Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


II. Der Nationalstaat


§ 14. Der moderne Staat und die Nation


Der Staat des Mittelalters beruht auf dem Lehenswesen. Der Vasall ist dem Herrn zur Heeresfolge und zur Hoffahrt verpflichtet; dafür erhält er ein Grundstück zu Lehen. Auf diesem gewohnheitsrechtlich beiderseits erblichen Verhältnis ruht der mittelalterliche Staat. Der deutsche König ist Lehensherr der Fürsten, die Fürsten sind Lehensherren der übrigen freien Herren. Darum bietet der König die Fürsten, der Fürst die Freiherren zum Heeresdienst und zur Hoffahrt auf; im Lehensgericht sitzt der König über die Fürsten, der Fürst über seine Vasallen zu Gericht. Heeres- und Gerichtsverfassung beruhen so auf dem Lehenswesen; Heeres- und Gerichtswesen erschöpfen aber im Mittelalter die staatlichen Funktionen, denn andere Aufgaben als die Wahrung des Friedens nach außen und nach innen kennt der mittelalterliche Staat nicht.

Der moderne Staat ist entstanden als ein Kind der Warenproduktion. Erst wenn das Arbeitsprodukt zur Ware wird und sich in Geld verwandelt, kann ein Teil des Arbeitsproduktes der Gesellschaft in Geldesform als Steuer wirtschaftlich den Staat erhalten und es dem Staat möglich machen, sich ein Söldnerheer und einen geldentlohnten Beamtenkörper zu schallen, die ihn vom Lehensbande unabhängig machen.

Dieser moderne Staat ist aber nicht etwa als Nationalstaat entstanden. Die Geburtsstätte des modernen Staates ist das Land mit der ältesten kapitalistischen Warenproduktion – Italien. Die ersten modernen Staaten sind jene reichen italienischen Stadtrepubliken, in denen zuerst die herrschende Kapitalistenklasse den Staat als Werkzeug kapitalistischer Interessenpolitik zu handhaben wusste. Aber das mit dem modernen Staate entstehende Söldnerwesen hat es bald möglich gemacht, auf ein Söldnerheer gestützt, auf Grund bloßer Gewalt sich eine Tyrannie, einen militärischen Kleinstaat zu gründen. Wer nur die Mittel hatte, ein Söldnerheer auszurüsten, der konnte es versuchen, sich zum Fürsten eines Kleinstaates zu machen; das aufgewendete Kapital lohnte sich wohl, denn der Tyrann machte mit Waffengewalt die unterworfene Bürgerschaft zu einer steuerfähigen Masse, die sein Heer nicht nur weiter erhalten, sondern ihn auch für die Gründungskosten des Kleinstaates schadlos halten musste. Nicht mehr auf den feudalen Rechtstitel, sondern unverhüllt und nackt auf die brutale Gewalt der Waffen gestützt, entstehen die unzähligen Kleinstaaten Italiens. Aber diese Militärtyrannien waren doch so gut moderne Staaten wie die Stadtrepubliken. Da die Steuerkraft der unterworfenen Bürger die Quelle ihrer Macht war, mussten die Tyrannen die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Bürgerschaft befriedigen, mussten sie mit staatlichen Mitteln die kapitalistische Ausbeutung fördern; es sind wahrhaft moderne Staaten, charakterisiert nicht nur durch die Unterwerfung aller Bürger unmittelbar unter den Staat, sondern auch durch die Universalität der Staatszwecke, die den Staat nicht mehr auf die bloße Wahrung des Friedens beschränkt, durch die planmäßige Verfolgung einer die wirtschaftliche Entwicklung des Bürgertums fördernden Politik nach außen und innen.

Es ist ein merkwürdiges Ding, die Entstehung dieses modernen Staates. Wer Geld hat, kann, auf ein Heer geworbener Söldner gestützt, sich einen Staat schaffen; und wer einen Staat durch die Waffengewalt beherrscht, der beherrscht damit die Steuerkraft der Untertanen und kann sich so in der Herrschaft behaupten. So hat der moderne Staat zunächst auch keine natürlichen Grenzen. Er ist nicht notwendig auf eine Stadt beschränkt, aber er wird auch kein nationaler Großstaat. So zerreißt er Italien in eine Unzahl kleinerer und größerer Staaten, die später das Opfer spanischer, französischer und österreichischer Fremdherrschaft geworden sind.

