Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

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Dauer der Legislaturperiode


In Österreich werden die Abgeordneten auf sechs Jahre gewählt. Ihre Mandatsdauer ist länger als in irgendeinem anderen Lande, mit Ausnahme von England. In England aber, wo sie sieben Jahre dauert, erreicht sie fast niemals ihr gesetzliches Ende, sondern das Haus wird aufgelöst und Neuwahlen vorgenommen, wenn seine Majorität mit der Regierung, die am Ruder ist, in irgendeinem wichtigen Punkte in Widerspruch gerät. Dieser Fall ereignet sich in Österreich so gut wie nie, weil erstens jede Regierung in der Lage ist, sich ihr Parlament zusammenzusetzen, wie sie es braucht, hauptsächlich durch die Einflußnahme auf die Wahlen im Großgrundbesitz, zweitens aber, weil, wenn das Unmögliche geschieht, daß die Majorität des Hauses mit dem Ministerium in Konflikt gerät, nicht die Regierung zu Kreuze kriecht, sondern das Parlament. Die außerordentliche Länge der Mandatsdauer hat eine Reihe von üblen Wirkungen. Erstens verliert das Wahlrecht um so mehr an Wert, je seltener es ausgeübt wird. Alle reaktionären Parteien wünschen allerdings möglichste Ruhe und verabscheuen nichts so sehr als die Notwendigkeit, an die Urne zu treten. Die Sozialdemokratie ist hingegen immer prinzipiell für höchstens zweijährige Wahlperioden eingetreten, weil sie in der Ausübung des Wahlrechtes in erster Linie ein erzieherisches Mittel des Volkes sieht und weil sie ein Interesse daran hat, daß der politische Schlaf der großen Masse so oft als möglich gestört werde. Aber zweitens ist die lange Mandatsdauer auch eine Beeinträchtigung des Wahlrechtes, welches nichts anderes ist, als ein Ersatz für das dem Volke direkt zustehende Recht, Gesetze zu geben. Abgeordneten aber auf so lange Jahre hinaus ein unwiderrufbares Mandat zu geben, heißt den Volkswillen an eine kleine Zahl von Leuten abtreten und jedem Mißbrauch des Vertrauens Tür und Tor öffnen. Die Erfahrung zeigt auch, daß die Abgeordneten am Ende ihrer Mandatsdauer immer viel gewissenhafter ihre Pflicht zu erfüllen suchen als am Anfang derselben, wo sie sich noch für lange Zeit ihrer Stellung sicher fühlen. Bismarck hat, um sich einen gefügigeren Reichstag zu schaffen ohne das Wahlrecht zu ändern, was er nicht wagte, sein Ziel erreicht, indem er die Mandatsdauer für die Reichstagsmitglieder von drei auf fünf Jahre verlängerte. In Österreich, wo die Parlamente ausleben bis zur Altersschwäche, ist die Forderung nach einer zweijährigen Legislaturperiode mit allem Nachdruck zu erheben.


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020