Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


III. Der Nationalitätenstaat


§ 18. Der moderne Kapitalismus und der nationale Hass


Das Erwachen der geschichtslosen Nationen fällt in das Zeitalter, das wirtschaftlich durch den Übergang von der Manufaktur zur Fabrik, sozial durch die Bauernbefreiung, politisch durch die bürgerliche Revolution charakterisiert ist. Die weitere nationale Entwicklung spiegelt die soziale Umschichtung und örtliche Umsiedlung der Massen wieder, die der einziehende moderne Kapitalismus wie überall, so auch in Österreich hervorgerufen hat. Der Kapitalismus hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Werner Sombart so anschaulich sagt, doch erst einige Gemächer in dem großen Gebäude der Gesellschaft bezogen; in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hat er von dem ganzen Gebäude Besitz ergriffen, hat das ganze Gebäude seinen Zwecken angepasst, für seine Zwecke umgebaut. Geht diese Entwicklung in Österreich auch langsamer vor sich als in anderen Ländern, so ist doch auch hier die Entwicklung der Nationen und der nationalen Kämpfe nur durch die Beziehung auf diese soziale Umwälzung zu verstehen.

Suchen wir zunächst zu ermitteln, welchen Anteil die einzelnen Nationen an dem Prozess der kapitalistischen Entwicklung hatten, so gibt uns die österreichische Berufserhebung aus dem Jahre 1900 einige Anhaltspunkte.

Die erste und folgenschwerste Wirkung des kapitalistischen Umwälzungsprozesses ist die Vernichtung der alten bäuerlichen Wirtschaft, der veränderte Aufbau der gesellschaftlichen Arbeit, der in der veränderten Verteilung der Arbeitenden auf die Berufsklassen in Erscheinung tritt, der die Massen der Industrie und dem Handel zuführt und den auf dem Lande zurückbleibenden Rest der alten Bauern in reine Landwirte, in bloße Warenproduzenten verwandelt. Sehen wir zunächst also, welchen Anteil die einzelnen Nationen an dieser Entwicklung hatten: Nach unserer Berufserhebung waren von 1.000 Personen, die sich zu der nebenbezeichneten Umgangssprache bekannt hatten, zu den nachbenannten Berufsklassen zugehörig:

 

Land und
Forstwirtschaft

Industrie

Handel und
Verkehr

Öffentliche Dienste,
Freie Berufe u.s.w.

Deutsch

335

383

134

148

Tschechisch

431

365

  93

111

Polnisch

656

148

112

  84

Ruthenisch

933

  25

  17

  25

Slovenisch

754

134

  35

  77

Serbisch-kroat.

869

  46

  38

  47

Italienisch

501

234

127

138

Rumänisch

903

  27

  25

  45

Daraus ergibt sich, dass bei Deutschen und Tschechen weniger als die Hälfte, bei den Italienern nur noch knapp die Hälfte der Bevölkerung der Land- und Forstwirtschaft zugehört. Ruthenen. Rumänen und Serbo-Kroaten sind noch als fast rein agrarische Nationen anzusehen. In der Mitte zwischen beiden Gruppen stehen Polen und Slovenen. In der Industrie wie im Handel stehen die Deutschen an erster Stelle. In der Industrie folgen ihnen zuerst die Tschechen, dann die Italiener; im Handel zuerst die Italiener, dann die Tschechen. (Das Übergewicht der Polen über die Tschechen im Handel ist nur scheinbar; zurückzuführen ist es auf die große Zahl in Wirklichkeit durchaus nicht polnisch-assimilierter Juden, die sich gleichwohl zur polnischen Umgangssprache bekannt haben.) Den stärksten Teil an der kapitalistischen Entwicklung hatten also die Deutschen, nach ihnen Tschechen und Italiener.

Fragen wir nun nach der sozialen Stellung der Zugehörigen der einzelnen Nationen innerhalb der Berufsklassen! In der Industrie waren von je 1.000 berufstätigen Personen, die sich zu der nebenbezeichneten Umgangssprache bekannt haben:

 

Selbstständige

Angestellte

Arbeiter

Taglohner

Mithelfende
Familien-
mitglieder

Deutsch

182

30

731

  28

29

Tschechisch

137

14

764

  34

31

Polnisch

318

17

559

  50

56

Ruthenisch

399

  6

447

  78

70

Slovenisch

255

  4

661

  35

45

Serbisch-kroat.

299

  6

630

  26

39

Italienisch

253

14

663

  17

53

Rumänisch

243

  5

534

191

27

Auffallend ist zunächst, dass bei den Nationen, die, wie wir bereits wissen, dem kapitalistischen Entwicklungsprozess am wenigsten unterworfen waren, die Zahl der Selbständigen am größten ist: die Ruthenen und Polen zählen die meisten, die Deutschen und Tschechen am wenigsten Selbstständige in der Industrie. Umgekehrt steht es mit den Arbeitern: die Zahl der Arbeiter ist bei Ruthenen, Rumänen und Polen am geringsten, bei Deutschen und Tschechen am größten. Auf einen Selbstständigen entfallen also bei Deutschen und Tschechen weit mehr Arbeiter als bei Ruthenen und Polen. Die Selbstständigen der Ruthenen und Polen sind überwiegend Handwerker, unter den Selbstständigen der Deutschen und Tschechen finden wir offenbar in beträchtlicher Zahl Kapitalisten.

Versuchen wir es, unter den Selbstständigen die Kapitalisten von den Handwerkern zu scheiden, so gibt uns die Zahl der Angestellten eine wertvolle Handhabe. Denn der Angestellte – Ingenieur, Techniker, Werkmeister, Buchhalter u.s.w. – findet sich nur im kapitalistischen Betriebe, fehlt aber im Handwerk. Die kapitalistisch höher entwickelten Nationen – Deutsche, Tschechen, Polen und Italiener – zählen daher mehr Angestellte als die minder entwickelten: Ruthenen, Slovenen, Serbo-Kroaten und Rumänen. Aber diese Zahlen lassen uns noch mehr erschließen! Die Nationalität der Arbeiter ist dem Kapitalisten gleichgültig, dagegen umgibt er sich in der Regel mit einem Stab von Angestellten, die dieselbe Sprache sprechen wie er. Der deutsche Fabrikant mag tschechische Arbeiter beschäftigen, aber sein Fabriksdirektor und sein Comptoirpersonal wird in der Regel deutsch sein. Wenn wir nun sehen, dass die Zahl der Angestellten bei den Deutschen weit höher ist als bei den anderen Nationen, so schließen wir daraus, dass die Deutschen unter den industriellen Kapitalisten an erster Stelle stehen müssen. Wenn wir aus den Verhältniszahlen der Selbstständigen und der Arbeiter ersehen haben, dass die tschechische Nation kapitalistisch höher entwickelt ist als die polnische, dagegen in der Zahl der Angestellten die Polen den Tschechen vorausgehen, so dürfen wir daraus schließen, dass im polnischen Gebiet auch der Fabrikant sich in der Regel zur polnischen Umgangssprache bekennt, während die Tschechen zwar industriell höher entwickelt sind, weniger Handwerker, mehr Industriearbeiter zählen als die Polen, aber die tschechischen Arbeiter sehr häufig im Dienste fremder, offenbar deutscher Kapitalisten arbeiten.

Dass die Deutschen innerhalb der Bourgeoisie stärker vertreten sind als innerhalb der Gesamtbevölkerung, hat eine doppelte Ursache.

