Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

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Die indirekten Wahlen in den Landgemeinden


Unserem famosen Wahlsystem genügt es nicht, den Bauern in den Landgemeinden ein so verdünntes Wahlrecht zu erteilen, daß dagegen sogar die städtischen Wähler als sehr bevorzugt erscheinen, die Landbevölkerung wird noch durch ein ganz besonderes Wahlverfahren unter eine spezielle Kuratel gestellt. Sie wählt nicht Abgeordnete, sondern Wahlmänner; es wird ihr nicht die Klugheit zugemutet, zu erkennen, welcher Mann ihr Interesse im Reichsrat vertreten wird, sondern eine doppelte Siebung wird als notwendig erachtet. In jeder Gemeinde wird auf je 500 Einwohner ein Wahlmann gewählt, und erst die Wahlmänner des ganzen Bezirkes haben so viel Grütze zur Verfügung, daß sie würdig erachtet werden, den richtigen Abgeordneten zu finden.

Dieses System ist anerkannt, und zwar von allen Seiten anerkannt, das schlechteste, das sich überhaupt erdenken läßt. Es wagt ernstlich niemand mehr dafür etwas vorzubringen. Nur die polnischen Großgrundbesitzer haben noch die Stirne, dafür einzutreten, unter dem Vorwand, daß ihren Bauern bei der Größe der Wahlbezirke der Weg zum Wahllokal zu weit sei. Das allgemeine Wahlrecht würde auch diesem Übelstand abhelfen, die Wahlbezirke würden bedeutend kleiner und den galizischen Bauern würde es möglich, die Schlachzizen. die ihre Interessen zu Tode vertreten, endlich abzuschütteln. Traurig aber ist es und bezeichnend für die ganze Borniertheit und Feigheit der deutsch-liberalen Partei, daß sie wohl nicht mehr wagt, sich der Beseitigung der indirekten Wahl zu widersetzen, ja sie vielfach in ihrem eigenen Interesse finden muß, den galizischen Landlords aber die Konzession machen will, daß für Galizien und Bukowina diese niederträchtige Institution aufrecht bleibe.

Die indirekte Wahl hat vor allem jenen großen Nachteil, welchem bereits vor vielen Jahren John Stuart Mill in unübertrefflicher Weise Ausdruck gegeben hat. „Durch die Zuteilung der indirekten Wahl wird für die Urwähler einer der Hauptzwecke vereitelt, um deretwillen sie überhaupt ein Wahlrecht besitzen. Die politische Verrichtung, zu der sie dann noch berufen sind, ist nicht mehr geeignet, Geist oder politische Einsicht bei ihnen zu entwickeln, ihr Interesse für öffentliche Angelegenheiten zu erwecken und ihre geistigen Fähigkeiten zu üben.“ In der Tat gibt es kein geeigneteres System als das der indirekten Wahlen, um den Stumpfsinn für öffentliche Fragen aufrechtzuerhalten. Und gerade das wird gewollt. Kein System ist nämlich besser geeignet zu der bei uns beliebten Methode der Wahlmache durch einige Bezirksgrößen und Drahtzieher in den Zentren. Die Gemeindevorsteher in kleinen Orten sind willfährige Marionetten in den Händen der Großgrundbesitzer und Großindustriellen, und in ihrer Hand liegt der Ausfall der Wahlen. Anstatt, daß die großen Interessen des Volkes bei der Entscheidung in den Vordergrund treten, wird die Wahl zu einem Streit um lokale und persönliche Fragen. Machenschaften aller Art, persönliche Bekanntschaft. Freundschaft und erzwungene Gefälligkeit spielen die Hauptrolle. Das geht so weit, daß es selbst in hochentwickelten Wahlbezirken, wie in Böhmen, möglich ist, daß die Urwähler in ihrer großen Mehrzahl gar nicht wissen, daß sie ein Wahlrecht besitzen, daß es vorkommt, daß die guten Leute glauben, sie seien durch das Gesetz verpflichtet, den Gemeindevorsteher, den Sekretär oder etwa gar den Bezirkshauptmann, wenn einer da ist, als Wahlmänner aufzustellen. Man kann sich vorstellen, wie erst die Dinge in Galizien aussehen. Dort bestellt noch eine ganz besondere Bestimmung, die Zeugnis gibt von der Unerschöpflichkeit unserer Wahlordnung an Absurditäten. In den Landbezirken Galiziens haben nämlich die Besitzer selbständiger Gutsgebiete die Begünstigung, ihr Wahlrecht, insofern die Höhe ihrer Steuerleistung nicht ausreicht, um sie in die Wählergruppe des Großgrundbesitzes einzureihen. in den Landgemeinden als Wahlmänner auszuüben; mit anderen Worten, ein solcher mittlerer Großgrundbesitzer übt unmittelbar dasselbe Recht aus. welches 500 Einwohner mit allen möglichen Beschränkungen und Erschwerungen auszuüben haben. Nun meine man aber nicht, daß die Zahl dieser Leute klein ist und daß das keinen Einfluß habe. Bei den Wahlen des Jahres 1885 zum Beispiel betrug die Zahl solcher Wahlmänner 1570 und machte über 10 Prozent der sämtlichen Wahlmänner Galiziens aus. Die Betrachtung der einzelnen Bezirke zeigt, wie einschneidend die Sache ist. Es gibt allerdings Bezirke, wo nur 5 Prozent der Wahlmänner solche „Gutsgebietsbesitzer" sind, wie Przemysl, Jaroslau, Kalusz usw., aber schon im Landbezirk Lemberg bilden sie 9 Prozent der Wahlmänner, im Landbezirk Sandec über 12 Prozent, im Landbezirk Krakau 13 Prozent, im Landbezirk Neu-Sandec 14 Prozent, im Landbezirk Bochnia 26 Prozent aller Wahlmänner. Man kann sich denken, was da aus dem Wahlrecht wird. Es braucht aber gar nicht eines so hohen Prozentsatzes dieser eigentümlichen Wahlmänner, um die Tatsache zu erklären, daß in Galizien jedes Mandat seinen Preis hat, einen Preis, welcher durch Einführung der direkten Wahlen allerdings höher werden würde. Wir meinen zwar, daß die galizischen Abgeordneten auch bei Zahlung eines bedeutend höheren Preises mit ihren Mandaten noch immer ein gutes Geschäft [1] machen würden, aber sie sind so schmutzig, ihn nicht zahlen zu wollen.

