Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation

§ 12. Kritik der nationalen Werte


Die eigentümliche Erscheinung der nationalen Wertung, die Tatsache, dass wir, was deutsch ist, für gut halten, wie immer es sein mag, und was gut ist, deutsch nennen, um es zu rühmen, entspringt der ursächlichen Verknüpfung des einzelnen Volksgenossen mit seiner Nation. Weil der einzelne das Kind seiner Nation ist. ihr Erzeugnis, deswegen erscheint ihm alle Eigenart seiner Mutternation als gut, ist sie doch seine eigene Art, deswegen vermag er nur mit Überwindung starker Unlustgefühle in sich aufzunehmen, was dieser Eigenart widerstreitet, muss er doch sich selbst umschaffen, umwandeln, wenn er seine nationale Art überwinden will.

Aber der Mensch ist nicht nur ein erkennendes Wesen, das seiner ursächlichen Verknüpfung mit seiner Nation sich bewusst wird, er ist vor allem ein wollendes, handelndes Wesen, das sich Zwecke setzt und zu diesen Zwecken Mittel wählt. Dieser Tatsache entspringt nun eine andere Wertung, die mit jener nationalen Wertung in Widerstreit tritt.

Die Mittel wertet unser Verstand nach ihrer Zweckdienlichkeit: ist zum Beispiel dem Hygieniker die Gesundheit des einzelnen oder der Massen sein Zweck, so gilt ihm alles als wertvoll, was diesen Zweck fördert; strebt der Wirtschaftspolitiker nach möglichster Steigerung der Ergiebigkeit menschlicher Arbeit, so ist ihm alles wertvoll, was die menschliche Arbeit produktiver macht, alles schädlich, was ihre Produktivität mindert. Aber mit der Wertung der Mittel begnügen wir uns nicht; die nächsten Zwecke – die Gesundheit, die Ergiebigkeit der Arbeit – werden selbst einer Wertung unterworfen, ob sie wiederum als Mittel einem obersten Zwecke zu dienen vermögen: diesen Zweck mögen wir verschieden bestimmen – der eine mag in dem höchsten Glück der größtmöglichen Zahl, der andere in der Gemeinschaft freiwollender Menschen das oberste Ideal finden, das ihm zum Maßstabe der Werte wird; ist aber dieses Ideal einmal bestimmt, so wird alles menschliche Wollen darnach als wertvoll oder wertlos beurteilt, als sittlich oder unsittlich gewertet, ob es diesem höchsten Zwecke, dem sittlichen Ideal, als Mittel zu dienen vermag oder nicht.

So gelangen wir zu einer anderen Art der Werte: wertvoll, gut, recht ist uns nun, was zweckdienliches Mittel für einen bestimmten Zweck ist; und der bestimmte Zweck erscheint uns dann wieder als wertvoll, als gut und recht, wenn er seinerseits sich als Mittel einem obersten Zwecke, einem Ideal unterzuordnen vermag. Das ist jene Weise der Wertung, die verstandesgemäßer Wahl der Mittel für einen bestimmten Zweck, vernunftgemäßer Wahl der Zwecke als Mittel des obersten Zweckes, des sittlichen Ideales, entspringt – die Wertungsweise des Rationalismus.

In welchem Verhältnis steht nun diese rationalistische Wertungsweise zu der dem Nationalgefühl entspringenden nationalen Wertung?