Zunächst ist dies eine Wirkung der geschichtlichen Tatsache, dass in der Zeit der Anfänge kapitalistisch-industrieller Entwicklung in Österreich die herrschenden Klassen der deutschen Nation angehörten, Österreich politisch und kulturell ein deutscher Staat war. Soweit die österreichische Bourgeoisie aus den damals herrschenden Klassen entstanden ist, war sie deutsch von Geburt an; soweit sie aus fremden Elementen entstanden ist, wurde sie germanisiert, jene Weber aus Verviers zum Beispiel, die die Brünner Schafwollweberei begründeten, haben naturgemäß Sprache und Gesittung der herrschenden Nation in Österreich angenommen, nicht die tschechische Sprache, die damals die Sprache eines geknechteten Volkes, einer geschichtslosen Nation war. Ebenso haben jene Juden, die aus Branntweinschenkern, kleinen Händlern und Wucherern zu Fabrikanten, Großhändlern, Bankiers wurden, Aufnahme in die deutsche Kulturgemeinschaft gesucht. Aber auch jene Nachkommen der geschichtslosen Nationen selbst, denen der Aufstieg in die Kapitalistenklasse geglückt war, gaben in ihrer neuen sozialen Stellung ihre Muttersprache auf, die verachtete Sprache der Dienstboten und Bauern, und wurden Deutsche. So vielfältiger Abstammung also auch die österreichische Bourgeoisie war, kulturell trug sie zweifellos deutschen Charakter. Erst mit dem Erwachen der geschichtslosen Nation war die Möglichkeit der Entwicklung einer nationalen Bourgeoisie auch bei ihnen gegeben. Aber die deutsche Bourgeoisie hatte einen Vorsprung von anderthalb Jahrhunderten, während deren die kapitalistische Entwicklung Österreichs die Entwicklung einer deutschen Kapitalistenklasse bedeutet hatte; kein Wunder, dass die jungen Bourgeoisien der anderen Nationen die deutsche Bourgeoisie in ihrer Entwicklung nicht einholen konnten. Neben der deutschen hatte es im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Österreich nur noch eine italienische Bourgeoisie gegeben. Auch sie hat ihren wirtschaftlichen und kulturellen Vorsprung gegenüber den Südslavischen Bauernvölkern bisher behauptet.

Der deutsche Charakter der österreichischen Kapitalistenklasse hängt auch damit zusammen, dass die österreichische Industrie sich im Siedlungsgebiet der deutschen Nation am schnellsten entwickelt hat. Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass die deutschen Gebiete schon vor der Verbreitung der Manufaktur mehr und größere Städte besaßen als die slavischen Länder. Auch manchem historischen Zufall verdanken die Deutschen die schnelle Entwicklung ihrer Industrie; so zum Beispiel der Förderung, die die gewerbliche Entwicklung Deutschböhmens der Wirtschaftspolitik des Friedländers verdankte. Auch dass die Deutschen die Grenzgebiete der Sudetenländer bewohnen, musste ihre industrielle Entwicklung fördern. Mit dem Beginn der merkantilistischen Zollpolitik beginnt auch der Schmuggel in größerem Maßstabe: die kapitalistischen Unternehmungen, die ausländische Rohmateriale verarbeiten wollen, rücken den Grenzen näher! Die Woll- und Baumwollindustrie Nordböhmens verdankt zweifellos dem Schmuggel englischen Garns starke Förderung. Und war so erst die alte Hausweberei an die deutschen Grenzgebiete gefesselt, so haben diese Gebiete ihre industrielle Überlegenheit auch dann behauptet, als man von der Hausindustrie zur Fabrik überging und der Schmuggel fremden Garns aufhörte.

Aber auch abgesehen vom Schmuggel boten deutsche Gegenden zuerst günstige Bedingungen für die Produktion. Die Deutschen bewohnten die Gebirgsgegenden – die Alpen und die Grenzgebirge Böhmens – wo die Industrie die Wasserkräfte fand, deren sie bedurfte. Noch wichtiger war es, dass im deutschen Gebiet frühzeitig reiche Kohlenlager erschlossen wurden.

So hat der ursprünglich deutsche Charakter der österreichischen Bourgeoisie eine doppelte Ursache: Die Bourgeoisie war deutsch, weil die Industrie sich dank einer Reihe zufälliger Umstände zunächst in deutschen Gebieten – vor allem in Wien, in den deutschen Gebieten der Sudetenländer, in Steiermark – entwickelte. Die Bourgeoisie war aber überdies auch in den tschechischen und slovenischen Gebieten deutsch, weil vor dem Erwachen der geschichtslosen Nationen alle Herrschenden, Besitzendeil, Gebildeten in den Alpen- und Sudetenländern Deutsche waren.

Diese Tatsachen erklären eine ganze Reihe jener Erscheinungen, die unseren nationalen Kämpfen zugrunde liegen, Überall besteht ein schroffer Gegensatz zwischen der Bourgeoisie und den übrigen Klassen der Bevölkerung; in unseren tschechischen Gebieten, wo der Kapitalist deutsch war, während Kleinbürger, Arbeiter und Bauern Tschechen waren, musste dieser soziale Gegensatz die besondere Form des nationalen Gegensatzes annehmen. Überall bestehen zwischen den industriell entwickelten und den agrarischen Gebieten schroffe Gegensätze: wo die Industriegebiete deutsch, die ländlichen Gebiete tschechisch waren, musste sich der wirtschaftliche Gegensatz in nationales Gewand hüllen. Wir wollen die vielfältigen sozialen Gegensätze, die in dem vielsprachigen Österreich in der Gestalt nationaler Gegensätze den Massen zuerst bewusst geworden sind, wiederum an einem Beispiele darlegen, indem wir Jene sozialen Gegensätze aufsuchen, die dem Kampfe zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen zugrunde liegen. Wenn wir gerade dieses Beispiel wählen, so geschieht dies darum, weil Böhmen das industriell höchst entwickelte Land der Monarchie und gerade darum auch das Land des lebhaftesten nationalen Streites ist. Unsere Aufgabe wird uns sehr wesentlich erleichtert durch die ausgezeichnete Arbeit Rauchbergs [1], auf die wir uns im folgenden mehrfach werden berufen können.

Rauchberg teilt Böhmen in vier Gebiete ein. Als deutsche Bezirke fasst er die politischen Bezirke zusammen, in denen sich mehr als 80 Prozent der österreichischen Staatsbürger bei der letzten Volkszählung zur deutschen Umgangssprache bekannt haben. Bezirke mit deutscher Mehrheit nennt er jene politischen Bezirke, in denen 50 bis 80 Prozent der österreichischen Staatsbürger sich zur deutschen, 20 bis 50 Prozent zur tschechischen Umgangssprache bekannten. Die Bezirke mit tschechischer Mehrheit zählten 50 bis 80 Prozent mit tschechischer, 20 bis 50 Prozent mit deutscher Umgangssprache. Diejenigen Bezirke endlich, in denen mehr als 80 Prozent der österreichischen Staatsbürger sich der tschechischen Sprache als Umgangssprache bedienen, nennt Rauchberg tschechische Bezirke. Innerhalb der tschechischen Bezirke gibt er die Zahlen für „Prag und Umgebung“ und für die anderen tschechischen Bezirke vielfach gesondert an, weil das schnell emporblühende Industriegebiet von Prag in vieler Hinsicht eine andere Entwicklung zeigt als die anderen tschechischen Bezirke.

Wir geben nun zunächst nach Rauchberg einige Belege dafür, dass die rein oder überwiegend deutschen Bezirke in der Tat die Hauptsitze der böhmischen Industrie sind. Hierbei führen wir die Zahlen über Prag und Umgebung hier nicht an, da wir sie in einem späteren Zusammenhange noch kennen lernen werden.

Von je 1.000 ortsanwesenden Personen gehörten 1900 zur:

 

Land- und
Forstwirtschaft

Industrie

Handel und
Verkehr

Öffentliche
Dienste und
freie Berufe

Deutsche Bezirke

249

527

120

104

Bezirke mit deutscher Mehrheit

274

536

  95

  95

Bezirke mit tschechischer Mehrheit

445

357

  84

114

Tschechische Bezirke
(außer Prag und Umgebung)

473

334

  83

111

Im deutschen Landesteil gehört also die Mehrheit der Bevölkerung der Industrie an, während in den tschechischen Landesteilen die industrielle Bevölkerung noch hinter der landwirtschaftlichen zurücksteht. Auch am Handel haben die deutschen Landesteile größeren Anteil als die tschechischen. Aber nicht nur in dem Verhältnis der industriellen zur landwirtschaftlichen Bevölkerung, sondern auch in dem sozialen Autbau der industriellen Bevölkerung selbst zeigt sich, dass die deutschen Landesteile eine höhere Stufe kapitalistischer Entwicklung erreicht haben. Es waren nämlich von je 1.000 berufstätigen Personen in der Industrie:

 

Selbstständige

Angestellte

Arbeiter

Taglöhner

Mithelfende
Familien-
mitglieder

Deutsche Bezirke

144

21

788

29

18

Bezirke mit deutscher Mehrheit

112

19

810

30

29

Bezirke mit tschechischer Mehrheit

146

12

762

26

54

Tschechische Bezirke
(außer Prag und Umgebung)

180

15

744

23

38

Im deutschen Landesteile ist also der Anteil der Angestellten und Arbeiter an der Gesamtzahl der Berufstätigen größer, dagegen der Anteil der Selbstständigen kleiner als im tschechischen Landesteile. Auf einen Selbstständigen entfallen also in den deutschen Gebieten mehr Angestellte und Arbeiter als im tschechischen. Im deutschen Gebiete ist der Sieg des Kapitals über das Handwerk vollständiger, die deutschen Gebiete haben eine höhere Stufe der Konzentration des Kapitals erreicht.

