David Balakan

Die Sozialdemokratie
und das jüdische Proletariat


1. Der moderne Kapitalismus
und die moderne nationale Idee


Dem letzten jahrhundert hat der moderne Kapitalismus seinen Stempel aufgedrückt. Wer die wirtschaftlichen, politischen und geistigen Kämpfe unserer Zeit in ihrem Zusammenhange verstehen, wie nicht minder, wer das Ganze der Judenfrage und die Vorschläge zu ihrer Lösung richtig einschätzen will, muß sich das ständig vor Augen halten.

Einige Hinweise auf die durchgreifende Einwirkung, die der moderne Kapitalismus auf unser ganzes gesellschaftliches Leben ausgeübt, seien gestattet. [1]

Das Ideal des aufkommenden, modernen Kapitalismus war die ungehemmte, wirtschaftliche Konkurrenz freier und gleichberechtigter Menschen. Diesem Ideale diente er mit wahrem Feuereifer. Die ganze damalige Gesellschaftsform gestaltete er nach seinen Bedürfnissen um und setzte an Stelle des absolutistischen Willkürstaates den modernen Rechtsstaat mit Gleichberechtigung aller vor dem Gesetze, mit Sicherheit der Person und des Eigentums. Alle Vorrechte mußten fallen und die bislang Minderberechtigten wurden rechtlich gleichgestellt. Unter den Minderberechtigten im Westen Europas befanden sich auch die Juden.

Der moderne Kapitalismus braucht für seine Warenerzeugnisse einen möglichst großen Markt, sowohl inneren als auch äußeren Markt. Für den inneren Markt kommt die staatliche und sprachliche Einheit in Betracht. Von der Größe und Geschlossenheit des inneren Marktes hängt die Stellung auf dem äußeren Markte, dem Weltmarkte, ab. Und weil der sprachlich einheitliche Staat, der Nationalstaat, in dieser Hinsicht die größten Vorteile bietet, wurde das Jahrhundert des modernen Kapitalismus zum Jahrhundert der modernen nationalen Idee.

Im Westen Europas war dem Streben des modernen Kapitalismus nach Nationalstaaten ganz oder doch sehr erheblich vorgearbeitet worden. Hier hatten sich im Verlaufe langer Zeiträume aus den seßhaft gewordenen Rassen- und Sprachengruppen, die auf ihren Wanderungen vom Schicksal durcheinandergewürfelt worden waren, zufolge der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung sprachlich einheitliche, große Nationen gebildet. Teils fand der moderne Kapitalismus hier auch schon die staatliche Einheit fertig vor (England, Frankreich), teils erübrigte es nur, die staatlich noch nicht verbundenen, aber sprachlich einheitlichen Gebiete zu einem nationalen Einheitsstaate zusammenzuschließen (Italien, Deutschland). Unter dem Schlagworte „Einheit und Größe der Nation“ vollzog sich dieser Zusammenschluß.

Anders lagen die Dinge im Osten Europas. Hier waren die nationalen Verschmelzungen aus denselben in der geschichtlichen Entwicklung liegenden Ursachen, die unter anderem die russische Selbstherrschaft im Herzen Europas bis auf unsere Tage erhalten haben, lange nicht so weit gediehen als im Westen. Wohl fand der moderne Kapitalismus, der, man möchte fast sagen, allzufrüh hier eindrang, große staatliche, aber keineswegs sprachliche Einheiten vor (Österreich, Rußland). Und durch die Verschiebungen innerhalb der Bevölkerung eines Staates, hervorgerufen durch den Zug vom Lande in die Städte, durch die ungeahnte Entwicklung des modernen Verkehrswesens, alles Begleiterscheinungen des modernen Kapitalismus, wurde das sprachliche Durcheinander noch mehr gefördert.

Das Streben nach Beherrschung des inneren Marktes veranlaßte die herrschende, zugleich die wirtschaftlich entwickeltste Nation, eine Erweiterung ihres Sprachgebietes auf Kosten der anderen nationalen Sprachen mit aller Macht anzustreben. Denn die Sprache ist das wichtigste Verkehrsmittel, nicht nur im geistigen Leben als Ideenvermittlung, sondern auch im wirtschaftlichen Leben bei der Warenerzeugung und noch weit mehr beim Warenverkaufe. Für den Handel bedeuten Sprachgrenzen auf dem inneren Markte fast soviel wie Zollschranken.

