Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation


§ 13. Nationale Politik


Es ist eine der wichtigsten unserer Aufgaben, die verschiedenen Willensrichtungen, die unter dem Schlagwort der nationalen Politik zusammengefasst und miteinander vermengt werden, streng zu sondern. Diese Arbeit muss schon hier, noch ehe von dem Verhältnis der Nation zum Staat die Rede ist, beginnen.

Der Wertung entspringt ein Wille. Halte ich die nationale Eigenart, wie immer sie beschaffen sein mag, für wertvoll, so entspringt daraus der Wille, die nationale Eigenart zu erhalten. Nationale Wertung gebiert also nationale Politik, das heißt hier planmäßiges Zusammenwirken zu dem Zwecke, die nationale Eigenart zu erhalten. Wir können diese nationale Politik, um sie von anderen Willensrichtungen, die gleichfalls als nationale Politik bezeichnet weiden, zu unterscheiden, als konservativ-nationale Politik bezeichnen. Es ist eine konservative Politik, weil sie die nationale Eigenart, wie sie ist, erhalten will. Es ist eine konservative Politik aber auch in dem Sinne, dass sie fast immer die Politik der herrschenden und besitzenden Klassen, der an der Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung interessierten, also konservativen Klassen ist.

Zwischen nationaler Eigenart und Gesellschaftsverfassung besteht ein enger Zusammenhang. Einerseits nämlich schafft sich jede Gesellschaftsverfassung eine bestimmte psychische Verfassung der Nation: die nationale Eigenart einer kapitalistischen Nation ist wesentlich anders als die einer feudalen. Andererseits aber ist die Erhaltung einer bestimmten nationalen Eigenart auch Voraussetzung einer bestimmten Gesellschaftsverfassung: so ist eine bestimmte geistige Verfassung der Massen Voraussetzung der absolutistisch-bürokratischen Herrschaft, die unmöglich weiter bestehen kann, wenn diese Seelenverfassung der Nation sich verändert (wodurch immer diese Veränderung herbeigeführt sein mag). Die Klassen, die an der bestehenden Gesellschaftsverfassung interessiert sind, müssen also die nationale Eigenart zu erhalten suchen, weil sie Voraussetzung ihrer Macht in der Gesellschaft ist; sie erklären, dass sie ihre Macht, die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen erhalten wollen, weil dadurch allein die für wertvoll gehaltene nationale Eigenart erhalten werden kann. Die Bourgeoisie will den Knechtessinn, die „verdammte Bedürfnislosigkeit“, die demütige fatalistische Ergebung der Arbeiter in ihr Elend erhalten, weil dadurch die Möglichkeit der Ausbeutung gesichert wird; sie gibt aber vor, ihre Herrschaft über den Arbeiter erhalten zu wollen, weil dadurch die angeblichen Tugenden der Bedürfnislosigkeit, der Frömmigkeit, das „patriarchalische Verhältnis“ zwischen „Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ erhalten werden. Das ist die innere Lüge konservativ-nationaler Politik: sie gibt vor, die gesellschaftlichen Einrichtungen erhalten zu wollen am der nationalen Eigenart willen; in Wirklichkeit will sie die nationale Eigenart erhalten, um sich im Genüsse der gesellschaftlichen Einrichtungen, im Genüsse ihrer Macht, im Genüsse der Ausbeutung zu sichern.

Kann aber die Nation dieses Streben nach Erhaltung ihrer Eigenart überhaupt entbehren? Ist es nicht für sie, was der Selbsterhaltungstrieb für jedes Lebewesen ist? Bedroht nicht der kulturelle Kosmopolitismus, der, statt die nationale Eigenart zu erhalten, von allen Nationen das Wertvolle lernen und für die eigene Nation erwerben will, das nationale Sonderdasein mit dem Untergang? Will er die Menschheit nicht in einem eintönigen Brei zugrunde gehen lassen, in dem alle nationale Mannigfaltigkeit verschwindet?