Der Gegensatz des deutschen und des tschechischen Landesteiles muss also zunächst als Gegensatz des kapitalistisch vorgeschrittenen zum kapitalistisch minder entwickelten Gebiete begriffen werden. Zwischen solchen Gebieten besteht überall ein Gegensatz: überall verweist die Bourgeoisie des industriell fortgeschritteneren Gebietes auf ihren Reichtum, den Glanz ihrer Kultur, die hohen direkten Steuern, die sie zu tragen vermag; überall blickt sie verächtlich auf die kapitalistisch minder entwickelten, ärmeren und daher auch kulturell zurückgebliebenen Gebiete hinab. Der Industrielle Rheinland-Westfalens spricht kaum mit weniger Verachtung von „Ost-Elbien“, als die Reichenberger und Außiger Fabrikanten von „Tschechien“ reden.

Wollen wir es versuchen, den Gegensatz zweier Gebiete, die auf einer verschiedenen Stufe kapitalistischer Entwicklung stehen, ihre Waren aber untereinander austauschen, ökonomisch zu erfassen, so gibt uns die Marxsche Preistheorie den Schlüssel.

Die Masse des in beiden Gebieten erzeugten Mehrwerts ist durch die Masse der von den Arbeitern beider Gebiete geleisteten Mehrarbeit bestimmt. Welcher Teil dieses Mehrwerts fällt aber den Kapitalisten Jedes der beiden Gebiete zu?

Das Kapital des höher entwickelten Landes hat die höhere organische Zusammensetzung, das heißt in dem kapitalistisch vorgeschritteneren Gebiete entfällt auf dieselbe Menge Lohnkapital (variables Kapital) eine größere Menge Sachkapital (konstantes Kapital) als in dem rückständigen Lande. Nun hat uns Marx verstehen gelehrt, dass – dank der Tendenz der Ausgleichung der Profitraten – nicht die Arbeiter jedes der beiden Länder ihren Kapitahsten den Mehrwert erzeugen; sondern der von den Arbeitern beider Gebiete geschaffene Mehrwert wird zwischen den Kapitalisten beider Länder geteilt, nicht nach der Menge der Arbeit, die in jedem der beiden Länder geleistet worden ist, sondern nach der Menge von Kapital, das in jedem der beiden Länder tätig ist. Da nun in dem höher entwickelten Lande auf die gleiche Menge geleisteter Arbeit mehr Kapital entfällt, so zieht das höher entwickelte Land auch einen größeren Teil des Mehrwerts an sich, als der im Lande geleisteten Arbeitsmenge entspricht. Es ist so, als ob der in beiden Ländern erzeugte Mehrwert zuerst auf einen Haufen geworfen und dann auf die Kapitalisten je nach der Größe ihres Kapitals verteilt würde. Die Kapitalisten höher entwickelter Länder beuten also nicht nur ihre eigenen Arbeiter aus, sondern eignen sich stets auch einen Teil des Mehrwerts an, der in dem minder entwickelten Lande erzeugt worden ist.

Betrachten wir nur die Preise der Waren, so empfängt jedes Land im Austausch so viel als es hingibt; fassen wir dagegen die Werte ins Auge, so sehen wir, dass es keine Äquivalente sind, die ausgetauscht werden. In den Produkten, die das Land mit höherer organischer Zusammensetzung des Kapitals hingibt, ist weniger Arbeit vergegenständlicht als in den Waren, die es von dem Lande mit niederer Zusammensetzung des Kapitals empfängt. Das höher entwickelte Land leistet also für das rückständige, mit dem es Handelsbeziehungen pflegt, weniger Arbeit, als dieses für das fortgeschrittene Land leisten muss. Das Kapital des entwickelteren Landes eignet sich einen Teil der Arbeit des minder entwickelten Landes an.

Wo das fortgeschrittene Land Industrieprodukte, das rückständige Erzeugnisse der Landwirtschaft im Austausch hingibt, wirkt der Ausbeutung des Agrarlandes freilich die Tatsache der Grundrente entgegen. Das Eigentum an Grund und Boden gibt dem Agrarlande die Macht, einen Teil des Mehrwerts in Gestalt der Grundrente vorwegzunehmen und der Teilung unter den Kapitalisten je nach der Größe des aufgewendeten Kapitals zu entziehen. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, dass auch die Grundrente nicht zu verhindern vermag, dass ein Teil des im Agrarlande geschaffenen Wertprodukts mittelst der hohen Produktionspreise der Industrieprodukte an die Kapitalistenklasse des Industrielandes abgetreten wird. Das ist zweifellos auch das wirtschaftliche Verhältnis zwischen Deutschböhmen und Tschechischböhmen. Wäre dem nicht so, so würde die Masse des Mehrwerts, die die Kapitalisten Deutschböhmens sich aneignen, zur Masse des Mehrwerts im tschechischen Gebiete sich geradeso verhalten wie die in Deutschböhmen zu der in Tschechischböhmen geleisteten gesellschaftlichen Arbeit; ja, da in Tschechischböhmen die Arbeitslöhne niedriger sind als in Deutschböhmen, die Mehrarbeit also einen größeren Teil des Arbeitstages bildet, müsste dort auf den Kopf des Arbeiters noch größerer Profit entfallen als in Deutschböhmen. In Wirklichkeit aber ist der Profit der deutschböhmischen Kapitalistenklasse zweifellos größer, als er sein müsste, um der in Deutschböhmen beschäftigten Arbeiterzahl proportional zu sein. Anders ausgedrückt: Auf den Kopf der beschäftigten Arbeiter entfällt in Deutschböhmen mehr Profit als im tschechischen Landesteil. Diese ökonomische Tatsache tritt in der größeren durchschnittlichen Wohlhabenheit der deutschböhmischen Bevölkerung, in der glänzenderen Entwicklung ihrer Städte, in der höheren durchschnittlichen Kultur der deutschböhmischen Bevölkerung in Erscheinung. Was die deutschnationalen Schriftsteller so gern die höhere Kultur Deutschböhmens, die „Minderwertigkeit“ des tschechischen Landesteiles nennen, ist nichts anderes als die Wirkung der alle kapitalistische Konkurrenz beherrschenden Tatsache, dass die kapitalistisch höher entwickelten Landesteile sich einen Teil des Wertprodukts der kapitalistisch minder entwickelten Gebiete aneignen.

Auch die höhere Steuerleistung Deutschböhmens ist auf diese Tatsache zurückzuführen. Da Deutschböhmen an dem in dem gesamten österreichischen Wirtschaftsgebiet erzeugten Mehrwert nicht nach seiner Arbeiterzahl, sondern nach seinem Kapitalsaufwand Anteil hat und da der höheren Zusammensetzung seines Kapitals wegen hier auf gleiche Arbeiterzahl größeres Kapital, also auch höherer Profit entfällt, so vermag es auch im Verhältnis zu seiner Volkszahl mehr direkte Steuern zu tragen als der tschechische Teil des Landes.