Rationalistische Wertung und nationale Wertung können zusammenfallen. Als beispielsweise Lessing seinen Kampf gegen den Einfluss der französischen Kultur auf die deutsche Bildung kämpfte, entsprang dieser Kampf gegen das Franzosentum nationaler Wertung, erschien als ein Kampf um die Erhaltung oder Wiederherstellung nationaler Eigenart. Aber dieser Kampf entsprach auch der rationalistischen Wertung; der Klasse des neuerstandenen deutschen Bürgertums konnte die höfische Kultur der Franzosen nicht entsprechen; sie widersprach in gleicher Weise seinem Ideal des Schönen, wie seinem Ideal des Sittlichen. Wenn die großen Wortführer des deutschen Bürgertums damals deutsche Art gegen fremde Einflüsse verteidigten, so geschah es, weil die deutsche Art ihnen als wertvoller, als höherstehend erschien, weil die deutsche Kultur ihnen ein besseres Mittel für ihren obersten Zweck, für ihr ethisches und ästhetisches Ideal war. So fielen damals rationalistische und nationale Wertung zusammen.

Aber es ist ein historischer Zufall, wenn diese beiden Wertungsweisen zusammenfallen, notwendig ist dies keineswegs. Denn die nationale Eigenart ist ein Erzeugnis des Schicksals der Nation: in dem Schicksal der Nation waltet aber kein vernünftiger Weltgeist, der das Vernünftige zu Seiendem, das Seiende vernünftig macht, sondern die blinde Notwendigkeit des Daseinskampfes. Darum ist es bloßer Zufall, wenn die Eigenschaften, die der Daseinskampf einer Nation angezüchtet und anerzogen, späteren Geschlechtern als wertvoll, als geeignete Mittel für ihre Zwecke erscheinen. So hat beispielsweise eine Reihe schwerer Schicksalsschläge – der Untergang des deutschen Frühkapitalismus und Rückgang des deutschen Bürgertums infolge der Verlegung der Welthandelswege. die Entstehung des absolutistischen Staates, die Unterwerfung der Bauern unter den harten Druck der Gutsherrschaft, die Not des dreißigjährigen Krieges – knechtische Demut zu einer nationalen Eigenart der Deutschen des 17. Jahrhunderts gemacht. Aber späteren Geschlechtern konnte diese Eigenart der deutschen Nation keineswegs als wertvoll, als ein Mittel für ihre Zwecke, das dieser Eigenart entspringende Handeln keineswegs als der Weg zu ihrem Ideal erscheinen.

So brauchen also nationale Wertung und rationalistische Wertung nicht zusammenfallen. Dem Rationalisten, dem als wertvoll nur erscheint, was seinem Zweck, was schließlich seinem obersten Zweck, seinem Ideal, dient, erscheint es einfach als albern, eine Eigenart nicht darnach zu werten, ob sie zweckdienlich, sondern darnach, ob sie national, ob sie Eigenart unserer Nation ist. Darum höhnt er den nationalen Romantiker, der von sich nichts anderes zu rühmen weiß, als dass er ein „guter Deutscher“ ist. So sagt Herder: „Wir klagen über den engen Kreis der Ideen, die im Mittelalter Nation von Nation trennten; bei uns sind gottlob alle Nationalcharaktere ausgelöscht.“ So erscheint Lessing die nationale Wertungsweise als „eine heroische Schwachheit“.

So spottet Heine nationaler Wertung:

Ich bin kein Römling, ich bin kein Slav’,
Ein deutscher Esel bin ich
Gleich meinen Vätern, sie waren so brav,
So pflanzenwüchsig, so sinnig.

O welche Wonne, ein Esel zu sein,
Ein Enkel von solchen Langohren,
Ich möcht’ es von allen Dächern schrei’n.
Ich bin als ein Esel geboren.

Ich bin ein Esel und will getreu
Wie meine Väter, die alten,
An der alten lieben Eselei,
Am Eseltume halten.

