Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

* * *

Die Verteilung des Wahlrechtes


Das Wahlrecht soll das gleiche sein.

Diese Forderung bedeutet, daß jeder einzelne Wahlberechtigte das gleiche Maß von Einfluß auf die Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers haben soll. Vollständig wird diese Forderung nie, auch bei gesetzlicher Fixierung des gleichen und allgemeinen Wahlrechtes nicht, erreicht werden. Die verschiedene Ausdehnung der Wahlkreise bewirkt, daß in dem einen weit mehr Wahlberechtigte einen Abgeordneten wählen, wie in einem anderen. Und nur eine jedesmalige Richtigstellung der Wahlkreise würde diesem Übel insoweit abhelfen, daß wenigstens kein einschneidender Unterschied bestünde. In Deutschland hat dieser Umstand im Gefolge, daß das Maß des Wahlrechtes sich immer mehr zuungunsten des Proletariats verschiebt. Die großen städtischen Wahlbezirke, die schneller wachsen und in welchen die Zahl der Wahlberechtigten rapid zunimmt, verlieren von Jahr zu Jahr an dem Maße des Wahlrechtes für jeden einzelnen Wähler. Immer mehr Wähler haben nach wie vor einen Abgeordneten zu wählen; im Gegensatz zu den ländlichen Bezirken, deren Bevölkerung abnimmt oder doch in geringerem Grade wächst.

Was wir aber in Österreich an Ungleichheit des Wahlrechtes sehen, ist mit diesen Mißständen, die alle Länder mehr oder weniger aufweisen, nicht zu vergleichen. Die Ungleichheit und Ungerechtigkeit des Wahlrechtes ist das eigentliche Grundgesetz des Staates, sie ist seine Verfassung. Viel mehr noch als die Ausdehnung des Wahlrechtes auf jene zwei Drittel der Bevölkerung, die heute rechtlos sind, wird die Beseitigung der Ungleichheit des Wahlrechtes eine politische Umwälzung in Österreich bedeuten. Das gleiche Wahlrecht fürchten die Privilegierten noch weit mehr als das allgemeine.

Das Abgeordnetenhaus zählt 353 Abgeordnete; davon entfallen Abgeordnete:

auf die Wählerklasse des Großgrundbesitzes

85

auf die Wählerklasse der Handelskammer

21

auf die Wählerklasse der Städte, Märkte und Industrialorte

118

auf die Wählerklasse de Landgemeinden

129

Die Wählerklasse des Großgrundbesitzes umfaßt in den meisten Kronländern den land- oder lehentäflichen Grundbesitz, in Dalmatien die Höchstbesteuerten, in Tirol den adeligen Großgrundbesitz, in Vorarlberg und Triest existiert diese Gruppe überhaupt nicht.

Auch für die Einreihung in diese Wählerklasse gibt es in den verschiedenen Kronländern verschiedene Bedingungen.

Während in Böhmen nur Besitzer landtäflicher Güter, die mindestens 250 Gulden Realsteuern (davon 200 Gulden Grundsteuer) zahlen, genügt in Galizien eine Realsteuer von 100 Gulden, in Görz und Gradiska gar von nur 50 Gulden. Dafür wird der böhmische Grundadel aber auch anders behandelt und schon auf je 19 dieser Fürsten und Grafen entfällt ein Abgeordneter, während sich die 444 Angehörigen des Görzer Großgrundbesitzerpöbels alle zusammen mit einem einzigen Abgeordneten begnügen müssen. Zudem aber hat das Gesetz Zeithammer [1] 1882 bestimmt, daß von den 452 berufenen Großgrundbesitzern Böhmens eine kleine Gruppe der allergrößten auserwählt wurde: der fideikommissarische Großgrundbesitz mit seinen jetzt 45 Mitgliedern wählt für sich allein 5 Abgeordnete; auf 9 Fideikommissare entfällt schon ein Abgeordneter. Als dieser Antrag im Abgeordnetenhaus verhandelt wurde, jammerte der Minoritätsberichterstatter Dr. Herbst [2] von den damals 38 Fideikommißbesitzern Böhmens säßen 25 als erbliche Mitglieder im Herrenhaus, eine weitere Anzahl seien ernannte Herrenhausmitglieder und nun wolle man ihnen noch so eine starke Vertretung im Abgeordnetenhaus geben! Mit Fug und Recht wurde seine Theorie verlacht, welche den Großgrundbesitz nur als „ungeteilte Korporation“ als „historisch berechtigt“ anerkennen wollte. Das Privilegium des Großgrundbesitzes beruht nicht auf „historischem Rechte“, sondern auf historischem Unrecht und auf gehäuftem dazu. Das aber anzuerkennen ist die liberale Bourgeoisie zu feig; sie ist „verfassungstreu“, das heißt untreu den Prinzipien der Gleichheit, untreu den Interessen des Volkes, ja untreu aus Feigheit den Interessen ihrer eigenen Klasse.