Das deutsche Bürgertum zieht aus dieser Tatsache den Schluss, der Bevölkerung des Gebietes, das mehr direkte Steuern auf den Kopf der Bevölkerung trage, gebühre auch größere Macht im Staate und im Lande, als ihrer Zahl entspricht. Aus dieser Forderung spricht aber nur eine echt bourgeoise Auffassung des Staates. Gesetzt, das politische Recht solle von der Steuerleistung abhängig sein, warum sollen dann als Steuern nur die direkten Steuern gelten und nicht die indirekten Steuern, die von den Massen getragen werden und auf denen hauptsächlich der Staatshaushalt beruht: Aber soll wirklich jeder in demselben Masse dem Staate gegenüber rechtliche Macht haben, in dem er durch seine Steuern zum Staatshaushalt beiträgt? Und schließlich: Ist die menschliche Arbeit Schöpferin der Werte, soll dann die Steuerleistung dem zugerechnet werden, der sich das Erzeugnis fremder Arbeit aneignet, oder dem, der durch seine Arbeit die Werte schafft, der darum der einzige wirkliche Träger aller Steuern ist? Soll wirklich die Tatsache, dass ein Teil der tschechischen Arbeit nicht tschechische, sondern deutsche Kapitalisten bereichert, Deutschböhmen ein Vorrecht vor dem tschechischen Gebiete geben? [2]

Wenn aber auch die Erkenntnis, dass Tschechischhöhmen durch einen Teil seiner Arbeit die materielle und geistige Kultur Deutschböhmens stützt, nicht zur Rechtfertigung der politischen Forderungen der Deutschnationalen missbraucht werden darf, so gibt sie uns doch den Schlüssel, die historischen Forderungen der tschechischen wie der deutschen bürgerlichen Parteien zu verstehen.

Die deutsche Bourgeoisie in Böhmen braucht den gesamten österreichischen Markt. Sie wünscht daher, dass Österreich ein einheitliches Rechts-, Verkehrs- und Wirtschaftsgebiet bilde: sie ist im Reiche zentralistisch. Dagegen will sie ihre Mehrwertbeute dagegen sichern, dass sie durch ihre höhere Steuerleistung auch für die Bedürfnisse des geringere Steuern tragenden tschechischen Landesteiles aufkommen müsse; sie ist daher im Lande föderalistisch, verlangt territoriale Abgrenzung Deutschböhmens von Tschechischböhmen, will Deutschböhmen zu einem selbständigen Kronland machen. Anders die Tschechen. Sie bedürfen für ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse den Markt außerhalb der Sudetenländer nicht oder doch in weit geringerem Masse als die deutsche Industrie; an der Einheit Österreichs als Rechts- und Wirtschaftsgebiet ist ihnen daher weniger gelegen. Dagegen brauchen sie einerseits den deutschen Markt innerhalb der Sudetenländer, andererseits wollen sie die Steuerkraft der deutschen Industriegebiete in diesen Ländern auch ihren Bedürfnissen dienstbar machen: sie sind daher im Reiche Föderalisten, im Lande dagegen Zentralisten, Verteidiger der Landeseinheit. So lernen wir die tiefste Wurzel des deutsch-tschechischen Verfassungsstreites kennen. Das Industriegebiet hat ein weit stärkeres Bedürfnis nach einem großen einheitlichen Wirtschaftsgebiet als das agrarische Gebiet: darum sind im Reiche die Deutschen Zentralisten, die Tschechen Föderalisten. Das kapitalistisch höher entwickelte Gebiet ist steuerkräftiger und es entsteht die Frage, ob diese Steuerkraft nur ihm selbst oder auch den historisch mit ihm verbundenen Agrargebieten nutzbar gemacht werden soll: so sind die Deutschen im Lande Föderalisten. die Tschechen Zentralisten.

Die Tatsache, dass der deutsche Landesteil eine höhere Stufe industrieller Entwicklung erreicht hat, gibt auch der sozialen Wanderbewegung in Böhmen ihre große nationale Bedeutung. Wie überall, so geht auch hier eine Umsiedlung der Bevölkerung vor sich: ein Teil der Bevölkerung verlässt die agrarischen Gebiete und wandert in das Industriegebiet. National bedeutet das Einwanderung von Tschechen in das deutsche Gebiet in Böhmen. Rauchberg hat diese Bewegung im einzelnen genau beschrieben. Wir begnügen uns damit, das Endergebnis seiner Untersuchung, die Bilanz der Wanderungen in Böhmen hier anzuführen. Er hat die Zahl der in den einzelnen Sprachgebieten anwesenden Personen mit der Zahl der in jedem Sprach- gebiet geborenen Personen verglichen; auf Grund dieser Zahlen hat er den Zuzug in die einzelnen Sprachgebiete und den Wegzug aus ihnen berechnet.

Vergleichen wir zunächst den Verkehr der deutschen Bezirke mit den anderen Sprachgebieten:

Im Verkehr mit den

Zuzug nach

Wegzug aus

Gewinn oder
Verlust
absolut

Gewinn oder Verlust
in Prozenten der
ortsanwesenden
Bevölkerung

den deutschen Bezirken

Bezirken mit deutscher Mehrheit

  26.307

31.502

−   5.195

− 0.3

Bezirken mit tschechischer Mehrheit

  23.860

  7.548

+ 16.312

+ 0,9

Tschechischen Bezirken

127.510

46.678

+ 80.832

+ 4,6

Die Post „Zuzug nach den deutschen Bezirken“ lehrt uns. wie viele Personen in die Bezirke mit mehr als 80 Prozent Deutschen aus jeder der drei anderen Bezirksgruppen eingewandert sind. Die Post „Wegzug aus den deutschen Bezirken“ zeigt, wie viele Personen aus den „deutschen Bezirken“ auswanderten. Die dritte Post gibt uns die Differenz zwischen Gewinn und Verlust im Verkehr der deutschen Bezirke mit jeder der drei anderen Bezirksgruppen, gibt also die Bilanz der ganzen Bewegung. Wir ersehen daraus, dass die deutschen Bezirke nur an die Bezirke mit 50 bis 80 Prozent Deutschen mehr Menschen abgeben als sie von ihnen empfangen haben. Dagegen sind in die deutschen Bezirke aus dem tschechischen Landesteil beträchtlich mehr Personen eingewandert als aus den deutschen Bezirken in die tschechischen Gebiete. Insbesondere ist die Einwanderung aus den Bezirken mit mehr als 80 Prozent Tschechen in die deutschen Gebiete absolut und im Verhältnis zur ortsanwesenden Bevölkerung sehr groß. Ein ganz ähnliches Bild bietet die Wanderbilanz der Bezirke mit 50 bis 80 Prozent Deutschen:

Im Verkehr mit den

Zuzug nach

Wegzug aus

Gewinn oder
Verlust
absolut

Gewinn oder Verlust
in Prozenten der
ortsanwesenden
Bevölkerung

den Bezirken mit deutscher Mehrheit

Deutschen Bezirken

31.502

26,307

−   5.195

+ 0.3

Bezirken mit tschechischer Mehrheit

13.049

  5.653

+   7.396

+ 1,8

Tschechischen Bezirken

54.116

13.683

+ 30.433

+ 9,9

Die Wanderbilanz dieser Bezirksgruppe ist im Verkehr mit allen anderen Bezirksgruppen aktiv. Die Bezirke mit deutscher Mehrheit haben von allen anderen Sprachgebieten mehr Menschen empfangen als sie an sie abgegeben haben. Besonders groß sind auch hier die Zuwanderungsüberschüsse aus den tschechischen Bezirken. Die agrarischen tschechischen Gebiete sind es vor allem, die ihre überschüssige Bevölkerung an die deutschen Industriegebiete abgeben.

Betrachten wir nun diese Wanderung aus den tschechischen Agrargebieten in die deutschen Industriegebiete und ihre nationalen Wirkungen etwas näher

Die Masse der Einwanderer bilden die Arbeiter. Der tschechische Bauernsohn und landwirtschaftliche Arbeiter findet dank der Vernichtung der alten Hausindustrien und dank den Veränderungen in der landwirtschaftlichen Technik selbst keinen Raum mehr in der Heimat. Der Überfluss an Arbeitskräften, die Unfähigkeit des ländlichen Proletariats zu gewerkschaftlicher Selbsthilfe senkt seine Lebenshaltung. In den Industriegebieten dagegen steigt dank der fortwährenden starken Akkumulation des Kapitals, der Verwandlung von Mehrwert in Kapital, die Nachfrage nach Arbeitskräften. Überdies erhöht dort der gewerkschaftliche Kampf die Arbeitslöhne. Der höhere Arbeitslohn lockt den tschechischen Proletarier in die deutschen Gebiete. Wo die Industrie langsam, allmählich wächst, dort treten die tschechischen Arbeiter nur vereinzelt auf, dort gelingt es der Umgebung meist auch, sie in kurzer Zeit national zu assimilieren. Wo aber die Nachfrage nach Arbeitskräften schnell steigt, dortwandern die tschechischen Arbeiter in Massen ein, schließen sich fest zusammen und erhalten sich ihre Nationalität.