Nationale und rationalistische Wertung wurzeln beide im Wesen des Menschen. Jene hat ihren letzten Grund darin, dass der Mensch, mit seiner Nation ursächlich verknüpft, ein Erzeugnis seiner Nation ist. Diese beruht darauf, dass der Mensch ein Zwecke setzendes, ein Mittel wählendes Wesen ist, das in der Form bewussten Handelns sich dem ursächlichen Naturzusammenhang einordnet. Beide Wertungen entspringen dem Wesen des Menschen, beide sind gleich unausrottbar, beide finden sich in Jedem Menschen, kämpfen miteinander in jedem Individuum. Ihre Stärke freilich ist in verschiedenen Individuen verschieden: Menschen, die den Wirkungen der Überlieferung stark unterworfen sind, in denen die überlieferten Vorstellungen starke Gefühle auslösen, bei denen der wählende Verstand der Wirkung des Gefühles nur schwach entgegenzuarbeiten vermag, neigen zu nationaler Wertung. Nüchterne Menschen dagegen, mit starkem Verstand und geringerem Gefühlsreichtum, freie Geister mit starkem Willen, von der Macht der Überlieferung sich zu befreien und selbständig den Weg sich zu wählen, haben für die nationale Wertung kein Verständnis. [1]

Dieser in jedem Menschen wirkende Gegensatz nationaler und rationalistischer Wertung gewinnt nun große soziale Bedeutung dadurch, dass Klassengegensätze und politische Gegensätze sich dieses Widerstreites der Wertungen bemächtigen.

Die nationale Eigenart ist Jederzeit das Erzeugnis der überlieferten Gesellschaftsverfassung. Entstehen nun revolutionäre Bewegungen, welche die bestehende Gesellschaftsordnung umstürzen, durch eine neue ersetzen wollen, so verweisen bald die an der Erhaltung des Bestehenden Interessierten, also die herrschenden und besitzenden Klassen, darauf, dass die nationale Eigenart durch die bestehende Ordnung der Gesellschaft geschaffen und bedingt ist, dass jeder Umsturz ihrer Rechte und ihres Besitzes die überlieferte nationale Eigenart vernichten oder verändern würde. So machen sie die nationale Wertung zu einem Werkzeug ihres Klassenkampfes. Als der Kapitalismus die feudale Gesellschaftsordnung bedrohte, lehrte die Gutsherrenklasse, die feudalen Einrichtungen wurzelten im nationalen „Volksgeiste“; der Kapitalismus sei ein fremdes Gewächs, das die nationale Eigenart vernichten werde, darum sei jeder gute Deutsche verpflichtet, die nationale Rechtseinrichtung der Hörigkeit der Bauern gegen die fremde Einrichtung bürgerlicher Rechtsgleichheit zu schützen. Als die Demokratie ihren Einzug in Mitteleuropa hielt, höhnten sie die Machthaber als ein fremdes – englisches oder französisches – Erzeugnis, das dem Nationalcharakter der Deutschen nicht entspreche und ihn vernichten würde; jeder gute Deutsche sollte daher Absolutismus und Feudalherrschaft stützen. Ähnlich wird heute noch die Freiteilbarkeit der Bauerngüter mit dem Argument bekämpft, sie entstamme dem fremden „heidnisch-römischen Recht“ und wird das Anerbenrecht als deutsche Rechtseinrichtung gefordert.

Die größte Bedeutung hat aber die nationale Wertungsweise als reaktionäres Kampfmittel in Russland gewonnen. .Jede Reform nach westeuropäischem Muster wird dort seit Jahrzehnten von einer Richtung bekämpft, die aus dem Elend und der Unwissenheit des Muschik, aus der Willkür der Beamten, aus der Macht des Zaren und dem Aberglauben der griechischen Kirche ein Gebräu slavisch-nationalen Wesens zusammengebraut hat, das gegen jeden westlichen Einfluss um jeden Preis behütet werden müsse. Seit Jahrzehnten kämpft dort die Slavjanophilie in verschiedenen Gestalten gegen die Zapadniki; sie lebt heute noch in manchem Zweige der russischen Literatur, in manchem politischen Gedanken und hat zeitweilig selbst auf die reformistischen und revolutionären Parteien eingewirkt.