Der Großgrundbesitz nimmt also volle 24 Prozent, fast ein Viertel des Abgeordnetenhauses in Anspruch und dadurch entscheidet eine kleine Anzahl von leicht beeinflußbaren Herren über die Majorität des Parlaments. Bald bewerkstelligt, wie 1873, eine Finanzclique, ein „Chabrus“ [3], durch einige Güterkäufe die Verschiebung der Majorität; bald ist es, wie 1889, das Machtwort der Krone, das die paar Dutzend Grundherren veranlaßt, die von oben gewünschte Politik durch die Wahlen zu ermöglichen. „Das Ministerium Taaffe verdankt seine Majorität einer schwachen Stunde des böhmischen Großgrundbesitzes“, erklärte der Abgeordnete v. Plener in der Sitzung vom 14. Dezember 1880. Und trotz der so bezeugten klaren Erkenntnis der Schmach für das Volk Österreichs, ja sogar für die österreichische Bourgeoisie, die er vertritt, ist der Mann noch heute „verfassungstreu“ und zieht es vor, daß die Gesetzgebung und Verwaltung abhänge von der Laune von ein paar Dutzend böhmischer Landlords, als von dem Willen der Mehrheit des Volkes.

In der zweiten Kurie der Handels- und Gewerbekammern besteht wieder der Unterschied, daß die meisten von ihnen ihre Abgeordneten allein wählen, die von Wien, Prag, Reichenberg, Brünn sogar je zwei; die Mitglieder anderer Handelskammern, zum Beispiel Troppau, Laibach, Rovereto, Salzburg, Innsbruck usw., wählen mit den städtischen Wählern, haben also auch ein doppeltes Wahlrecht, welches aber natürlich noch lange nicht so ausschlaggebend ist, wie das der Mitglieder der erstgenannten Handelskammern. Wie wichtig es aber noch immer ist, ergibt sich daraus, daß zum Beispiel bei der letzten Nachwahl in Troppau der gewählte Kandidat nur eine Minorität von den städtischen Wählern bekam, durch die Mitglieder der Handelskammer aber, welche ihr zweites Wahlrecht ausübten, zur Majorität kam. Auch eine Sorte von Pluralvotum!

Die Vertretung der Handels- und Gewerbekammern ist ein besonderes Privilegium für die Großindustrie und das große Geldkapital. Denn diese beherrschen alle Kammern absolut, trotz der Masse der Kleingewerbetreibenden und Kleinkaufleute, welche ihre Wählerschaft bilden. Als Abgeordnete der Handelskammern werden auch häufig nicht Fabrikanten oder Kaufleute, sondern die berufsmäßigen Politiker des Liberalismus, die Verfechter der Kapitalistenklasse gewählt. (Plener, Neuwirth, Dumreicher usw.) Es ist also auch ganz unrichtig, wenn die 21 Mandate der Handelskammern, wie das gewöhnlich geschieht, der Vertretung der städtischen Bevölkerung zugerechnet werden. Sie vertreten vielmehr nur die oberste, reichste Schicht der Bourgeoisie und verhalten sich zur städtischen Bevölkerung ungefähr wie die Vertreter des Großgrundbesitzes zur bäuerlichen Bevölkerung oder, wenn man lieber will, wie der Hecht zum Weißfisch.

