David Balakan

Die Sozialdemokratie
und das jüdische Proletariat


4. Der westeuropäische Antisemitismus
und der politische Zionismus


Als Gleichberechtigte waren die westlichen Juden in den modernen Rechtsstaat aufgenommen worden. Aller rechtlichen Fesseln ledig, stürzten sie sich kopfüber ins wirtschaftliche Leben. Ihre gewaltsame Zurückdrängung auf den Geld- und Warenhandel, die sie durch Jahrhunderte schmerzlich betroffen hatte, jetzt trug sie goldene Früchte. Sie tobten sich gehörig aus, und indem sie großen Unternehmungsgeist entfalteten, waren sie die schroffsten Vertreter des wirtschaftlichen Liberalismus, des uneingeschränkten, wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes, dem sie in letzter Linie ihre Gleichberechtigung verdankten. Mit Begeisterung schlossen sie, die in geringen Minderheiten vorhanden waren und fast durchwegs zu den Besitzenden gehörten, sich der herrschenden Nation an, in deren Mitte sie lebten, an derem politischen und kulturellen Leben sie fördernd und schaffend lebhaftesten Anteil nahmen. Für den Westjuden existierte keine Judenfrage mehr.

Unsanft genug wurde sie ihm bald vom Antisemitismus in die Ohren gegellt. Und das kam so, weil die wirtschaftliche Entwicklung das Kleinbürgertum arg enttäuschte.

Der moderne Kapitalismus mit seiner Massenproduktion untergräbt immer mehr die Existenz des kleinen Handwerkers; der Kleinkaufmann wird zu Gunsten der großen Warenhäuser immer mehr zurückgedrängt; nicht minder schlimm ergeht es dem Kleinbauer, der nicht in Bezug auf Kredit und Verkauf seiner Produkte genossenschaftlich organisiert ist.

Eine Zeitlang stand das Kleinbürgertum, von seinem Mißgeschicke bewältigt, regungslos da. Bald aber kam Leben in seine Reihen und es machte gegen das Kapital Front. Aber wie? Nun, nach echter Schildbürger Art. In dem Juden schlechtweg, sei er Proletarier, ebenfalls Kleinbürger, Fabrikant oder Bankier, sieht es seinen „natürlichen“ Feind. Wahrlich krampfhaft genug sind seine Bemühungen diese „natürliche“ Feindschaft zu erklären. Der Antisemit redet sich auf die geschäftliche Unreellität der Juden, auf ihr Strebertum aus und mutet ihnen alle nur erdenkbaren Scheußlichkeiten als selbstverständlich zu. Er zeigt aber damit nur, daß ihm die kapitalistische Wirtschaftsform ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist; denn was an dem ganzen antisemitischen Gerede Wahres ist, kann ebenso gut an den Patent-Ariern nachgewiesen werden. Der Antisemitismus ist eben der Sozialismus des „dummen Kerls“.

Je trostloser die wirtschaftliche Lage des Kleinbürgertums wird, um so mehr ist es bemüht, seine Sprößlinge an der Staatskrippe unterzubringen. Darum, weil sie sonst sehr geringe Aussicht zum Fortkommen haben, läßt das Kleinbürgertum seine Söhne in so gewaltiger Zahl studieren, die von Jahr zu Jahr, entsprechend der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, steigt. Die akademische Laufbahn gibt auf die reichlichste Futterversorgung Hoffnung. Darum ist der Kleinbürger wütender Nationalist; denn seinen Söhnen soll nicht von den kleinbürgerlichen Sprößlingen einer anderen Nation das Lakaienbrot genommen werden. Auf der Hochschule und im Leben findet der arische Student in dem jüdischen Kollegen einen oft geistig überlegenen, daher recht lästigen Konkurrenten, den er nach der „Väter frommen Weise“ gerne los werden möchte. Und so waren und sind die Universitäten die Brutnester des überschnappten Nationalismus und des Antisemitismus.

Die Antisemiten sind echte Krämerseelen, deren geistiger Horizont nicht über die eigene Nasenlänge reicht. Vergebens bemühen sie sich, ihren schäbigen Konkurrenzneid im Handel und Gewerbe, in den freien Berufen (Beamte, Advokaten, Ärzte, Schriftsteller u. s. w.) zu „idealisieren“. Im Antisemitismus begegnen sich alle rückschrittlichen Elemente, die ihn für ihre Privat- und Klasseninteressen auszubeuten suchen, um Verwirrung und Verrohung ins notleidende Volk zu tragen, es von dem Kampfe gegen seine wahren Feinde abzulenken. Darin stehen die Junker und Pfaffen, als auch die Feinde der französischen Republik auf derselben Stufe wie die zarische Regierung. Der soziale Antisemitismus ist in seiner Art ein Kind des modernen Kapitalismus:

„Er entspringt der Mißstimmung gewisser bürgerlicher Schichten, die sich durch die kapitalistische Entwicklung bedrückt finden und zum Teil durch diese Entwicklung dem wirtschaftlichen Untergange geweiht sind, aber in Verkennung der eigentlichen Ursache ihrer Lage den Kampf nicht gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem, sondern gegen eine in demselben hervortretende Erscheinung richten, die ihnen im Konkurrenzkampfe unbequem wird: gegen das jüdische Ausbeutertum … Die Ausbeutung der Menschen durch den Menschen ist keine speziell jüdische, sondern eine der bürgerlichen Gesellschaft eigentümliche Erwerbsform, die erst mit dem Untergang der bürgerlichen Gesellschaft endigt.“ [17]

Der Antisemitismus ist im Wesen die Klassenbewegung des untergehenden christlichen Kleinbürgertums, das diesen Prozeß mit untauglichen Mitteln aufhalten will.