Gegen diese Meinung haben wir uns schon wiederholt auf unsere Beobachtung der nationalen Apperzeption berufen. Wir wissen, dass die Nation im Laufe der Jahrhunderte Kulturelemente von den verschiedensten Nationen aufgenommen hat. Die alten Germanen standen zuerst unter dem starken Einflüsse der höher entwickelten keltischen, später unter der Einwirkung der römischen Kultur. Das Christentum führte ihnen orientalische, griechische und römische Kulturelemente zu. Im Zeitalter der Grundherrschaft war insbesondere der südfranzösische Kultureinfluss außerordentlich stark; dazu gesellten sich im Zeitalter der Kreuzzüge italienische und orientalische Einwirkungen. Mit der kapitalistischen Warenproduktion wirkt der italienische Humanismus und die italienische Renaissance auf Deutschland ein. Die folgenden Jahrhunderte sehen wieder starken französischen Einfluss. Das wiedererwachende Bürgertum steht unter dem Einflüsse der antiken Kultur, französischer, englischer, niederländischer Wissenschaft und Kunst. Das 19. Jahrhundert gar lässt die verschiedensten Nationen, selbst Nationen fremder Erdteile, unseren Kulturreichtum vermehren. Und trotz alldem ist von dem Verschwinden nationaler Eigenart gar keine Rede! Dies erklärt die nationale Apperzeption: keine Nation nimmt fremde Elemente unverändert auf; Jede passt sie ihrem ganzen Sein. an. unterwirft sie im Prozesse der Aufnahme, der geistigen Verdauung, einer Veränderung. Französische Kulturelemente wurden von den Deutschen wie von den Engländern aufgenommen. Aber die französischen Kulturelemente wurden etwas ganz anderes in den Köpfen der Engländer als in den Köpfen der Deutschen. Ausgleichung der materiellen Kulturinhalte bedeutet durchaus nicht Beseitigung der nationalen Sonderart. Niemals war das Bewusstsein der Eigenart der Nation deutlicher als gerade in unseren Tagen, obwohl zweifellos heute jede Nation viel mehr und viel schneller von den anderen Nationen lernt als jemals vorher.

Aber auch ganz abgesehen von fremden Einflüssen unterliegt die nationale Eigenart fortwährenden Veränderungen, ohne dass die Nation darum jemals aufhören würde, eine von allen anderen Nationen verschiedene Charaktergemeinschaft zu sein. Welche ungeheure Umwälzung hat beispielsweise das iq. Jahrhundert in der nationalen Eigenart des deutschen Volkes hervorgerufen! Wir wollen hier nur eine Seite dieser vielfachen Veränderungen hervorheben.