Die Wählerschaft der Städte, Märkte und Industrialorte ist heute überall, mit Ausnahme von Triest, abgegrenzt durch die Zugehörigkeit zum ersten oder zweiten Gemeindewahlkörper oder den Steuersatz von wenigstens 5 Gulden. In Triest wählte der erste Wahlkörper, dann der zweite und dritte Wahlkörper und schließlich der vierte Wahlkörper samt den Wahlberechtigten des Gebietes von Triest je einen Abgeordneten.

Daß auch hier große Verschiedenheiten bestehen, ist klar. Neben Riesenbezirken (wie Hernals mit 268.445 Einwohnern und 10.890 Wählern) finden sich Zwergbezirke (zum Beispiel innere Stadt Graz mit 15.604 Einwohnern und 917 Wählern); aber außerdem gibt es eine Anzahl von Wahlbezirken, die das Privilegium haben, nicht einen, sondern mehrere Abgeordnete in einem Wahlgang zu wählen. Die Innere Stadt Wien wählt 4, Linz, Brünn, Krakau und Lemberg je 2 Abgeordnete. Diese Auszeichnung verdanken jene Wählerschaften aber nicht etwa der Zahl ihrer Einwohner oder Wähler (der I. Bezirk Wien rangiert mit 67.029 Einwohnern erst an siebenter Stelle, wenn man die neun alten Bezirke nach der Volkszahl ordnet, und auch die Wählerzahl 8.019 wird nicht nur von Hernals, Sechshaus, sondern auch vom II. Bezirk übertroffen), sondern ausschließlich der Qualität ihrer Wähler. Es ist die wohlhabende Bourgeoisie, die hier zu dem bereits in Form der Handelskammermandate erhaltenen Übergewicht noch ein separates Präsent erhält.

In den Landgemeinden wird das Wahlrecht, welches bekanntlich ein indirektes ist, ebenso durch die 5 Gulden direkter Steuern bestimmt. Auf je 500 Einwohner einer Gemeinde entfällt ein Wahlmann. Eine Ausnahme bildet unter anderem Galizien, und zwar nach zwei Richtungen. Erstens werden die Wahlmänner von einem Wahlkörper gewählt, welcher ganz anders zusammengesetzt ist, und zwar so: Es werden sämtliche Gemeindewähler nach der Höhe ihrer in der Gemeinde gezahlten direkten Steuern, angefangen vom Höchstbesteuerten, aneinandergereiht, und jene Gemeindewähler, welche in die ersten zwei Drittel der gesamten Liste hineinfallen, bilden den Wahlkörper für die Wahlmänner. (In anderen Kronländern gilt diese Bestimmung nur für Gemeinden, die weniger als drei Wahlkörper besitzen.) Zweitens aber haben in Galizien, wie an anderer Stelle ausgeführt wird, die Besitzer

selbständiger Gutsgebiete, die nicht so hoch besteuert sind, um in die Gruppe der Großgrundbesitzer zu gehören, das Recht, gleich als Wahlmänner zu fungieren.

Das indirekte Wahlsystem wollen wir an anderer Stelle näher besprechen; seine Verwerflichkeit ist bereits ziemlich einstimmig anerkannt; nur die „edlen Polen“ weigern sich noch hartnäckig, die Bauern aus ihrer Vormundschaft zu entlassen und die liberale Linke scheint geneigt, ihnen die Möglichkeit der Wahlbeeinflussung auch weiterhin garantieren und erhalten zu wollen.

Die Größe der Landeswahlbezirke variiert zwischen Karolinenthal mit 263.930 Einwohnern und 11.759 Wählern, Stanislau mit gar 300.685 Einwohnern und 26.929 Wählern auf der einen Seite und Callaro mit 33.358 Einwohnern und 3.856 Wählern, Gradiska mit 51.395 Einwohnern und nur 1.386 Wählern auf der anderen Seite.