Der tschechische Arbeiter kommt aus Gegenden, in denen die Löhne niedrig sind, die Lebenshaltung auf einer tieferen Stute steht. So kam er denn als Lohndrücker, nicht selten als Streikbrecher ins Land! Kein Wunder, dass er den Hass, die Erbitterung des deutschen Arbeiters erweckte. Auch heute noch versuchen es die Fabrikanten Deutschböhmens, so deutschnational sie immer sein mögen, oft genug, die „begehrlichen“ deutschen Arbeiter durch tschechische Arbeiter zu ersetzen, die das Laster der „verdammten Bedürfnislosigkeit“ noch nicht abgelegt haben. So sichern sie sich einmal auf Kosten der deutschen Arbeiter ihre Profite, und wenn dann dadurch in den deutschen Arbeitern der Hass gegen die tschechischen Einwanderer genährt wird und die vom nationalen Hass erfüllten Arbeiter sich von einer bürgerlich-nationalen Partei ködern lassen, so erscheint dies den deutschen Kapitalisten als ein ganz hübscher Nebengewinn. Indessen glückt ihnen dieses Spiel nicht mehr oft. Die deutschen Arbeiter haben es längst gelernt, dass sie sich gegen tschechische Lohndrücker und Streikbrecher nicht anders wehren können, als indem sie auch die tschechischen Arbeiter für ihre gewerkschaftliche Organisation zu gewinnen, zum gewerkschaftlichen Kampf zu erziehen trachten. Und die Fortschritte der tschechischen Arbeiterbewegung haben auch die tschechischen Proletarier mit dem Bewusstsein der Solidarität aller Arbeiterinteressen erfüllt. So ist der tschechische Lohndrücker bereits glücklicherweise eine seltene Ausnahmserscheinung geworden. Die tschechische Einwanderung hat unter den deutschen Arbeitern gewiss zuerst nationalen Hass, nationale Erbitterung erweckt, über dieser Hass konnte sich zu keinem politischen Wollen verdichten: die Aufhebung der Freizügigkeit, die das einzige Mittel gegen die tschechische Einwanderung wäre, können moderne Industriearbeiter nicht verlangen. So hat bittere Not die deutschen Arbeiter gelehrt, dass sie nur im gemeinsamen Kampfe, Schulter an Schulter mit den tschechischen Arbeitern, im Kampfe gegen das Kapital Erfolge erringen können.

Die deutschen Arbeiter hat gerade die tschechische Einwanderung in das deutsche Industriegebiet die Solidarität der Interessen aller Arbeiter, die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes der Arbeiter aller Nationen verstehen gelehrt. Ganz anders war die Wirkung der tschechischen Arbeitereinwanderung auf das Kleinbürgertum. Während die Interessen der deutschen Arbeiter unter der tschechischen Einwanderung zunächst gelitten haben, war diese Einwanderung wirtschaftlich dem deutschen Kleinbürgertum vorteilhaft. Das Wachstum der Bevölkerung bedeutete ja vermehrte Gewinne für Händler und Handwerker, steigende Grundrente für die Hausbesitzer. Trotzdem ist fast das ganze deutsche Kleinbürgertum von wütendem Hass gegen die tschechischen Minderheiten erfüllt. Woher diese Erscheinung?

Sie liegt zunächst an dem Misstrauen, der Abneigung des sesshaften, fest im Boden der ererbten Heimat wurzelnden Kleinbürgers gegen jeden Fremden, jeden „Zug’rasten“ (Zugereisten), wie die Wiener sagen. Es ist, wie wir bereits an anderer Stelle ausgeführt haben, die Trägheit der Apperzeption, die Unlust an allem Ungewohnten, allem Fremden, allem, was der Sonderart des engen örtlichen Kreises nicht entspricht, in dem der Kleinbürger geboren wird, heiratet und stirbt, die hier die Wurzel des Nationalgefühls und des nationalen Hasses ist. Die Augen des Bourgeois, die Augen des von der kapitalistischen Konjunktur hin und hergeschleuderten Proletariers sehen, wenn nicht die weite Welt, so doch immer ein großes Wirtschaftsgebiet; der Kleinbürger und der Bauer aber sitzt festgewurzelt auf seiner Scholle und hasst alles Fremde, alles Neuartige, das von außen her in seinen engen Kreis eindringt.

Dieses nationalen Instinkts bemächtigen sich nun die Gemeindecliquen, die sich – in verschiedener Zusammensetzung – in jeder Gemeinde vorfinden. In kleinen Landstädten bestehen sie aus der Intelligenz des Ortes – dem Arzt, Lehrer, Pfarrer, Apotheker – aus ein paar wohlhabenden Hausbesitzern, Kaufleuten, Wirten und dergleichen. In Dörfern treten an die Stelle der wohlhabenden Bürger reiche Bauern. In größeren Industrieorten besteht die Gemeindeclique aus Mitgliedern der Bourgeoisie und der Intelligenz. In manchen Orten hat ein und dieselbe Clique, die sich immer wieder durch leiblichen Nachwuchs oder durch Aufnahme sozial nahestehender Personen ergänzt, seit dem Beginn der autonomen Gemeindeverwaltung die Gemeinde in der Hand. Anderwärts streiten mehrere Cliquen um den Besitz der Gemeinde: der Pfarrer und der Lehrer, der Feuerwehrhauptmann und der Veteranenhauptmann oder gar zwei konkurrierende Advokaten mit ihrem Anhang befehden einander und kämpfen um die Macht in der Gemeinde. Diese Cliquen sind es, die nach ihrem Belieben den Gemeindeausschuss zusammensetzen, bei öffentlichen Wahlen die Kandidaten ernennen, denen im öffentlichen Leben die teilnahmslose kleinbürgerliche Bevölkerung willig folgt. Unsere Gemeindewahlordnung hat diese Cliquen förmlich zur Rechtsinstitution gemacht und ihnen die wichtigsten Verwaltungszweige ausgeliefert.

Diese Gemeindecliquen empfinden die Einwanderung tschechischer Arbeiter zunächst als eine Unbequemlichkeit. Sie bedeutet ja in der Tat für die Gemeinde, die für neue Schulen sorgen muss, deren Sicherheitspolizei erschwert wird, deren Aufgaben vielfach wachsen, zunächst eine finanzielle Last. Aber was den Herren zuerst nur unbequem ist, wird ihnen bald gefährlich. In der wachsenden Industriestadt ist es für die Clique der erbgesessenen Beherrscher der Gemeinde immer sehr schwer, sich im Genüsse ihres Ansehens und ihrer Macht zu behaupten. Wenn der Zuzug national gleichartig ist, mag dies allenfalls noch gelingen; wenn er national fremd ist, scheint es aussichtslos. Die Clique, die jahrzehntelang ungestört und unkontrolliert geherrscht, sieht sich einer gefährlichen fremden Macht gegenüber; sie wird nun die Führerin im nationalen Streit.