Als in den Ländern des Westens die großen Schlachten im Klassenkampfe des Bürgertums gegen den absolutistischen Staat und die Gutsherrenklasse geschlagen wurden, während in Deutschland noch die Rückständigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung und politischer Druck das Bürgertum niederhielt, sagte Frau v. Staël einmal, wer sich in Deutschland nicht um den ganzen Erdkreis bekümmere, der habe dort nichts zu tun. Die deutsche Intelligenz nahm damals das ganze Wissen ihrer Zeit in sich auf: die in Holland, England und Frankreich ausgebildete moderne Naturwissenschaft, die französische und englische Staatslehre, die auf dem Boden beider Zweige der Wissenschaft erwachsene Philosophie wurden in Deutschland aufgenommen. Aber die von den Nationen des Westens übernommenen Begriffe wurden damals in deutschen Landen ganz anders verarbeitet als in Frankreich oder England. Denn hier lenkte nicht der unmittelbare Klassenkampf, der in Deutschland noch nicht möglich war, die Augen von den Prinzipien ab; hier zwang nicht, wie frühzeitig in England, nach der Revolution auch in Frankreich, die Notwendigkeit praktischer Verwertung zu Kompromissen der Idee mit der Wirklichkeit. So wurde Deutschland das klassische Land, in dem die Prinzipien durchdacht, die Deduktionen aus ihnen zu Ende gedacht werden. Auf solcher Grundlage erwuchs unsere Philosophie, erwuchs jener folgerichtige Rationalismus, der auch die geringste Handlung nicht anders rechtfertigen zu können meinte, als wenn er sie einem großen System der Zwecke einzuordnen vermochte. Nur in Deutschland konnte ein Vischer sagen, er könne sich nicht denken, wie ein Mann Politik treiben könnte, ohne Hegels Logik studiert und durchdacht zu haben. Und diese Denkweise blieb nicht auf die schmale Schicht der Intelligenz beschränkt; in verdünnter Form drang sie in breite Massen hinein, der Schullehrer, der Pfarrer, die Zeitung, die Anfänge politischer Agitation machten diese Gesinnung allmählich auch zur Denkweise der Massen. „Sichtbar und, wie ich glaube, allgemein zugestanden,“ sagt Fichte, „ging ja alles Regen und Streben der Zeit darauf, die dunklen Gefühle zu verbannen und allein der Klarheit und der Erkenntnis die Herrschaft zu verschaffen.“ Man kann die Revolution von 1848 nicht verstehen, wenn man diese nationale Eigenart der Deutschen jener Zeit nicht beachtet. Heute noch lebt ein Stück jener Denkweise in den deutschen Arbeitern; sie rechtfertigt Engels’ bekanntes Wort, die deutschen Arbeiter seien die Erben der deutschen klassischen Philosophie, die deutschen Sozialisten die Nachkommen von Kant, Fichte und Hegel.

Aber der Kapitalismus und die von Junkern und Bourgeois beherrschte konstitutionelle Monarchie hat diese ganze Eigenart des deutschen Volkes völlig verändert. Ein öder Empirismus und Historismus, die Lust an wertloser Einzelforschung, die Anbetung des Erfolges, jene Realpolitik, die nach einem Worte von Marx für Realität hält, was ihr zunächst vor der Nase liegt, kennzeichnet die geistige Kultur des heutigen Deutschland. Bourgeoiser Rationalismus ist nicht mehr möglich, proletarischen Rationalismus verbietet die Bourgeoisie durch das Mittel des von ihr beherrschten Staates, der jeden Mann von „verdächtiger Gesinnung“ von aller praktischen Wirksamkeit auszuschließen sucht. Geistesverwandt mit der akademischen Jugend unserer Dreißiger- und Vierzigerjahre ist heute nicht die deutsche, sondern die russische Intelligenz. Und auch diese Wandlung der nationalen Eigenart blieb keineswegs auf die akademisch gebildete Oberschichte beschränkt; auch der neue Geist sickert durch viele Kanäle in die breiten Massen hinein. Der Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie ist sein Kind: er entspringt jener Abkehr von allen „unpraktischen“ Prinzipien, jener Opportunitätspolitik, die den alten Rationalismus verdrängt hat, jener Gesinnung, die ihr Handeln nicht mehr als Mittel zu einem theoretisch als richtig erkannten obersten Zweck, sondern nur noch durch den unmittelbar sichtbaren, wenn auch noch so kleinen Erfolg rechtfertigen zu können glaubt.

So gewaltig wälzen wenige Jahrzehnte kapitalistischer Entwicklung die nationale Eigenart des Volkes um. Aber hat darum das deutsche Volk keine nationale Eigenart mehr? Sind die Deutschen darum Engländer oder Amerikaner geworden? Veränderung der nationalen Eigenart bedeutet keineswegs Preisgabe nationaler Eigenart.