Dieser in sehr allgemeinen Zügen gehaltenen Darstellung wird man schon zur Genüge entnehmen, wie verwickelt der Weichselzopf der Wahlrechtsbestimmungen Österreichs ist. Und die Zahl der Ausnahmen und Abstrusitäten ließe sich noch bedeutend vermehren, wenn wir auf die künstlichen Abzirkelungen, die sogenannte Wahlkreisgeometrie, eingingen, welche die Schmerlingsche Verfassung erfand, um den „Deutschen“, das heißt der deutsch-liberalen Clique, die Majorität in den Landtagen und dann später im Reichsrat zu verschaffen.

Wichtiger als die einzelnen Bestimmungen sind für uns die Folgen derselben für das Ausmaß des Wahlrechtes für die einzelnen Gruppen der Wählerschaft. Die Intensität des Wahlrechtes, das Maß des politischen Einflusses, den der einzelne Wähler faktisch ausübt, wird bestimmt durch die Zahl der Wähler, auf welche ein Abgeordneter entfällt. Versuchen wir uns hier zunächst einen Gesamtüberblick über die Verhältnisse bei den letzten Wahlen zu verschaffen, so ergibt sich die Tabelle auf nächster Seite, welche für jedes einzelne Kronland zeigt, sowohl wie viele Einwohner als auch wie viele Wähler auf einen Abgeordneten entfallen.

Diese interessante Tafel verdient von den glücklichen Bewohnern der einzelnen Kronländer genau studiert zu werden; sie ist unerschöpflich an den interessantesten Einzelheiten. Wir wollen aber nur die Hauptzahlen für das Reich zusammenstellen und dabei die vier bisher vollzogenen direkten Reichsratswahlen ins Auge fassen:

Ein Abgeordneterentfiel auf Wähler:

 

1868

1879

1885

1891

Großgrundbesitz

       58

       56

       60

       63

Handelskammern

       23

       25

       28

       27

Landwahlbezirk

1.606

1.698

  2.574

  2.592

Stadtwahlbezirk

8.108

8.309

10.454

10.918


Statistik der Reichsratswähler 1891

 