Wenn aber alle um ihre Herrschaft und um ihren Besitz fürchtenden Klassen die nationale Eigenart erhalten wollen, die nationalen Werte zu schätzen vorgeben, so sind dagegen alle aufstrebenden Klassen, die die Macht in der Gesellschaft sich erst erkämpfen müssen, rationalistisch. Denn alles historisch Überkommene schätzen sie nicht, ist es doch der Angriffspunkt ihres Kampfes. So ist auch die nationale Eigenart für sie nichts als die Eigenart der Klassen, die die Nation beherrschen und ausbeuten; so sind die nationalen Einrichtungen, die angeblich allein dem Nationalcharakter entsprechen und seine Erhaltung ermöglichen, für sie die Bollwerke der Herrschaft und Ausbeutung der ihnen feindlichen Klassen. Welche Verachtung hatten die deutschen Demokraten vor 1848 für das Gerede jener, die die unerträglichen politischen und gesellschaftlichen Zustände Deutschlands als Ausfluss des „christlich-germanischen Volksgeistes“ rechtfertigen wollten, für die national-historische Schule, „eine Schule, welche die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, eine Schule, die jeden Schrei des Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist“. [2] Ist die nationale Wertung allen konservativen Klassen lieb und teuer, so ist dagegen die Wertung aller revolutionären Klassen rationalistisch.

Das gilt auch von der heutigen Arbeiterklasse. Sie ist ja nach dem Worte des jungen Marx

„... eine Klasse mit radikalen Ketten, eine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, ein Stand, welcher die Auflösung aller Stände ist, eine Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besonderes Recht in Anspruch nimmt, weil kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatze zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, eine Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Worte der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“ [3]

Weil die Arbeiterklasse noch keine Klasse der Nation ist, so ist sie auch keine nationale Klasse mehr. Ausgeschlossen vom Genuss der Kulturgüter, sind ihr diese Kulturgüter fremder Besitz. Wo andere die glänzende Geschichte der nationalen Kultur sehen, sieht sie das Elend und die Knechtschaft derer, auf deren breiten Schultern seit dem Untergange des alten Sippschaftskommunismus alle nationale Kultur geruht. Nicht in der Erhaltung der nationalen Eigenart, sondern in dem Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsverfassung, der sie erst zum Gliede der Nation machen kann, sieht sie ihr Ideal. Darum legt sie an alles, was nur historisch überliefert ist, das Messer ihrer Kritik. Darum ist ihr nichts wertvoll, weil es überkommen ist, sondern es muss erst seinen Wert erweisen daran, dass es ihrem Klassenkampfe dient. Darum lacht sie aller derer, die ihren Klassenkampf damit bekämpfen wollen, dass er der Eigenart der Nation widerstreite, da doch erst ihr Klassenkampf sie zum Gliede dieser Nation machen kann. Da die nationalen Kulturgüter nicht Kulturgüter des Proletariats sind, so ist auch die nationale Wertung nicht proletarische Wertung. Dass die Arbeiterklasse ausgeschlossen ist von der nationalen Kultur, das ist ihre Qual, aber darin wurzelt auch ihre Würde. Ihre Großväter hat einst der Gutsherr von Haus und Hof verjagt, um sein Herrenland zu erweitern; ihre Väter mussten das Bauerndorf verlassen, in dem ihre Ahnen seit Jahrhunderten, vielleicht seitdem die Nation sesshaft geworden, gelebt, und wurden so entwurzelt, herausgerissen aus aller Überlieferung; sie selbst sind preisgegeben den wechselnden Einflüssen der Großstadt, hineingezogen in alle Strömungen des Tages, hin und her geworfen durch alle Landesteile, durch das Spiel der Konjunktur. So ist die Arbeiterklasse wurzellos geworden; freier von der lähmenden Macht alles Überlieferten als jemals eine Klasse vor ihr. So ist sie gleichsam zur Verkörperung des Rationalismus geworden, der nichts mehr heilig ist, weil es alt, weil es überliefert, weil es gewöhnt ist, sondern die, alles bloß überlieferte von sich weisend, keinen anderen Maßstab kennt als den Zweck, für den sie kämpft, die Mittel, die sie für diesen Zweck wählen muss. Alles Neue ist ihr willkommen; aus allem Neuen und Fremden wählt sie, was ihr geeignet erscheint; die überlieferte nationale Eigenart erscheint ihr als nichts, als eine überwundene Beschränktheit. Aus Deutschland holt sich der russische Arbeiter seine Ideale, von Belgiern und Russen lernt der Deutsche neue Kampfmethoden, den Engländer ahmt er in der Gewerkschaft, den Franzosen im politischen Kampfe nach; jede neue Strömung weckt sofort seine Aufmerksamkeit – ja oft ist er geneigt, sie zu überschätzen, gerade weil sie neu, unerhört, ungewohnt ist, gerade weil sie dem widerstreitet, was den anderen nationaler Kulturbesitz und nationale Eigenart bedeutet. Es gibt keine Klasse, die innerlich von aller nationalen Wertung voller befreit wäre als das von aller Tradition durch die zerrüttende, zerstörende Macht des Kapitalismus befreite, vom Genuss der nationalen Kulturgüter ausgeschlossene, im Kampfe gegen alle geschichtlich überlieferten Mächte emporkommende Proletariat. [4]