Aus dieser Erkenntnis ergibt sich nun die Idee einer anderen nationalen Politik. Wir müssen nicht dafür sorgen, dass die künftigen Generationen den lebenden gleichen, sondern dafür, dass auch unsere Nachkommen, durch die Gharaktergemeinschaft verknüpft, eine Nation bilden. Wie groß wird aber künftig der Kreis sein, der die Nation bildet: Planmäßiges Zusammenwirken zu dem Zwecke, dass das ganze Volk an der nationalen Kulturgemeinschaft Anteil habe, durch die nationale Kultur bestimmt und so zu einer nationalen Charaktergemeinschaft verknüpft werde, darf wohl auch nationale Politik heißen. Um sie von der uns schon bekannten konservativ-nationalen Politik zu unterscheiden, nenne ich sie die evolutionistisch-nationale Politik. Sie darf evolutionistisch heißen, denn sie bricht mit der Vorstellung, unveränderte Erhaltung der geschichtlich entstandenen Eigenart der Nation sei unsere Aufgabe; sie stellt dieser unrichtigen Vorstellung die der Entwicklung, der Evolution des Nationalcharakters gegenüber. Aber sie darf in noch tieferem Sinn evolutionistische Politik heißen, weil sie nicht nur die Weiterentwicklung des Nationalcharakters nicht hindern, sondern weil sie erst das gesamte Volk zur Nation machen, zur Nation sich entwickeln lassen will. Ihr handelt es sich nicht nur um Entwicklung der Nation, sondern um Entwicklung des gesamten Volkes zur Nation. [1]

Diese evolutionistisch-nationale Politik ist nun die Politik der modernen Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse verfolgt freilich ihre Politik nicht um der Nation willen, sondern um ihrer selbst willen. Aber da das Proletariat notwendig um den Besitz der Kulturgüter kämpft, die seine Arbeit schafft und möglich macht, so ist die Wirkung dieser Politik notwendig die, das gesamte Volk zur Teilnahme an der nationalen Kulturgemeinschaft zu berufen und dadurch die Gesamtheit des Volkes erst zur Nation zu machen.

Diesem Zweck dient schon die demokratische Politik des Proletariats. Das gleiche Wahlrecht wird zu einem gewaltigen Hebel nationaler Entwicklung, indem es die Parteien zwingt, um den letzten Taglöhner zu kämpfen und in der Werbearbeit für ihr Programm ein Stück nationaler Kultur zum Besitz der Massen zu machen. Pressfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinsfreiheit ermöglichen erst kulturelle Einwirkung auf die breiten Massen. Die zweckbewusste Zusammenarbeit in den Arbeiterorganisationen entreißt den Arbeiter der Tiefe eines bloß vegetativen Daseins, das sich in Arbeit, Schlaf und im rohesten Sinnesgenusse verzehrt, führt ihm. wenn auch noch so spärlich, Elemente der nationalen Kultur zu.

Dieselbe Wirkung hat auch die Schulpolitik des Proletariats. Die Volksschule ist immer und überall die Sorge der Arbeiterklasse, während sie der Bourgeoisie immer mehr und mehr gleichgültig, ja verdächtig wird. Jede neue Schulklasse ist aber eine neue Eroberung der Nation!

Aber viel stärker noch als die unmittelbaren Wirkungen der demokratischen und der Schulpolitik des Proletariats sind die mittelbaren Wirkungen seiner Wirtschaftspolitik.

Die konservativ-nationale Politik unterstützt die wirtschaftspolitische Reaktion. Der Kleinbürger, insbesondere aber der Bauer, sichert ihr die Erhaltung nationaler Eigenart. Gerade der Verteidigung agrarischer Politik muss die nationale Wertungsweise häufig als Mittel dienen.