Großgrundbesitz

Handelskammern

Stadtwahlbezirke

Landwahlbezirke

Länder

Zahl der
Abgeordneten

Zahl der Wahl-
berechtigten

1 Abgeordneter
kommt auf
Wahlberechtigte

Zahl der
Abgeordneten

Zahl der Wahl-
berechtigten

1 Abgeordneter
entfällt auf
Wahlberechtigte

Zahl der
Abgeordneten

Zahl der Wahl-
berechtigten

1 Abgeordneter
entfällt auf
Wahlberechtigte

1 Abgeordneter
entfällt auf
Bewohner

Zahl der
Abgeordneten

Zahl der Wahl-
berechtigten

1 Abgeordneter
entfällt auf
Wahlberechtigte

1 Abgeordneter
entfällt auf
Bewohner

Niederösterreich

  8

   219

  26

  2

  48

24

  19

  88.936

4.681

77.461

    8

     96.842

12.105

144.832

Oberösterreich

  3

   134

  44

  1

  34

34

    6

  12.711

2.118

34.072

    7

     57.122

  8.160

  82.228

Salzburg

  1

   260

260

    2

    3.720

1.860

27.171

    2

     10.513

  5.256

  58.79

Steiermark

  4

   209

  52

  2

  64

32

    8

  14.637

1.829

35.418

    9

     81.566

  9.063

110.146

Kärnten

  1

   111

111

  1

  26

26

    3

    3.561

1.187

26.097

    4

     17.740

  4.435

  69.750

Krain

  2

   100

  50

    3

    3.690

1.230

23.202

    5

     37.402

  7.480

  85.417

Triest und Gebiet

  1

  37

37

    3

    7.320

2.440

51.823

Görz und Gradiska

  1

   444

444

    1

    2.788

2.788

54.001

    2

     10.660

  5.330

  82.577

Istrien

  1

   107

107

    1

    7.431

7.431

98.140

    7

     16.253

  8.196

105.420

Tirol

  5

   256

  51

    5

    9.306

1.861

31.645

    8

     43.321

  5.415

  80.823

Vorarlberg

    1

    2.155

2.155

25.296

    2

       9.548

  4.774

  45.172

Böhmen

23

   452

  19

  7

186

26

  32

  92.841

2.901

42.659

  30

   263.460

  8.782

148.125

Mähren

  9

   179

  19

  3

  84

28

  13

  37.352

2.873

40.131

  11

   106.436

  9.675

161.120

Schlesien

  3

     54

  18

    4

    8.555

2.138

33.786

    3

     22.368

  7.456

146.144

Galizien

20

2.177

108

  3

  88

29

  13

  32.838

2.526

37.237

  27

   517.163

19.154

224.826

Bukowina

  3

   152

  50

  1

  16

16

    2

    5.918

2.959

40.925

    3

     48.520

16.173

187.065

Dalmatien

  1

   548

548

    2

    4.741

2.370

25.987

    6

     48.658

  8.109

  78.342

Summe, bzw. Durchschnitt

85

5.402

  63

21

583

27

118

338.500

2.918

44.854

129

1.387.572

10.592

142.754

Hiebei [4] ergibt sich also, daß 63 Großgrundbesitzer denselben politischen Einfluß haben, wie 2.918 städtische Wähler und wie 10.592 Wähler in den Landgemeinden, oder mit anderen Worten: 168 wahlberechtigte Bauern haben so viel politischen Einfluß wie 46 wahlberechtigte Städter oder wie ein einziger Großgrundbesitzer.

In Österreich beherrschen durch diesen Wahlmodus die 5.000 Familien der Großgrundbesitzer nicht nur das Parlament, sondern durch das Parlament die Verwaltung. Zwei Drittel der Bevölkerung sind vollständig ausgeschlossen, von dem privilegierten dritten Drittel aber muß die ungeheure Mehrzahl den Löwenanteil des politischen Einflusses an die Großgrundbesitzer abtreten. Hieraus allein schon kann man ermessen, mit welchem Recht sich die Großgrundbesitzer heutzutage als die Vertreter des kleinen Mannes, als die Vertreter der Bauernschaft aufspielen.

Noch ein Anderes aber ergibt sich aus den beiden letztangeführten Tabellen, wenn man sie daraufhin betrachtet, wie sich die beiden Gruppen von Wählern vor der Erweiterung des Wahlrechtes auf die Fünfguldenmänner und nach derselben zueinander verhalten. Als im Jahre 1883 von Lienbacher namens der Klerikalen und der feudalen Großgrundbesitzer der Antrag auf Erweiterung des Wahlrechtes, auf Herabsetzung des Zensus bis auf fünf Gulden gestellt wurde, da schlugen sich die Antragsteller und Befürworter als Vertreter des Volkes, als Demokraten an die Brust, und noch heute wollen sie mit jener Großtat renommieren. Es ist eine der Hauptanklagen gegen die liberale Partei, daß sie diese Maßregel durch allerlei Ränke zu hintertreiben suchte, und die Feudalen rechnen sich ihre Befürwortung als hohes Verdienst zu.