Je mehr aber das Proletariat rationalistisch wird, desto mehr wird die nationale Wertung bei seinem unmittelbaren Gegner, bei der Bourgeoisie, beliebt; freilich klingt gerade im Munde der Kapitalisten diese Wertung sonderbar. Ist es doch das Kapital, dessen Wirksamkeit die überlieferte nationale Eigenart aller Nationen vernichtet, jede Nation in ihrem ganzen Wesen verändert hat. Solange die Bourgeoisie jung war, war auch ihr die nationale Wertung fremd; damals verachtete sie die überlieferten Trümmer der Geschichte und träumte von dem Gesellschaftsgebäude, das sie aufbauen würde nach dem Plane ihrer eigenen Klassenvernunft. Aber je mehr das Proletariat an Macht gegenüber der Bourgeoisie gewinnt, desto sympathischer wird ihr, wie aller Historismus, auch die nationale Wertungsweise.

Der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie ist ein Kampf um das Eigentum. Das Sondereigentum diente einst in längst vergangener Zeit der Forderung: jedem das, was er selbst sich erarbeitet hat. In der kapitalistischen Werkstätte hat es sein Wesen gewandelt und bedeutet jetzt: dem Herrn das Erzeugnis der Arbeit der anderen. Aber selbst hier verlor es noch nicht allen Sinn. War doch mit dem Eigentum an Arbeitsmitteln nicht nur der Anspruch auf den Mehrwert, sondern eine gesellschaftliche Funktion, die der Leitung der Produktion, verbunden. Immer mehr aber spaltet sich auch diese Funktion vom Eigentum ab: in der Aktiengesellschaft, im Kartell, im Trust, in der Organisation unseres Bankwesens verliert der Eigentümer alle gesellschaftliche Funktion, hat er keinen Teil mehr an der Arbeitsleitung und übrig bleibt ihm nichts anderes als der Anspruch auf den Ertrag fremder Arbeit. So hat das Eigentum sein Wesen völlig verkehrt: Einst bedeutete es, dass der Arbeiter im Besitz des Arbeitsproduktes geschützt wird; heute bedeutet es nichts als einen Anspruch auf fremde Arbeit, ist zum reinen Ausbeutungstitel geworden. Nicht mehr auf eine gesellschaftliche Funktion, auf einen Dienst, den er der Gesellschaft leistet, kann sich der Eigentümer berufen, sondern nur noch auf die bloße Tatsache, dass er sein Eigentum ererbt hat, dass sein Eigentum ein Erzeugnis geschichtlicher Entwicklung ist. Er hat keinen anderen Rechtstitel mehr als den historischen.