Der Bauer ist fest eingesponnen in die Tradition des engen Kreises, seines Stammes, seines Dorfes; von dieser Art lässt er nicht, er ist allem Neuen, allem Fremdartigen feind. Wenn man beobachtet hat, dass gerade den Bauer keine Fremdherrschaft seiner Nationalität zu berauben vermag, dass der Elsässer Bauer nicht Franzose, der Siebenbürger Sachse nicht Magyar geworden ist, so beruht das darauf, dass der Bauer seine örtliche und Stammesart starr erhält: nicht ihr Deutschtum haben sie erhalten, sondern der eine ist eben Elsässer, der andere Sachse geblieben. Wohl trägt auch die Kultur des elsässischen und siebenbürgisch-sächsischen Bauern gemeinsamen Zug: aber über ihrer von den Ahnen ererbten gemeinsamen Kultur ist seit Jahrhunderten neue Kultur gelagert, die die alte Gemeinsamkeit längst verdeckt hat. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätten wir es ruhig sagen dürfen: der deutsche Bauer gehört im Grunde nicht zur Nation, weil er an der deutschen Kulturgemeinschaft keinen Teil hat, weil ihn mit der Nation nicht mehr verbindet als jene, von der späteren Entwicklung längst überdeckte Gemeinsamkeit des Blutes und der Überlieferung, die er den gemeinsamen germanischen Ahnen dankt. Wer den Bauer in diesem Zustande erhalten will, der verhindert das Entstehen einer nationalen Kulturgemeinschaft, die das ganze Volk umfasst.

Ganz anders, sobald der Kapitalismus die Landwirtschaft umzuwälzen beginnt. Er zieht einen Teil der ländlichen Bevölkerung in die Industrie, verwandelt Bauernsohne in Industriearbeiter, die, von der lokalen Gebundenheit befreit, viel stärker dem einheitlichen Kultureinfluss der Nation unterworfen sind. Er wandelt aber nicht weniger stark auch das Wesen der in der Landwirtschaft auch weiter tätigen Bevölkerung; er zwingt den Bauer zum Übergang zu intensiver Kultur, macht aus ihm einen reinen Landwirt, einen Warenproduzenten so gut wie irgend einen anderen; der moderne Landwirt, der seine Genossenschaft mit verwaltet, seine Technik nach den Bedürfnissen des Marktes ändert, seine Zeitung liest, Mitglied des „Bundes der Landwirte“ ist, ist in ganz anderem Sinne ein Glied der nationalen Kulturgemeinschaft als der Bauer früherer Zeiten.

Wer den alten Bauernstand erhalten, den kapitalistischen Umwälzungsprozess hemmen will, der verhindert also den Zusammenschluss der Nation zu engerer Kulturgemeinschaft. Die Getreidezölle im Deutschen Reiche mögen als ein Mittel konservativ-nationaler Politik gelten können; evolutionistisch-nationale Politik muss sie verwerfen.

Ganz ähnlich steht es auch mit der sogenannten Mittelstandspolitik. Es hat, eine Zeit gegeben, in der der Handwerker und Kleinhändler Träger der nationalen Kulturgemeinschaft waren: die Zeit der entstehenden Warenproduktion. Aber wir wissen bereits, wie die Warenproduktion nur als kapitalistische Warenproduktion sich verbreiten, die alte feudale Gesellschaft sprengen konnte. Wir wissen, wie mit der Entstehung des Kapitalismus das Bürgertum sich kulturell ditferenziert in die Schichten der „Gebildeten“ und ..Ungebildeten“, wie auf diese Weise das Kleinbürgertum von der nationalen Kulturgemeinschaft ausgeschlossen wird. Die Zeiten Hans Sachs’ sind unwiderbringlich dahin. Heute steht das Kleinbürgertum fast ebensowenig unter dem kulturellen Einfluss der Nation wie das Bauerntum. Vom Kapitalismus bedroht und geknechtet, hat es längere Arbeitszeit und selten größeren Verdienst als die Lohnarbeiter, dagegen aber entbehrt es die kulturellen Wirkungen, die dem Proletariat aus seiner Klassenlage und aus seinem Klassenkampfe fließen: der Kleinbürger arbeitet vereinzelt, nicht mit den Arbeitsgenossen in der Fabrik; er genießt nicht oder nur in geringem Masse die Erziehung der Organisation; die Befreiung von aller örtlichen Beschränktheit, die dem Lohnarbeiter aus seiner Freizügigkeit fließt, kennt er nicht; er unterliegt nicht den starken kulturellen Wirkungen des proletarischen Klassenkampfes. An dem großen Prozesse der Entwicklung des gesamten Volkes zur Nation hat das Kleinbürgertum nur geringen Teil; der Weg zur nationalen Kulturgemeinschaft führt über die Trümmer des vom Kapitalismus zerstörten Handwerks.