Denn bei den großen Nationen des Westens ging die Entwicklung des modernen Staates einen anderen Weg. Hier knüpfte sie an die Organisation des feudalen Staates an: die oberste Spitze des feudalen Staates, das Königtum, verstand es hier, der alten Rechtseinrichtung des nationalen Königtums neuen Inhalt zu geben. Das Königtum, das die Spitze des Lehensstaates gewesen war, wusste sich die neuen Mittel der Warenproduktion dienstbar zu machen, auf besoldete Beamte und Söldnerheere gestützt, die Feudalherren niederzuwerfen, dem Staat als Untertanen zu unterwerfen, und so im großen das zu schaffen, was die italienischen Staaten im kleinen waren. In Frankreich beginnt diese Entwicklung schon mit der „großen provenzalischen Mitgift“ (Dante), mit der Unterwerfung Südfrankreichs unter die Macht der französischen Könige in den Albigenser-Kriegen. Unter Philipp VI. (1328 bis 1350) waren von den großen Pairschaften nur noch Flandern, Burgund, Guyenne und Bretagne übrig geblieben; die neuen Pairs glichen nicht mehr selbständigen Fürsten, sondern waren bereits der Macht des Königtums unterworfen. Dieses Königtum beginnt nun das mit der sich verbreitenden Geldwirtschaft wirtschaftlich möglich gewordene Steuer-, Beamten- und Söldnerwesen zu seinem Machtwerkzeug zu machen. Es schafft sich ein stehendes Heer, das ausschließlich unter dem Kommando des Königs steht, dessen Kapitäne vom König ernannt werden; die Stände werden gezwungen, dem König zu diesem Zwecke eine taille perpetuelle zu bewilligen, das heißt eine Steuer, die nicht mehr bloß auf kurze Frist, etwa in Kriegszeiten bewilligt wird, sondern dauernd bezahlt werden soll, damit der König sich ständig sein Heer erhalten könne; gleichzeitig setzt es der König durch, dass den Baronen und Herren im Lande verboten wird, von ihren Untertanen Geld zur Bezahlung von Söldnern zu erpressen, und unter harten Strafen jedermann im Lande untersagt wird, Kriegsscharen zu sammeln. Die Empörung des Adels gegen die Beschlüsse äußerte sich freilich in einer Reihe von Aufständen, die aber binnen kurzem niedergeworfen werden. Bald erhält der König aus den aus der taille perpetuelle fließenden Einkünfte ein stehendes Heer von 7.000 bis 9.000 Mann. Und so gering dieser Anfang ist – was er bedeutete, zeigte sich unter Ludwig XI., der die mächtigen Pairschaften, die etwa den größeren deutschen Fürstentümern entsprachen, niedergeworfen und dauernd den zentralisierten nationalen Einheitsstaat in Frankreich geschaffen hat.

Der französischen Entwicklung völlig entgegengesetzt war die Entwicklung des modernen Staates in Deutschland.

Das Deutsche Reich ist aus dem Karolingischen Reich entstanden. Bei den Teilungen des riesigen, romanische und deutsche Länder umfassenden Reiches Karls des Großen war zwar die Grenze der Nationen keineswegs für die Abgrenzung der Teilreiche maßgebend. Trotzdem fiel schließlich, wenigstens im Westen, gegen Nordfrankreich, die Grenze der Nation mit der Grenze des Reiches annähernd zusammen. Das bewirkte der große kulturelle Unterschied jener Gebiete, wo die Franken auf dem Boden römischer Kultur sich angesiedelt hatten, und jener, wo die Germanen auf ursprünglich eigenem Boden saßen – ein Kulturunterschied, der in Landwirtschaft und Grundbesitzverteilung, in Verfassung und Recht wirksam wurde. Dieser Kulturunterschied wurde notwendig bestimmend für die Grenze der Teilreiche; da aber die auf römischem Boden angesiedelten Germanen in den Römern und romanisierten Kelten Galliens national aufgingen, während die Germanen auf ihrem eigenen Boden ihre völkische Eigenart bewahrten, musste notwendig das westfränkische Reich zum französischen, das ostfränkische zum deutschen werden.