Solange die Massen der einwandernden Arbeiter noch bedürfnisund anspruchslos waren, ein elendes Leben führten, das keine andere Abwechslung kannte als die schwere Arbeit und den Schlaf in den elenden Wohnungen im äußersten Umkreise der Stadt, allenfalls noch den Alkoholgenuss in elenden Branntweinschenken, die der Bourgeois und Kleinbürger sorgsam meidet; solange der tschechische Arbeiter hübsch demütig und bescheiden den Herren der Stadt aus dem Wege ging, sie mit keinen Forderungen und Beschwerden belästigte und jedem besser Gekleideten mit Demut nahte, solange ließ sich die Gemeindeclique die tschechische Einwanderung wohl gefallen. Aber seither sind die breiten Massen des arbeitenden Volkes zu neuem Leben, zu unerhörtem Selbstbewusstsein erwacht. Sie krümmen vor den Gemeindegewaltigen nicht mehr den Rücken, sondern fordern von ihnen ihr Recht. Sie fordern die Befriedigung ihrer kulturellen Bedürfnisse, vor allem Schulen für ihre Kinder. Sie stören durch Streiks, durch ihren politischen Kampf, durch Versammlungen und Demonstrationen die Ruhe der Gemeinde. Ja sie sind sogar manchmal so frech. Feste feiern zu wollen! Dieses neue Leben, zu dem die moderne Arbeiterschaft allerwärts erwacht ist, hat glücklicherweise auch die tschechischen Minoritäten im deutschen Industriegebiet erfasst. Für den deutschen Arbeiter ist dies eine hocherfreuliche Erscheinung; je stolzer der tschechische Arbeiter sein Haupt erhebt, desto weniger hat der deutsche Arbeiter tschechische Lohndrücker und Streikbrecher zu fürchten, desto mehr darf er auf die kräftige Unterstützung des tschechischen Genossen im Kampfe gegen das Kapital und den Klassenstaat hoffen. Das Kleinbürgertum aber– und vor allem die Gemeindecliquen, denen das Kleinbürgertum Gefolgschaft leistet– sind von der neuen Entwicklung furchtbar geschreckt. Ihnen bedeutet jede Regung proletarischen Selbstbewusstseins Revolution, jede Regung der nationalen Minorität eine Gefahr für ihre Macht in der Gemeinde. Die tschechischen Arbeiter verjagen, ihnen den Zuzug in die Stadt verbieten, das können sie nicht; aber wissen, sehen soll man in der Stadt nichts von der nationalen Minorität. „Wahrung des deutschen Charakters der Stadt“ wird nun ihr Schlagwort. Was soll das oft zitierte Wort, das unsere Deutschnationalen zur obersten sittlichen Pflicht gemacht haben, auf das die Wiener Gemeinderäte nach der Luegerschen Gemeindeordnung gar ein Gelöbnis ablegen müssen, eigentlich bedeuten? Heißt es, dass der Zuzug der tschechischen Arbeiter verhindert werden soll? Aber die Beschränkung der Freizügigkeit ist in keinem kapitalistischen Lande möglich; und die Hausbesitzer, die Wirte, die Kaufleute – von den Fabrikanten gar nicht zu reden– möchten wir sehen, die eine solche Maßregel ernsthaft befürworten wollten – sind sie doch die wirtschaftlichen Nutznießer jener Arbeitereinwanderung! „Wahrung des deutschen Charakters der Stadt“ heißt vielmehr, dass man von der nationalen Minorität nichts sehen soll, dass die Stadt aussehen soll, als ob sie deutsch wäre, dass – Gott bewahre! – nicht etwa tschechische Inschriften oder laute tschechische Reden oder tschechische Farben verraten, was doch jedermann weiß, dass die kapitalistische Entwicklung aus der einsprachigen Stadt des Kleinbürgertums eine zweisprachige Stadt der Kapitalisten und Proletarier gemacht hat. Aber die „Wahrung des deutschen Charakters“ bedeutet noch mehr als diese Vogel-Strauß-Politik gegenüber der nationalen Minderheit. Sie bedeutet, dass auch die Gemeindeverwaltung sich um die eingewanderten Arbeiter nicht kümmert, dass sie ihre selbstverständlichen Bedürfnisse, vor allem ihre kulturellen Bedürfnisse nicht befriedigt, dass sie ihnen gegenüber nicht einmal jenes erbärmlich bescheidene Maß sozialer Wohlfahrtspflege und sozialer Fürsorge für nötig hält, mit dem sonst die österreichischen Gemeinden ihre Arbeiter beglücken. Vollständige Vernachlässigung aller sozialen Pflichten der Gemeinde, völliges Fehlen jeder kommunalen Sozialpolitik – das ist es vor allem, was die Gemeindecliquen „Wahrung des deutschen Charakters der Stadt“ nennen.

Freilich, wenn die tschechische Arbeiterbevölkerung stark anwächst, dann kann es in der Tat geschehen, dass der deutsche Charakter einer Stadt bedroht ist, dass die tschechische Bevölkerung allmählich das Übergewicht erhält und die deutsche Bevölkerung zur Minderheit wird. Wer den sozialen Prozess, der die nationalen Wanderungen erzeugt und bestimmt, verstehen gelernt hat, wird in dieser unvermeidlichen Begleiterscheinung eines gewaltigen Entwicklungsprozesses nicht der Übel schlimmstes sehen. Wir haben die kapitalistische Entwicklung mit Millionen vernichteter Existenzen, mit Tausenden hingeopferter Kinder, mit unsäglichem Elend breiter Volksmassen erkauft; dagegen verschwindet wohl das Übel, das der Verlust irgend eines Dorfes oder einer Industriestadt an die Tschechen bedeutet. Wir wissen, dass diese kapitalistische Entwicklung vorausgehen muss, ehe unser Volk wahrhaft zu einer nationalen Kulturgemeinschaft werden kann, ein Ziel, das uns selbst damit nicht zu teuer erkauft wird, wenn da oder dort in diesem ungeheuren Umwälzungsprozess aus einer deutschen Mehrheit eine deutsche Minderheit wird. Wir wissen, dass diese soziale Umwälzung Voraussetzung ist, damit unser Volk zu wahrer Selbstbestimmung, zu voller Autonomie gelange; darum sind wir gewiss, dass selbst jene Deutschen in ein paar Industrieorten, die in die Stellung einer Minderheit hinabgedrückt werden, die Mittel finden werden, ihre Kulturgemeinschaft mit dem deutschen Volke zu bewahren. Aber was wir sehen, das sieht der Kleinbürger nicht. Der Markt des Kapitalisten ist ein großes Reich, ist die ganze Erde; für den Industriearbeiter bildet längst ein ganzes großes Wirtschaftsgebiet seinen Arbeitsmarkt, bald da, bald dort muss er seine Arbeitskraft verkaufen. Der Kleinbürger aber sitzt fest auf der Scholle: er produziert und handelt nur für einen engen örtlichen Kreis und weiter reicht auch sein Denken nicht. Er sieht nie sein Volk, sieht immer nur seine Stadt. Ihn kümmert nicht, was die industrielle Entwicklung für seine Nation bedeutet; er weiß nicht, dass derselbe Prozess, der die Stellung der Deutschen in seiner Gemeinde bedroht, andererseits die gesamte Macht seiner Nation wirtschaftlich, politisch stärkt, ihre materielle und geistige Kultur bereichert, die breiten Massen des arbeitenden Volkes erst der Nation eingliedert; für ihn bedeutet es der Welten Ende, wenn seine Macht in seiner kleinen Gemeinde zusammenstürzt. Das ist es, was die Wirkungen der industriellen Entwicklung den Deutschen so schrecklich erscheinen lässt, was der Frage der Minoritäten ihre übertriebene Bedeutung gegeben, den nationalen Hass so furchtbar erweckt hat: dass unser Kleinbürgertum das Problem gar nicht national, das heißt vom Standpunkt der großen Nation aus betrachtet, sondern dass es die deutsche Nation mit Unrecht als das ansieht, was unsere nationalen Parteien freilich sind – als die Summe von ein paar Hundert Gemeindecliquen.

Aus all dem entspringt aber nun auch der Unernst der ganzen kleinbürgerlich-nationalen Politik. Das einzige Mittel, das den Zuzug der fremden Arbeiter verhindern könnte, die Beseitigung der Freizügigkeit, ist gänzlich unmöglich. So hat das Kleinbürgertum eigentlich kein Ziel seiner nationalen Politik und ihr einziger Inhalt wird es nun, seinem Hass, wie immer, ohne jeden weiteren Zweck Ausdruck zu geben. Dass keine Straßentafel zur nationalen Minorität in ihrer Sprache spricht, kein Richter oder Beamter mit ihr in ihrer Sprache verkehrt, wird nun zum Inhalt kleinbürgerlicher Politik. Eine Fahne in der Farbe des nationalen Gegners beleidigt die „nationale Ehre“. Ein Fest tschechischer Arbeiter dünkt dem deutschen Kleinbürger ein Verbrechen, das er verhindern muss, koste es, was es wolle. Es ist eine Politik, die überhaupt nicht mehr nach dem Zweck fragt; eine Politik, die nichts ist als der, ohnmächtige Ausdruck nationalen Hasses; eine Politik, die notwendig der Tatsache entspringt, dass der Kleinbürger den tschechischen Arbeiter nicht entbehren und ihn doch auch nicht ertragen kann.