Wenn nun auch der Vorwurf der Engherzigkeit gegen die Liberalen vollständig mit Recht erhoben wird und sie sich bei dieser Gelegenheit, wie stets, als ganz bornierte Politiker gezeigt haben, so besteht anderseits keinerlei Verdienst auf Seiten jener, welche die Erweiterung des Wahlrechtes durchsetzten. Denn die feudale Gruppe der Großgrundbesitzer hat bei dieser Erweiterung des Wahlrechtes absolut nichts verloren; es war ein Präsent, welches-sie selbst nichts kostete, dagegen alle Aussichten bot. ihnen zu nützen. Die Zahl der Wahlberechtigten hat durch diese Maßregel in den Städten um zirka 100.000, in den Landbezirken um zirka 300.000 Wähler zugenommen. Die Zahl der Abgeordneten der Städte sowie der Landgemeinden wurde aber nicht vermehrt. Der überwiegende Einfluß des Großgrundbesitzes in unserem Parlament ist also dadurch in gar nichts vermindert worden, sondern – es hat sich sein Ausdruck erheblich verschärft. Während bei der Wahl im Jahre 1879 200 Städter und 500 Bauern so viel Wahlrecht hatten wie ein Großgrundbesitzer, hatten bei der Wahl im Jahre 1885 300 Städter und 800 Bauern so viel Wahlrecht als ein Großgrundbesitzer. Die Intensität des Wahlrechtes hat sich durch diese Maßregel zugunsten der Großgrundbesitzer verändert. Zu gewinnen aber war für sie, daß in einzelnen städtischen Wahlbezirken – und ihre Berechnung hat sie nicht getäuscht – die unteren Schichten des Kleinbürgertums gegen die Großbourgeoisie ausgespielt werden konnten. Will man aber vollständig klar werden über die wirklichen Motive jener großherzigen feudalen Reform, dann braucht man nur zu prüfen, wie sich diese Parteien dem Gegenantrag, welchen der Abgeordnete Georg Ritter v. Schönerer einbrachte und der auf das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht abzielte, gegenüber verhielten. Sie stimmten ihn nieder, ohne auch nur den Mund auf zu tun. Und auch der bescheidene Antrag Doktor Kronawetters, das Wahlrecht wenigstens auf alle direkt Steuerzahlenden auszudehnen, wurde von Liberalen und Feudalen in holdem Verein niedergestimmt.

So haben wir denn in Österreich eine „Gleichheit vor dem Gesetz“, welche nicht nur zwei Drittel des Volkes vom Wahlrecht ausschließt, sondern die im Durchschnitt 63 Großgrundbesitzern dasselbe Maß von politischem Recht verleiht, das eine städtische Bevölkerung von 44.854 Einwohnern oder eine ländliche Bevölkerung von 142.754 Einwohnern besitzt. Die 45 Fideikommißbesitzer Böhmens aber wählen fünf Abgeordnete und üben dadurch einen politischen Einfluß aus, der gleich schwer in die Wagschale fällt, wie der, den die Bewohner von fünf böhmischen Landbezirken zusammen, die, wie zum Beispiel Karolinental, Smichow, Raudnitz, Jicin und Pilsen, mit einer Gesamtbevölkerung von 923.814 Bewohnern und mit 50.201 Wählern haben. Mit dieser Tatsache, die zeigt, daß ein einziger hochgeborener Fideikommissar unserer „Verfassung“ so viel gilt, wie 1.115 schwer arbeitende und mit dem Wahlrecht begnadete Bauern, wollen wir unsere Betrachtung über das gleiche Wahlrecht schließen.