Aber damit ist noch keineswegs ein deutscher Nationalstaat entstanden. Denn das von den Karolingern niedergeworfene Stammeskönigtum entsteht sehr bald unter dem Namen des Stammesherzogtums wieder. Der mächtigste Stammesherzog ist es, der die anderen durch Gewalt oder Vertrag bestimmt, ihn als deutschen König anzuerkennen, und so werden der Reihe nach fränkische, sächsische, schwäbische Herzoge zu Königen der Deutschen. Die herrschende Grundherrenklasse war der königlichen Macht im allgemeinen wohlgewogen; denn der Selbständigkeit des Grundherrn in seiner Grundherrschaft war der ferne König weit weniger gefährlich als der nahe Herzog. Und dass die Zusammenfassung der Reiterheere des ganzen Reiches unter einem König nicht ohne Nutzen war, konnte das Reich zeigen, so oft gefährliche Feinde von außen die deutschen Stämme bedrohten. So festigte Ottos I. Sieg über die Magyaren am Lechfeld seine Herrschaft über ganz Ostfranken; so konnte Konrad II. die Sachsen erst gewinnen, als es ihm gelungen war, von den Slaven längst vergessene Tribute einzutreiben.

Das deutsche Königtum ist nun der alten Stammesherzogtümer Herr geworden. Es stützte sich hierbei hauptsächlich auf die Kirche. Die Kirchenfürsten konnten ja nicht erbliche Herrschaft begründen wie die Stammesherzoge; bei der Besetzung der Bistümer und Abteien sprach der deutsche König das entscheidende Wort. So förderten die deutschen Könige die Macht der Kirche, um sich in ihr ein Werkzeug ihrer eigenen Macht zu schaffen. Auf die reichen und mächtigen Reichskirchen mit ihrem unermesslichen Grundbesitz und ihren zahlreichen Dienstmannen gestützt, haben die deutschen Könige schließlich das Stammesherzogtum zertrümmert, indem sie neue Fürstentümer ohne Rücksicht auf die alten Stammesgrenzen schufen. Es ist dies eine Entwicklung, die etwa mit der Begründung des Herzogtums der Billunger auf sächsischem Boden beginnt und mit der großen Umwälzung nach dem Sturze Heinrichs des Löwen endet: Die alten Stammesherzogtümer werden zertrümmert und an ihre Stelle treten eine Reihe von Fürstentümern, von Territorien, die selbst dann, wenn ihre Fürsten den alten Herzogstitel tragen, doch mit den alten, dem Reiche gegenüber fast völlig selbständigen Herzogtümern kaum mehr als den Namen gemein haben. Es ist dies eine Entwicklung, die. als die reichgewordene Kirche es sich nicht mehr gefallen lassen konnte, als bloßes Machtwerkzeug der Könige behandelt zu werden, Deutschland in die Wirren des großen Streites zwischen Papsttum und Kaisertum stürzte, aber auch eine Entwicklung, die es verhindert hat, dass das Reich in eine Anzahl völlig unabhängiger Stammesherzogtümer zerfiel.

Als nun die Warenproduktion auch in Deutschland einsetzte, schien es zunächst, als würde dies auch dem Reiche zugute kommen. Die Städte wurden auch in Deutschland die Träger einer Einheitsbewegung und es schien denkbar, dass ein König, auf die Macht der Städte gestützt, die alten Fürstentümer niedergeschlagen und einen einheitlichen deutschen Nationalstaat geschaffen hätte Aber wenn das Emporkommen der Warenproduktion in Deutschland auch hier eine Tendenz zur Schaffung eines einheitlichen zentralisierten Großstaates geschaffen hat, so ist dies doch schließlich nicht mehr dem Reiche zugute gekommen, sondern den Territorien.