Diese Politik weckt aber nun die Gegenbewegung der nationalen Minorität. Das Nationalgefühl jeder Minderheit in fremder Umgebung ist immer besonders stark. Hier wird es gesteigert durch den Hass, mit dem die heimische Bevölkerung dem fremden Einwanderer begegnet. Was man ihm aus Hass verweigert, wird ihm nun besonders wertvoll. Die Sprache der Straßentafeln, die Amtssprache der Gerichte – Dinge, die so furchtbar unbeträchtlich erscheinen im Vergleich mit den großen sozialen Problemen unserer Zeit – werden nun auch ihm eine Forderung der „nationalen Ehre“. Auch er feiert nun Feste, nicht mehr um der Freude willen, sondern um den erbitterten nationalen Gegner zu verletzen. So entsteht jenes frivole Spiel, das man in Österreich nationale Politik nennt, das, aus dem nationalen Hass geboren, nationalen Hass immer wieder erzeugt, und das doch an den wirklichen, von der wirtschaftlichen Entwicklung unerbittlich bestimmten Machtverhältnissen der Nationen nicht das geringste zu ändern vermag. Ob eine tschechische Minderheit im deutschen Sprachgebiete wächst, das hängt von der Stärke und Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt ab; tschechische Feste und tschechische Aufschriften können das Wachstum der fremden Minderheit nicht beschleunigen; man kann ihr Wachstum nicht verhindern, wenn man ihr tschechische Aufschriften verbietet und tschechische Feste stört.

Arg verschärft werden diese nationalen Kämpfe, sobald dem tschechischen Arbeiter auch der tschechische Kleinbürger in das deutsche Sprachgebiet folgt. Die Entstehung eines tschechischen Kleinbürgertums in den deutschen Städten und Industrieorten geht auf doppelte Weise vor sich: erstens dadurch, dass ein Teil der tschechischen Arbeiter immer in das Kleinbürgertum aufsteigt – der Handwerksgehilfe wird Meister; der Arbeiter, der Ersparnisse gemacht oder dem eine kleine Erbschaft zugefallen, wird Händler oder Gastwirt – dann aber durch Einwanderung von Handwerkern und kleinen Kaufleuten aus dem tschechischen Sprachgebiet. Die tschechischen Kleinbürger finden unter den tschechischen Arbeitern der deutschen Städte natürlich ihre Kundschaft. Nun erst steigt die nationale Erbitterung ins Ungemessene, Bisher hatte der deutsche Kleinbürger von der tschechischen Arbeitereinwanderung doch noch wirtschaftlichen Vorteil; nun raubt ihm der tschechische Konkurrent die verachtete und doch so wertvolle Kundschaft. Jetzt wird die „Wahrung des deutschen Charakters der Stadt“ ein wirtschaftliches Interesse des Kleinbürgers; die tschechische Firmatafel des Konkurrenten bedroht ihn mit der Gefahr, die Kundschaft des tschechischen Arbeiters zu verlieren. Die Nationalität wird jetzt zum Kampfmittel der Konkurrenz. Die tschechischen Kleinbürger geben die Parole „Svůj k svému“ aus und sichern sich damit die tschechische Kundschaft; „Kauft nicht bei Tschechen!“ antworten die deutschen Kaufleute und Handwerker. Jetzt wird auch die Gefahr für die Herrschaft der Gemeindeclique gesteigert: vor den tschechischen Arbeitern fühlte sie sich hinter dem Schutz des Wahlrechtsprivilegs sicher; der tschechische Kleinbürger aber ist Wähler. Im Kampfe der Kleinbürger beider Nationen um die Kundschaft und um die Macht in der Gemeinde wächst von Tag zu Tag der nationale Hass.

Die Einwanderung der tschechischen Kleinbürger in das deutsche Gebiet ist gleichfalls eine Wirkung der schnellen kapitalistischen Entwicklung Deutschböhmens. Die Auswanderung aus dem tschechischen Gebiet senkt dort die Gewinne des Kaufmannes und Handwerkers; die Einwanderung in den deutschen Landesteil hat dort die kleinbürgerlichen Profite vermehrt. Alle Konkurrenz wird aber von dem Gesetze der Ausgleichung der Profite beherrscht. Die Produzenten und Händler wenden sich stets in jene Gebiete, in denen die Profite höher sind, wandern stets aus jenen Gebieten aus, in denen die Profite sinken. Solange das tschechische agrarische Gebiet an das deutsche Industriegebiet Arbeiter abgibt, solange die Bevölkerung des deutschen Gebietes schneller wächst als die des tschechischen, werden auch Kleinbürger aus den tschechischen Teilen des Landes in das deutsche Sprachgebiet wandern. Wer die Einwanderung der tschechischen Kleinbürger verhindern wollte, müsste die industrielle Entwicklung Deutschböhmens hemmen. Das kann das deutsche Kleinbürgertum nicht. Darum hat die nationale Politik des deutschen Kleinbürgertums kein konkretes Ziel, dient sie keinem bestimmten Zweck, sondern ist nichts als der ohnmächtige Ausdruck des durch die Umsiedlung der Bevölkerung entfesselten nationalen Hasses.

Mit dem tschechischen Kleinbürgertum zieht auch die tschechische Intelligenz in die deutschen Industriegebiete. Auch dem Arzt, dem Advokaten winkt in den Industriestädten mit ihrer schnell wachsenden Volkszahl höheres Einkommen. Auch hier wird die Nationalität Prinzip der Konkurrenz: der tschechische Arzt und Advokat nimmt dem deutschen Kollegen die Kundschaft der tschechischen Minderheit; der Konkurrenzneid der deutschen Kollegen wird zu nationalem Hass. Hier aber wird nicht nur die Nationalität, sondern geradezu der nationale Kampf zum Konkurrenzmittel. Der tschechische Arzt und Advokat in der deutschen Industriestadt kennt kein besseres Mittel, seinen Namen der tschechischen Minderheit bekannt zu machen, unter ihr Klienten und Patienten zu werben, als indem er zum Führer dieser Minderheit wird: er vertritt in Wort und Schrift ihre nationalen Interessen; er gibt dem im Kampfe erstarkten Hasse der Minderheit rede- und wortgewandt starken Ausdruck. Er, der verhasste Konkurrent der deutschen Intelligenz, stört nun die herrschende Gemeindeclique in ihrer Ruhe, indem er vor den Behörden die Sache seiner Volksgenossen führt, er wird ihr politisch gefährlich, indem er die nationale Minderheit zur politischen Partei organisiert. Ihn, den „nationalen Hetzer“, verfolgt vor allen die deutsche Intelligenz, die herrschende Gemeindeclique und das hasserfüllte deutsche Kleinbürgertum mit seiner grimmigen Wut.

Aber die Einwanderung der tschechischen Intelligenz nimmt bald noch eine andere Form an. Bald findet der deutsche Kleinbürger den tschechischen Beamten auch in staatlichen Ämtern und Gerichten. Der verhasste nationale Gegner wird nun der Träger der Staatsgewalt, das deutsche Kleinbürgertum sieht sich geradezu unter tschechischer Fremdherrschaft stehen. Auch das Eindringen des tschechischen Beamten in die Gerichte und Verwaltungsbehörden der deutschen Gebiete hat seinen letzten Grund darin, dass das deutsche Sprachgebiet vor allem der Sitz der Industrie ist. In den deutschen Gebieten nimmt die Industrie und der Handel die Nachkommen des Mittelstandes auf: die Söhne des deutschen Kleinbürgertums werden vor allem Angestellte der Industrie und des Handels. In den tschechischen Gebieten dagegen, wo die Industrie sich langsamer entwickelt, gibt es für den jüngeren Sohn des wohlhabenden Bauern und Kleinbürgers, der dem Vater nicht im Berufe folgen kann, keinen anderen Weg als das Studium. Früher ist der jüngere Bauernsohn vor allem Geistlicher geworden – auch heute noch ist ein nicht geringer Teil des katholischen Klerus im deutschen Sprachgebiete tschechisch. Heute wendet er sich anderen Berufen zu. Wenn wir gesehen haben, dass unter den Angestellten der Industrie und des Handels die Deutschen viel stärker vertreten sind als die Tschechen, so sehen wir nun, dass die akademischen Berufe von Tschechen verhältnismäßig stärker besetzt sind als von Deutschen. Nach der Berufszählung entfielen in Böhmen von 10.000 Deutschen nur 1.131, dagegen von 10.000 Tschechen 1.178 auf die „öffentlichen Dienste und freien Berufe“. Über den Besuch der Mittelschulen in Böhmen macht Rauchberg folgende Angaben. Es besuchten von je 100.000