„Der Kleinbürger ist der verkörperte Widerspruch, halb Kapitalist, halb Proletarier. Seine Lage ist im heutigen Staate auch widerspruchsvoll insofern, als er politisch naturgemäß Demokrat sein muß, denn nur unter demokratischen Einrichtungen kann er seine Interessen wahren; in einem absolutistisch regierten Gemeinwesen muß er also politisch revolutionär sein. Auf der anderen Seite aber drängen ihn seine ökonomischen Interessen dahin, seine Ideale in der Vergangenheit zu suchen, so daß er ökonomisch naturnotwendig ein Reaktionär ist.“ [18]

Dem Kleinbürgertum fehlt das Zukunftsideal des Proletariates. In seiner Verständnislosigkeit für die wirtschaftliche Entwicklung unserer Zeit strebt das Kleinbürgertum die Unterdrückung des Großbetriebes in der Warenerzeugung und dem Warenverkaufe und das Inslebentreten längst überlebter Formen des Wirtschaftslebens an, die in unsere Zeit hineinpassen wie die Faust aufs Auge.

Über die wahren ökonomischen Ursachen ihrer Bewegung wird man vergebens die antisemitischen Wortführer auf den richtigen Weg leiten wollen. Derselben Erscheinung werden wir bei den politischen Zionisten begegnen. Beiden ist auch der Judenhaß etwas wie ein „ewiges Naturgesetz“. Albern über alles ist der Rassenantisemitismus, da schon im grauen Altertume der Semitismus nicht mehr als sprachliche Verwandtschaft bedeutete. Bezeichnenderweise ist die krummbeinige Judennase gar nicht semitische Rasseneigentümlichkeit, da die heute einzig unverfälschten Semiten, die Wüstenaraber, durchwegs kurze, wenig gebogene Nasen aufweisen.

Der Antisemitismus war der Urheber des jüdischen Nationalismus der Westjuden. Ihr Nationalismus ist ein Protest dagegen, daß ihnen die gesellschaftliche Gleichberechtigung wieder entzogen wurde, daß sie aus der „feinen“ christlichen Gesellschaft hinausfliegen mußten, daß ihnen die Beamten- und Offizierslaufbahn sehr eingeengt wird, daß die jüdischen Bürgersprößlinge trotz ihres „standesgemäßen“ Auftretens aus den Studentenkorps und Burschenschaften hinauskomplimentiert wurden und dgl. m. Die Arier, die bekanntlich außer Gott nichts auf der Welt fürchten, gingen eben in ihrem Konkurrenzneide bis an die Wurzeln des Übels; nicht nur die jüdischen Geschäfte, auch gesellschaftlich muß man die Juden in den großen Bann tun. Das verlangt die „nationale Ehre.“

In Osteuropa (Rußland, Rumänien, Galizien) waren die Judenmassen in der alten Dumpfheit verblieben, von der zarischen Regierung und in dem „konstitutionellen“ Rumänien, dessen politisches Leben vom Gifthauche orientalischer Bestechlichkeit geschwängert ist, unter erniedrigenden Ausnahmsgesetzen gehalten.

Jede Klasse sieht die Welt durch die Brille ihrer Weltanschauung. Und die jüdisch-national gewordenen Westjuden fanden, daß den Juden vor allem eine nationale Heimstätte, ein nationales Wirtschaftsleben fehle und daß nur dadurch der „geistigen“ Judennot im Westen und der materiellen Judennot im Osten mit einem Schlage geholfen werden könne. Einen anderen Ausweg sahen sie nicht, denn im „Golus“, in der „Fremde“ könne den Juden nicht geholfen werden, hier sei auch die jüdische „Kultur“ ein Kind des Todes. Darum müsse der Judenstaat das einzige Streben aller Juden sein. Dort werde man der Assimilation abhelfen, dort die soziale Frage lösen, dort …

Wir kennen den Text, wir kennen die Leier. Alles echt bürgerlich bornierte Auffassung. Der aufmerksame Leser wird nach den früheren Ausführungen schon selbst die Frage beantworten können, ob der Judenstaat für das jüdische Proletariat ein „Weltbedürfnis“ sei.


Fußnoten

17. Bebel, Resolution am Kölner Parteitag (1893), 1. u. 3. Abs., Protokoll, S. 223.

18. Karl Kautsky, Der Kampf der Nationalitäten und das Staatsrecht in Österreich, 1., Neue Zeit, 16. Jahrg. Nr. 17, S. 520.


Zuletzt aktualisiert am 21 April 2009