Die Hohenstaufen waren die ersten deutschen Könige, welche den Vorteil begriffen, den die sich entwickelnde Warenproduktion für die Macht des Königtums bedeuten konnte. Aber sie dachten nicht daran, das zu ihrer Zeit nur langsam sich entwickelnde deutsche Bürgertum ihren Zwecken dienstbar zu machen, sondern sie wollten die viel vorgeschrittenere Geldwirtschaft Italiens zur Stütze ihrer Macht machen. Friedrich I. und Friedrich II. suchten die Macht des alten Kaisertums über Italien dazu zu benützen, die Steuerkraft des italienischen Bürgertums sich dienstbar zu machen. Auf dieses Ziel allein waren ihre Augen gerichtet, und um sich für diesen Plan die Heerfolge der deutschen Fürsten zu sichern, machten sie den deutschen Fürsten im Reiche selbst ein Zugeständnis nach dem andern. So lieferten sie in Deutschland die Städte den Fürsten wehrlos aus und verzichteten auf die einträglichsten königlichen Rechte zugunsten der Fürsten. Die italienische Politik der Hohenstaufen endete aber schließlich nach langem, wechselvollem Ringen mit einer furchtbaren Niederlage. In Deutschland aber war es jetzt zu spät, sich der den Fürsten ausgelieferten Städte, der preisgegebenen königlichen Rechte zu erinnern. Das Wachstum des Bürgertums, der Warenproduktion, der Geldwirtschaft in Deutschland selbst hat nicht mehr die Macht der Könige, sondern die Macht der deutschen Fürsten erhöht. Wir haben schon in anderem Zusammenhange davon gesprochen, wie die deutschen Fürsten mit der öffentlichen Gewalt des Grafen die lehensrechtliche, dienst- und grundrechtliche Macht schließlich zu einer einheitlichen Landeshoheit über ihre Untertanen verschmolzen. So tritt das Deutsche Reich in das kapitalistische Zeitalter als eine lose Zusammenfassung selbständiger Staaten ein. Wohl hatte das Reich schon gegen die Hussiten ein Reichssöldnerheer aufgestellt und haben die Reichsstände dem Kaiser zu diesem Zwecke auch eine Reichsgeldsteuer, den „Gemeinen Pfennig“, bewilligt, aber vergebens strebten die Kaiser darnach, dass ihnen die Stände – wie dies in Frankreich geschehen ist – ein stehendes Heer, den „miles perpetuus“ und zu seiner Erhaltung eine dauernde, regelmäßige Reichssteuer bewilligten. Seit der Zeit Karls V. bestand vielmehr das Reichsheer aus den Kontingenten, welche die einzelnen Reichsstände zu stellen hatten, und zu einer regelmäßigen Reichssteuer hat es das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ – abgesehen von den lächerlich geringen „Kammerzielern“, die zur Erhaltung des Reichskammergerichtes dienten – nicht gebracht. So ist es dem Reiche nicht gelungen, die neuen, mit der Warenproduktion entstandenen Machtmittel sich nutzbar zu machen; der große Vorteil der neuen Entwicklung fiel den Territorien zu. In derselben Zeit, in der durch die bürgerliche Entwicklung die deutsche Nation als Einheit in einem ganz anderen Sinne als vorher entstanden ist, ist das Deutsche Reich zerfallen in eine Unzahl selbständiger Staaten, die sich um einander nicht kümmerten, wenn es nicht galt, mit der Waffe in der Hand einander gegenüberzutreten. Dieselbe Entwicklung, die bei den großen Nationen des Westens den nationalen Einheitsstaat erzeugt hat, hat in Deutschland gerade die staatliche Zersplitterung der Nation entschieden.

Es ist, wie die Gegenüberstellung der deutschen und der französischen Entwicklung deutlich zeigt, hauptsächlich die verschiedene Machtverteilung innerhalb des Feudalstaates, welche schließlich darüber entschieden hat, ob der moderne Staat die Nation in einem einzigen politischen Gemeinwesen vereinigt, oder ob er sie in eine Unzahl selbständiger Territorien gespalten hat; denn der moderne Staat ist bei den großen europäischen Nationen auf dem Wege entstanden, dass die Warenproduktion, die als kapitalistische Warenproduktion immer mehr und mehr allgemeine Form gesellschaftlicher Produktion wird, es den Mächten des Feudalstaates möglich gemacht hat, der alten Rechtsform der Rechtsinstitute des Feudalstaates neue Wirksamkeit zu geben. Die Machtverteilung innerhalb des Feudalstaates hat daher darüber entschieden, ob der König oder ob die Fürsten, die Pairs, imstande waren, den modernen, auf Geldsteuer, Beamtentum und Söldnerheer gestützten Staat zu schaffen. Die Verschiedenheiten dieser Machtverteilung hatten nun freilich zu ihrer Zeit gute Gründe. Heute aber erscheinen sie uns als etwas Zufälliges. Die modernen, lebendigen Nationen kümmern sich wenig darum, dass politische Gebilde, die ihren Bedürfnissen nicht entsprechen, vor Jahrhunderten aus guten Gründen nicht anders entstehen konnten, als sie entstanden sind. So ist es denn kein Wunder, dass das 19. Jahrhundert in der großen Periode der Bildung der Nationalstaaten eine gewaltige Umwälzung des überkommenen Staatensystems erlebt hat.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008