche faktisch die Herrschenden sind in Österreich. Nicht nur, daß die gesetzlich gewährleistete und traditionell geübte Macht der Krone in Österreich eine so überwiegend große ist, wie in keinem anderen konstitutionellen Lande, muß jedes Gesetz auch noch das Herrenhaus passieren, jenen prompt wirkenden Hemmungsapparat für jede volkstümliche oder auch nur freisinnige Maßregel. Es genügt zu erwähnen, wie das Herrenhaus zusammengesetzt ist, um zu wissen, was es leistet. Das Herrenhaus besteht derzeit (nach einer Feststellung von 1891) aus 21 Erzherzogen, 66 erblichen Pairs und 125 lebenslänglichen Mitgliedern. Daß die erblichen Mitglieder ausschließlich dem Feudaladel angehören, versteht sich von selbst; aber auch unter den lebenslänglichen, also ernannten Mitgliedern des Herrenhauses befinden sich 4 Fürsten, 48 Grafen, 22 kirchliche Würdenträger; den Rest bilden 51 Herren geringeren Ranges (Barone, Generale, Bankiers, Professoren usw.). Da überdies die Zahl der Herrenhausmitglieder unbeschränkt ist, kann jede Regierung eine beliebige Anzahl ernennen und jederzeit die Majorität durch einen „Pairsschub“ in die Minorität verwandeln. Das Herrenhaus bildet also nur eine nochmalige Umschreibung der Macht der Regierung respektive der Krone, welche ja durch Verweigerung der Sanktion stets in der Lage ist, jedes vom Abgeordnetenhaus beschlossene Gesetz am Inslebentreten zu hindern.

Die Gefährlichkeit des Herrenhauses für jeden Fortschritt tritt aber in Österreich sehr wenig hervor, und zwar aus dem höchst einfachen Grunde, weil das Abgeordnetenhaus nicht viel besser ist. In Österreich kann das Herrenhaus das Volkshaus nicht hemmen, weil es kein Volkshaus gibt. Dieselben Elemente, vornehmlich der Großgrundbesitz, welche im Herrenhaus herrschen, haben die Macht im Abgeordnetenhaus, und so ist das angeblich „konstitutionelle“ Österreich tatsächlich eine Ständemonarchie mit parlamentarischem Aufputz.

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Fußnoten

1. 5 fl. C. M. heißt 5 Gulden Konventionsmünze. Der Gulden war damals in sechzig Kreuzer geteilt. Er war etwa 1 Gulden 5 Kreuzer (1 fl. 5 kr.) österreichischer Währung wert, die bekanntlich später eingeführt wurde und bis zur Einführung der Kronenwährung in Österreich bestand.

2. Ernst v. Violand, der bekannte Abgeordnete des österreichischen Reichstages im Jahre 1848, der dann von der Reaktion aus Österreich vertrieben und gleich Kudlich, Goldmark und Fuster steckbrieflich verfolgt wurde. Er schrieb unter anderem das Werk: Die soziale Geschichte der Revolution in Österreich. Er ist im Jahre 1875 in Amerika gestorben.


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020