Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

* * *

Das Stimmrecht der Frauen


Das Programm der Sozialdemokratie in allen Ländern verlangt für die Frauen dieselben politischen Rechte wie für die Männer. Eine Begründung dieser Forderung ist eigentlich nicht nötig, ebensowenig wie für die Forderung des allgemeinen Wahlrechtes überhaupt. Zu begründen wäre nur das Gegenteil, der heutige Zustand. Gegen das Stimmrecht der Frauen werden auch dieselben Scheingründe und Lügen vorgebracht wie gegen das Stimmrecht des Proletariats. Die Frau sei nicht reif, die Frau sei nicht selbständig und überdies gehöre die Frau nicht ins politische Leben, sondern an den häuslichen Herd. Die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft aber hat bewirkt, daß der Frau tatsächlich größere Lasten auferlegt werden als den Männern. Millionen von Frauen werden in den Fabriken ausgebeutet – in Österreich zählt man dreieinhalb Millionen erwerbstätige Frauen – andere Millionen haben bei der bloßen Führung ihrer engen Wirtschaft einen Scharfsinn auf-zuwenden, den wir manchem Hofrat wünschen würden. Wenn die Frau reif ist für die Ausbeutung, wenn die Frau reif ist für die Fabrikarbeit, wenn sie reif ist für jede Pflicht, dann muß sie auch reif sein für jedes Recht. Und wären die Frauen politisch unreif, so müßten sie das Wahlrecht erhalten, um reif zu werden. Es wird einer der größten Fortschritte in der politischen Erziehung des Volkes sein, wenn alle Mütter mit dem Wahlrecht auch die Notwendigkeit des politischen Urteils und der Anteilnahme an politischen Interessen gewinnen.

Schließlich sagt man, die Frauen trügen die Blutsteuer nicht, sie würden nicht Soldaten. Aber die Frauen haben eine Pflicht und eine Last zu tragen, die mehr blutige Opfer von ihnen fordert als der Krieg von den Männern. Wieviel Schmerzen, Krankheiten und schließlich wieviel Leben der Geburtsakt kostet, läßt sich kaum ermessen, und das ist eine Bürde, die der Frau allein zukommt.

Wenn wir in Österreich heute die Forderung des Frauenstimmrechtes tatsächlich in zweite Linie stellen, so tun wir es nur darum, weil wir eben in Österreich, in einem rückständigen Lande leben. Nirgends in Europa und nur in einzelnen Staaten Nordamerikas ist bis heute das Frauenstimmrecht durchgesetzt, obwohl eine ganz bedeutende Agitation dafür, insbesondere in England, Frankreich und Deutschland, existiert. Aber wir in Österreich müssen genügsam sein; weit entfernt, von diesem Staat zu verlangen, daß er an der Spitze der Zivilisation marschiere, müssen wir zufrieden sein, wenn er sich nicht im Nachtrab zu sehr verspätet. Wie oft das der Fall ist, zeigt unsere ganze politische Gesetzgebung. Haben aber die Männer das Wahlrecht erkämpft, haben die Frauen redlich mitgeholfen, wie sie es tun werden, dann wird der nächste Schritt die Erlangung des Stimmrechtes für die Frauen sein.


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020