*

Fußnoten

1. Da auf die Wahlreform vom Jahre 1883 immer wieder Bezug genommen wird, sei hier kurz ihre Geschichte erzählt: Am 10. Dezember 1880 brachten die Deutschnationalen (nachmaligen Alldeutschen) Schönerer und Fürnkranz sowie die Demokraten Kronawetter und Stendel einen Antrag ein, der das Wahlrecht für jeden 24 Jahre alten Staatsbürger verlangte. Der Antrag war zunächst nicht einmal genügend unterstützt und fand erst auf die Anfrage des Präsidenten die genügende Unterstützung. Ende Jänner 1881 lehnte es das Abgeordnetenhaus ab, den Antrag au einen Ausschuß zu verweisen. Darauf brachte Kronawetter den Antrag ein, jedem Steuerzahler – also auch denen unter zehn Gulden Steuer – das Wahlrecht zu geben und die indirekten Wahlen in den Landgemeinden abzuschaffen. Zum Verständnis sei bemerkt, daß die Wiener Vororte damals noch nicht mit Wien vereinigt, sondern gesonderte Landgemeinden waren. (Die Vereinigung Wiens mit den Vororten erfolgte erst Ende 1890 gegen den Widerstand der Christlichsozialen und namentlich Luegers.) Zur Leopoldstadt (dem zweiten Bezirk) gehörte damals und noch lange nachher auch der heutige zwanzigste Bezirk, die Brigittenau. (Siehe darüber die Bemerkungen beim Artikel Die Liberalen und das allgemeine Wahlrecht in der Arbeiter-Zeitung vorn 31. Oktober 1890.) Zu gleicher Zeit beantragte auch der Klerikale Hofrat Lienbacher das Wahlrecht allen Bürgern zu gehen, die entweder fünf Gulden direkte Steuer zahlen oder nach der Gemeindewahlordnung auch bei geringerer Steuerzahlung wahlberechtigt sind. Am 10. Mai beantragte der Alttscheche Zeithammer, um dem sogenannten verfassungstreuen, das ist zentralistisch gesinnten mit den Deutschen gehenden Adel in der Großgrundbesitzerkurie im konservativen, mit den Tschechen gehenden Adel ein Gegengewicht zu schaffen, die Großgrundbesitzerkurie in Böhmen in eine Gruppe der Fideikommißbesitzcr und in eine der Nichtfideikommißbesitzer zu teilen. Die Nichtfideikommißbesitzer sollten überdies noch in fünf Wahlkreise geteilt werden. Alle Anträge blieben im Ausschuß liegen, bis die Ergänzungswahlen für den böhmischen Großgrundbesitz nahten. Nun erklärte der Ministerpräsident Graf Taaffe, daß er den Antrag Zeithammer akzeptiere, während er sich über den Antrag Lienbacher sehr unbestimmt äußerte. Der Ausschuß beschloß nun die Wahlreform, die den böhmischen Großgrundbesitz teilte und den Fünfguldenmännern das Wahlrecht gab, womit der Einfluß der Konservativen sowohl in der Großgrundbesitzerkurie wie in der Städtekurie gesteigert wurde. Erst dadurch konnten auch die Kleingewerbetreibenden auf die Gesetzgebung Einfluß gewinnen. Die Neuwahlen des Jahres 1885, die zum erstenmal unter dem Fünfguldenzensus stattfanden, brachten den Liberalen einen Verlust von fünfzehn Mandaten. In Wien siegten die Demokraten und auch ein Antisemit. In der Provinz drangen neben klerikalen auch einige radikale Männer durch, so auch Pernerstorfer, Steinwender sowie mehrere Jungtschechen. Auch Lueger wurde damals zum erstenmal – allerdings noch als Demokrat – gewählt. Herbst unterlag in zwei deutschböhmischen Wahlbezirken und mußte eine Wahl im ersten Wiener Bezirk annehmen.

Über die Anträge auf allgemeines Wahlrecht siche weiter unten in der Broschüre selbst.

2. Dr. Eduard Herbst, der Führer der Deutschliberalen, ehemaliger Justizminister im „Bürgerministerium“.

3. Vor den Wahlen zum böhmischen Landtag im Jahre 1872 (bis zum Jahre 1873 wurde der Reichsrat aus den Landtagen gewählt) hatten sich Gesellschaften gebildet, um landtäfliche Güter aufzukaufen, um so Stimmen für die Regierungspartei – damals regierte das „liberale“ Ministerium Adolf Auersperg – zu gewinnen. Diese Gesellschaften nannte man mit einem jüdischen Worte „Chabrus“. Übrigens gab es neben den liberalen „Chabrus“ auch konservative, die wieder Güter für die Konservativen aufkauften.

Bei den Wahlen zum böhmischen Landtag im Jahre 1889 und bei den weiteren Nachwahlen erlitten die Alttschechen eine große Niederlage, so daß die Jungtschechen, die früher nur wenige Mandate hatten, nun die Mehrheit der tschechischen Abgeordneten bildeten. Die Großgrundbesitzerkurie hatte nur Feudale gewählt.

Die Liberalen nannten sich „verfassungstreu“, weil sie für die Verfassung vom Jahre 1867 und gegen das böhmische Staatsrecht waren.

4. Die Gruppe der Handelskammer wollen wir aus dieser Betrachtung vollständig ausscheiden, und zwar darum, weil sie einfach eine Form des indirekten Wahlrechtes ist: die zu einer Handelskammer Wahlberechtigten haben ein doppeltes Wahlrecht für den Reichsrat: eines, welches sie direkt, und eines, welches sie indirekt, auf dem Wege über die Handelskammer ausüben. (v. a.)


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020