Die junge Bourgeoisie bekämpfte die überlieferten Staatseinrichtungen; die alte Bourgeoisie fürchtet die Demokratie und klammert sich an die Monarchie und Bürokratie als an ihre Bundesgenossen im Kampfe gegen das Proletariat. Die junge Bourgeoisie konstruierte den „Vernunftstaat“; die altgewordene Bourgeoisie verteidigt das historische Recht der Monarchie.

So schätzt die Bougeoisie heute alles historisch Überlieferte, weil sie ihre eigene Herrschaft nur noch historischer Überlieferung dankt; und weil sie alles Historische schätzt, so schätzt sie auch das Historische in uns selbst, die Nationalität. So wird sie immer mehr zur Verteidigerin der nationalen Eigenart, passt sich immer mehr nationaler Wertung an, glaubt sie doch die überlieferte Verfassung der Gesellschaft damit verteidigen zu können, dass sie nationaler Eigenart entsprungen ist und die nationale Eigenart ihrer zu ihrer Erhaltung bedarf. Es ist kein Zufall, dass heute bürgerliche Theoretiker sich wieder bemühen, die Erhaltung nationaler Eigenart zur sittlichen Pflicht zu machen; dass der nationale Spiritualismus wieder seine Auferstehung feiert; dass in der Rechtswissenschaft und in der Nationalökonomie die historische Schule an unseren Universitäten herrscht; dass unsere Romanliteratur und unsere Kunst die nationale Sonderart entdeckt.

Nationale Wertung und rationalistische Wertung entspringen verschiedenen Seiten des menschlichen Wesens, entstehen notwendig in Jedem Menschen, liegen in jedem einzelnen von uns miteinander im Streit. Aber dieser innere Gegensatz in uns wird durch den Klassenkampf zu einem äußeren Gegensatz in der Gesellschaft. Immer mehr und mehr wird die nationale Wertung die Wertungsweise der herrschenden und besitzenden Klassen, die rationalistische Wertung die Wertungsweise der Arbeiterklasse. Verschiedenen Werten entspringt auch verschiedene Politik.

Fußnoten

1. Die nationale Wertung entspringt dem Nationalgefühl; sie lässt sich psychologisch erklären, aber nicht philosophisch rechtfertigen. Trotzdem ist in jüngster Zeit der Versuch einer philosophischen Begründung der nationalen Wertung gemacht worden, und zwar von Heinrich Rickert in seiner bekannten Schrift über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen 1902. Rickert sucht in dieser Schrift zunächst eine individualistische Ethik zu begründen. Er ersetzt die bekannte Formel des Kantschen kategorischen Imperativs durch den Satz:

„Du sollst, wenn du gut handeln willst, durch deine Individualität an der individuellen Stelle der Wirklichkeit, an der du stehst, das ausführen, was nur du ausführen kannst, da kein anderer in der überall individuellen Welt genau dieselbe Aufgabe hat wie du, und du sollst dein ganzes Leben ferner so gestalten, dass es sich zu einer teleologischen Entwicklung zusammenschließt, die in ihrer Totalität als die Erfüllung deiner selbst sich niemals wiederholenden Lebensaufgabe angesehen werden kann.“ (S.716f.)