Wenn das Proletariat um seiner eigenen Interessen willen künstliche Erhaltung des alten Bauerntums und des Kleinbürgertums bekämpft, so dient es der Entwicklung der Gesamtheit zu nationaler Kulturgemeinschaft, ist seine Klassenpolitik evolutionistisch-nationale Politik.

Aber damit, dass das Proletariat die Entwicklung des Kapitalismus nicht hemmen will, ist noch nicht alles getan, es muss nun auch dafür sorgen, dass die Wirkungen der kapitalistischen Entwicklung auch den breiten Massen nutzbar werden. Diesem Zwecke dient die Sozialpolitik der Arbeiterklasse: die Arbeiterschutzgesetzgebung und der Kampf der Gewerkschaften. Lohnerhöhung und Verkürzung der Arbeitszeit sind die notwendigen Voraussetzungen, sollen die breiten Volksmassen zu Gliedern der nationalen Kulturgemeinschaft werden. Darum kennt das iq. Jahrhundert keine größere nationale Tat als den großen heldenmütigen Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit, die große Bewegung des 1. Mai.

Aber die Arbeiterklasse weiß, dass sie, so groß die Erfolge ihres Kampfes auch sein mögen, in der kapitalistischen Gesellschaft doch nie in den vollen Besitz nationaler Kultur gelangen kann. Erst die sozialistische Gesellschaft wird die nationale Kultur zum Besitz des ganzen Volkes und dadurch das ganze Volk zur Nation machen. Darum ist alle evolutionistisch-nationale Politik notwendig sozialistische Politik.

Der Gegensatz konservativ- und evolutionistisch-nationaler Politik zeigt sich auch deutlich an der Stellung zu den örtlichen und Stammesgruppen innerhalb der Nation. Vom Standpunkte nationaler Wertungsweise ist es nur folgerichtig, wenn man auch solche Sonderarten erhalten will, wenn man die Mundarten im Kampfe gegen die Einheitssprachen fördern, die überlieferten Trachten erhalten möchte. Uns dagegen erscheint solche Sonderart innerhalb der Nation als ein Hemmnis der Kulturgemeinschaft: wem die deutsche Einheitssprache eine fremde Sprache ist, der kann an unserer nationalen Literatur. Wissenschaft, Philosophie keinen Teil haben, den formt unsere überlieferte Kultur gar nicht, gliedert ihn der deutschen Charaktergemeinschaft nicht ein. Gewiss verdient das Studium der Mundarten alle Sorgfalt und ist das ästhetische Vergnügen an örtlicher Sonderart wohl verständlich; aber wir dürfen nicht vergessen, dass alle solche, der örtlichen Gebundenheit des Bauern entsprungene und durch den Kapitalismus, die Freizügigkeit des Lohnarbeiters, die Demokratie und die moderne Schule wirksam bekämpfte Sonderart ein Hemmnis nationaler Kulturgemeinschaft und so geradezu ein Hemmnis der Einheit der Nation ist. Wenn die konservativ-nationale Politik auch diese Sonderarten innerhalb der Nation erhalten und fördern möchte, so ist sie geradezu antinational: die romantische Freude an aller überlieferten Sonderart zerreißt die kulturelle Einheit der Nation. Nicht indem wir unkritisch alle überlieferte Art bewundern und zu erhalten streben, sondern indem wir darum kämpfen, dass jeder einzelne Volksgenosse die Kultur der Nation in sich aufnehme und dadurch zum Erzeugnis, zum Kinde der Nation werde, treiben wir nationale Politik.


Fußnote

1. Selbstverständlich steht das Wort evolutionistisch hier durchaus nicht im Gegensatz zu revolutionär. Revolution, plötzliche Umwälzung, ist nur eine bestimmte Methode, ein Mittel der Entwicklung, eine Phase der Evolution.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008