Ein weiterer Nachteil der indirekten Wahlen ist, daß die Wahl faktisch keine geheime, sondern eine öffentliche ist. Sagt ja doch die Reichsratswahlordnung selbst, daß die Wahl in den Landgemeinden mündlich oder mit Stimmzetteln stattfinden soll, je nachdem die Gesetze des betreffenden Landes für die Landtagswahlen verfügen. Es gibt also auch eine Anzahl Kronländer, wo die mündliche, also öffentliche Wahl im Gesetz vorgesehen ist, zum Beispiel Kärnten, Kram, Galizien, Bukowina, Mähren, Oberösterreich.

Aber auch wo die Wahl, wie in Böhmen, Niederösterreich usw., gesetzlich eine schriftliche sein soll, ist sie keine geheime, und zwar darum nicht, weil zunächst selbst in Böhmen die Bestimmung der schriftlichen Wahl vielfach umgangen wird und einfach die erschienenen Wähler von dem Herrn Gemeindevorstand mit einer kleinen Ansprache begrüßt werden, welche damit endet: „Ich glaube, wir wählen halt die und die“, worauf mit Akklamation die bewährten Großbauern, welche auch sonst die Geschäfte der Gemeinde in Händen haben, zu Wahlmännern gewählt werden. Aber auch wo die Formalität der schriftlichen Wahl erfüllt wird, bleibt die Wahl nicht geheim, weil die Zahl der Wählenden an dem betreffenden Orte eine sehr geringe ist und sich der als Waldmann Kandidierende die Überzeugung zu verschaffen weiß, ob seine Freunde ihm auch Treue gehalten haben. Die Beeinflussung der Wähler bei der Wahl der Wahlmänner ist eine ganz ungeheure.

Das Wichtigste ist aber, wie gesagt, daß der Wert der Wahl als politisches Bildungsmittel verlorengeht und das Interesse an der Ausübung des Wahlrechtes aufhört. Beweis dafür ist die geringe Wahlbeteiligung, welche die Landgemeinden aufweisen.

Von 100 Wahlberechtigten übten ihr Stimmrecht aus:

im Jahre

1873

1879

1885

1891

Stadtbezirke

60

57

63,5

66,8

Landbezirke

       – [2]

32

30,4

30,9

Wir sehen also, daß im Durchschnitt des ganzen Reiches nicht einmal ein Drittel der Urwähler zur Urne geht, während die direkt wählenden Städtebezirke immerhin eine fast doppelt so große Wahlbeteiligung aufweisen.

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Fußnoten

1. Die politischen Sitten in Galizien, das bekanntlich bis zu den Friedensverträgen zu Österreich gehörte, waren derart, daß die Ausnützung des Mandats zu persönlichen und geschäftlichen Zwecken bei den galizischen Abgeordneten und, nachdem das Wahlrecht ausgedehnt wurde, bei den bürgerlichen und adeligen galizischen Abgeordneten ganz üblich war – was die vielen aufgedeckten Korruptionsaffären bewiesen.

2. Wurde nicht erhoben. (v. a.)


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020