Dieser individualistischen Ethik gibt nun Rickert selbst auch eine nationale Deutung. Denn unter Individuum versteht er nicht nur den konkreten einzelnen Menschen, sondern auch die konkrete Individuengemeinschaft, die Nation. Jede Nation hat eine individuelle Aufgabe und die Erfüllung dieser Aufgabe, die Herausarbeitung der nationalen Eigenart, ist sittliche Pflicht. (S.722) Dieser Versuch der Begründung einer individualistischen und zugleich nationalen Ethik ist sehr interessant, weil er uns die geschichtlichen Wurzeln der heutigen Bewegung in der Philosophie deutlich erkennen lässt. Eine eingehende Kritik dieser Ethik ist hier nicht möglich, nach der Kritik ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen durch Münsterberg und M. Adler vielleicht auch nicht mehr notwendig. Ich möchte nur kurz darauf verweisen, dass sich Rickerts Gedankengang ganz offenbar im Kreise bewegt. Rickert gelangt nämlich zu seiner individualistischen Ethik durch die Erkenntnis, dass der handelnde Mensch niemals bloß als Exemplar des Gattungsmenschen, sondern immer als Individuum unter individuellen Bedingungen handelt, und glaubt daraus den Schluss ziehen zu dürfen, dass das Gesetz des sittlichen Handelns nicht von dem Gattungsbegriff des Menschen, sondern von dem geschichtlichen Begriff des Individuums auszugehen hat. Nun hat aber das Wort Individuum bei Rickert nicht denselben Sinn, in dem wir es gewöhnlich gebrauchen. Unter dem historischen Individuum versteht nämlich Rickert das, was uns nicht als Gattungsexemplar wichtig ist – wie zum Beispiel irgend ein beliebiges Stück zum Heizen verwendbarer Kohle – sondern in seiner Einzigartigkeit wertvoll ist – wie zum Beispiel der Diamant Cohi-noor. Nicht das ist ihm ein In–dividuum, was nicht geteilt werden kann, sondern das, was wegen seines Wertes nicht geteilt werden soll. Darnach hat also die Nation nicht darum schon eine historische Individualität, weil sie überhaupt eine Eigenart hat. die sie von anderen scheidet, sondern erst dadurch, dass sie eine wertvolle Eigenart hat. Der Satz: Jeder soll seine Individualität erhalten und entwickeln, bedeutet also nicht: Jeder soll seine Sonderart, wie immer sie sein mag, entwickeln, sondern nur das an seiner Eigenart, was wertvoll ist. Was aber ist wertvoll? Macht erst das Wertvolle die Eigenart zur historischen Individualität, so kann der Maßstab des Wertvollen nicht in der Individualität selbst, sondern nur im Überindividuellen, im Allgemein-Menschlichen liegen. Die Nation soll ihre Eigenart erhalten. Aber Eigenart ist nur das, was die Nation erhalten soll, was wertvoll ist. Was aber ist wertvoll? So fordert auch Rickerts Gesetz schließlich einen objektiven Maßstab der Werte, der die Sonderart erst zur Individualität macht und darum aller Individualität vorausgeht. So widerlegt Rickert sich selbst. Nimmt man in dem Satz: Jede Nation soll ihre Individualität erhalten und entwickeln, das Wort Individualität im Sinne Rickerts, so ist der Satz eine leere Tautologie: Jeder soll das erhalten, was erhaltenswert ist. Was aber ist wert, erhalten zu werden?

2. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“. In Mehrings Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, Stuttgart 1902. I., S.386.

3. Marx, ebenda, S.397.

4. Vielleicht überrascht es manchen, dass ich das Proletariat die Verkörperung des Rationalismus nenne, da doch die Theorie des Proletariats, der Marxismus, gerade dem Rationalismus in der Gesellschaftswissenschaft entgegengetreten ist. uns erst recht alles, was da ist, in seiner geschichtlichen Bedingtheit verstehen gelehrt hat. Indessen gilt es hier genau zu unterscheiden: Marx hat die Wissenschaft gelehrt, das Bestehende und das Werdende in seiner geschichtlichen Abhängigkeit, Bedingtheit zu begreifen. Aber er hat nicht das Überlieferte darum der rationalistischen Kritik entzogen, es zu rechtfertigen geglaubt, weil er es als geschichtlich entstanden erwiesen. Diesen Unfug der „historischen Rechtsschule“ hat niemand schärfer bekämpft als er! Gerade Marx hat uns vielmehr den proletarischen Rationalismus historisch, in seinem Entstehen verstehen gelehrt!


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008