Unterstützt wurde darin die herrschende Nation von der Staatsgewalt nach Kräften – im vermeintlichen Interesse der staatlichen Machtentfaltung, womit das Vorhandensein einer sprachlich einheitlichen Staatsverwaltung und Heeressprache aufs engste verbunden schien.

Gegen die Entnationalisierung wehrten sich die Angegriffenen unter dem Schlagworte der „nationalen Gleichberechtigung“. Und der moderne Rechtsstaat bot ihnen auch die Mittel, den Angriff auf die nationalen Sprachen zurückzuschlagen. Denn indem der moderne Rechtsstaat das Volk zur Teilnahme an der Gesetzgebung und Verwaltung in Staat, Land und Gemeinde berief, hat er das ganze gesellschaftliche Leben demokratisiert.

Die große Masse ist eine treue Bewahrerin ihres schlichten Volkstums und die bürgerliche Demokratie, die als die Vorkämpferin für die politischen Rechte der breiten Massen sofort zur größten Bedeutung gelangte, mußte national sein. Dieser Umstand machte das Streben nach national-staatlicher Einheit, wo die sprachliche Einheit bereits vorhanden war, zu einer wahren nationalen Volkssache (in Italien und Deutschland). Die politische Demokratie rief aber auch den Widerstand der unterdrückten Nationen erst recht ins Leben und gab ihnen scharfe Waffen in die Hand.

Das letzte Jahrhundert ist auch eine Zeit der allgemeinen Schul- und Volksbildung und das förderte die moderne nationale Idee im höchsten Maße. Der Staat der allgemeinen Rechtsgleichheit, der allgemeinen Wehrpflicht u. s. w. mußte eine gewisse Kulturhöhe der Massen anstreben. Auch für den modernen Kapitalismus war eine gewisse Kulturhöhe der Massen unbedingte Notwendigkeit; sowohl im Hinblicke auf die Gütererzeugung, er braucht intelligente, anstellige Arbeiter, als auch hinsichtlich der Höhe des Warenverbrauches. Die Lebenshaltung der Massen hängt von ihrer Kulturhöhe ab; der unkultivierte Mensch hat gar wenig mehr als die zum Leben unbedingt erforderlichen Bedürfnisse.

Allgemeine Schul- und Volksbildung forderte vor allem die nationale bürgerliche Demokratie, die mit Recht auf das Wachsen ihres Einflusses mit zunehmender Volksbildung rechnete. Sollten die Bemühungen entsprechende Früchte tragen, so mußte die Bildung in der Muttersprache, der nationalen Sprache ins Volk getragen werden. Jetzt erst erwachen die breiten Volksmassen zu kulturellem Leben. Die nationale Literatur dringt in die Massen, die kleineren und wirtschaftlich schwächeren Nationen beschaffen sich freilich erst eine Zeitungsliteratur. Anderseits wird die nationale Literatur durch das Leben und Treiben des urwüchsigen Volkes befruchtet und verjüngt.

Trotzdem die unterdrückten Nationen zu kulturellem Leben erwacht waren, trotzdem sie ihre Kulturfähigkeit für Freund und Feind glänzend erwiesen hatten, hörte doch die nationale Unterdrückung nicht auf und der nationale Kampf nahm immer mehr an Umfang und Heftigkeit zu. Wie mochte es nur so kommen?


Fußnote

1. Ich verweise auf: Karl Kautsky, Der Kampf der Nationalitäten und das Staatsrecht in Österreich, Neue Zeit, 16. Jahrg. Nr. 17 und 18; derselbe, Die Krisis in Österreich, Neue Zeit, 22. Jahrg. Nr. 2 und 3; Dr. Ladislaus Gumplowicz, Nationalismus und Internationalismus im 19. Jahrhundert, Berlin, Verlag „Aufklärung“, 1902.


Zuletzt aktualisiert am 21. April 2009