 

 

Deutschen

 

Tschechen

Schuljahr

Gymnasien

Realschulen

Gymnasien

Realschulen

1880/81

240

  84

318

  90

1890/91

233

102

292

  91

1900/01

230

129

236

203

Der Besuch dieser für die freien Berufe vorbereitenden Mittelschulen ist also bei den Tschechen viel stärker als bei den Deutschen. Wenn die Spannung zwischen dem Gymnasialbesuche der Deutschen und der Tschechen im letzten Jahrzehnt etwas verringert hat, so nur darum, weil der Realschulbesuch der Tschechen außerordentlich schnell gewachsen ist. Wenn wir bisher schon den tschechischen Richter und Beamten so häufig im deutschen Gebiete gefunden haben, so werden wir sehr bald auch den tschechischen Ingenieur und Architekten im deutschen Industriegebiete antreffen. Über den Grund des starken Anteiles der Tschechen an den freien Berufen kann kein Zweifel bestehen, wenn wir hören, dass beispielsweise im Schuljahr 1900/01 von 100.000 Deutschen 21, dagegen von 100.000 Tschechen nur 10 die höheren Gewerbeschulen besuchten. Auch wenn wir die Besetzung der Gymnasien im industriellen Deutschböhmen mit der in unseren agrarischen Alpenländern vergleichen, werden wir dies bestätigt finden: die starken Besuchsziffern der tschechischen, die geringeren der deutschen Mittelschulen in Böhmen sind eine Wirkung der Tatsache, dass Deutschböhmen industriell schneller fortgeschritten ist als der tschechische Landesteil. Diese so zahlreich herangebildete tschechische Intelligenz strömt nun naturgemäß in das deutsche Industriegebiet. in dem die Volkszahl und daher auch der Bedarf an Beamten, Richtern, Advokaten, Ärzten schnell steigt. Der deutsche Kleinbürger findet darum in der Bezirkshauptmannschaft und im Bezirksgericht, in den Postämtern und den Büros der Eisenbahnen in wachsender Zahl tschechische Beamte. Der Tscheche, der verhasste Tscheche verkörpert ihm die staatliche Gewalt, verwaltet seine Angelegenheiten, richtet über ihn, hebt von ihm die Steuern ein. Jedes Zusammentreffen in den staatlichen Ämtern nährt von neuem den nationalen Hass.

Der industrielle Charakter des deutschen, der agrarische des tschechischen Landesteiles ist die letzte Ursache der tschechischen Einwanderung in Deutschböhmen: nicht nur der Einwanderung der tschechischen Arbeiter, sondern auch des Zuzugs der tschechischen Kleinbürger und der tschechischen Intelligenz. Diese Einwanderung erregte den Hass der deutschen Bevölkerung, vor allem des deutschen Kleinbürgertums und der deutschen Intelligenz. Dieser Hass kann sich zu einer politischen Forderung nicht verdichten, denn die tschechische Einwanderung könnte nur mit ihrer Ursache beseitigt werden und die Entfaltung der industriellen Kräfte Deutschböhmens kann seine Bevölkerung nicht hemmen wollen. So erleichtert sich der Kleinbürger sein Gemüt in zweck- und sinnlosen Demonstrationen, in fruchtlosem Geschrei. Der Hass der Mehrheit weckt den Hass der Minderheit. Die Nachrichten über die Kämpfe erhitzen auf beiden Seiten die Gemüter. Die Frage der nationalen Minderheiten wird aufgebauscht ohne jede Rücksicht auf ihre zahlenmäßige Bedeutung, und da man die ziellose Politik des Hasses nicht verstandesgemäß zu begründen vermag, rechtfertigt man sie durch das inhaltslose Schlagwort des Kampfes für die „nationale Ehre“. Wer die Lösung der böhmischen Nationalitätenfrage sucht, wird an dieser Tatsache nicht vorübergehen dürfen: man hat keine Antwort auf die große Frage, wenn man das Problem der nationalen Minderheiten nicht zu lösen vermag. Der nationale Hass aber, der die österreichische Bevölkerung und vor allem das österreichische Kleinbürgertum erfüllt, ist nun ursächlich begriffen: er ist ein Erzeugnis jenes schmerzvollen, Gegensätze und Kämpfe erzeugenden Prozesses der Umsiedlung der Bevölkerung, er ist nichts als eine der vielen Gestalten des sozialen Hasses, des Klassenhasses, den die gewaltige Umwälzung gebiert, die der moderne Kapitalismus überall in der alten Gesellschaft hervorgebracht hat. Nationaler Hass ist transformierter Klassenhass.

Wir haben bisher die deutschen Bezirke als die industriellen, die tschechischen als die agrarischen behandelt. Indessen entsteht auch im tschechischen Gebiet eine Industrie. Aber auch hier war die Kapitalistenklasse zunächst deutsch. Die historische Tatsache, dass im alten Österreich die herrschenden und besitzenden Klassen überall deutsch gewesen waren, war bei dem Entstehen der Industrie in den tschechischen Landesteilen immer noch wirksam. So finden wir beispielsweise im tschechischen Gebiet in Nordostböhmen einige Hauptsitze der Textilindustrie. Aber in diesen Orten, in denen die Bevölkerung durchaus oder doch überwiegend tschechisch ist, sind die Unternehmer Deutsche oder Juden, die in die deutsche Kulturgemeinschaft Aufnahme gesucht haben, deutsch sprechen und ihre Kinder deutsch erziehen, die deutschnationalen Parteien unterstützen, sich mit einem Stab deutscher Angestellter umgeben. Wer die Zentren dieser Textilindustrie – Nachod, Königinhof, Horic, Eipel, Neustadt a.d.M. u.s.w. – besucht, wird überall inmitten einer tschechischen Arbeiterschaft und eines tschechischen Kleinbürgertums eine deutsche Kolonie finden, die fast ausschließlich aus den Kapitalisten und ihren Angestellten besteht und überall mit jüdischen Elementen stark durchsetzt ist.

Die kapitalistische Kolonie kann sich in die kleinbürgerliche Welt niemals organisch einfügen. Sie bringt andere Lebenshaltung, andere Lebensweise, andere Ansichten in die kleinbürgerliche Stadt. Vor allem aber wertet sie die Menschen anders: was in der Kleinstadt bisher Ansehen hatte, verliert ihr gegenüber alles Gewicht. Was ist der Kaufmann gegen den Fabrikanten? Der Lehrer gegenüber dem Fabriksdirektor? Ja, selbst den Herrn Pfarrer grüßen die fremden Eindringlinge nicht und den ehrsamen Spießbürgern, die das Vorrecht genießen, am Stammtisch der „Honoratioren“ sitzen zu dürfen, zollen sie nicht die herkömmliche Achtung. Der Spießbürger, gegen alles Fremde argwöhnisch, sieht seine Sitten missachtet, seine gesellschaftliche Würde gering geschätzt. Und auch hier wird die fremde Kolonie der Clique, die die Gemeinde beherrscht, gefährlich. So wenig zahlreich die deutsche Kolonie sein mag, das Wahlrechtsprivileg gibt ihr sehr schnell politische Macht. Den ersten Wahlkörper beherrschen die deutschen Fabrikanten dank ihrer großen Steuerleistung sehr bald allein, den zweiten Wahlkörper machen ihre Angestellten den erbgesessenen Kleinbürgern streitig. Dank der plutokratischen Verfassung unserer Gemeinde sind die kapitalistischen deutschen Minderheiten den Gemeindecliquen viel gefährlicher als die tschechischen Arbeiterkolonien den deutschen Gemeinden. So sieht der tschechische Kleinbürger durch die deutsche Minderheit alle seine überlieferten Anschauungen, seine Sitte und Lebensart missachtet, sein soziales Ansehen bedroht, seine Macht in der Gemeinde vernichtet.

Den Neid des Kleinbürgers gegen die höhere Lebenshaltung des Kapitalisten, das Unverständnis des Spießbürgers gegenüber der freieren Lebensführung der modernen Bourgeoisie mildert meist auch kein wirtschaftliches Interesse an der deutschen Kolonie. Die deutschen Herren und Damen sind nicht die Kundschaft des tschechischen Schneiders und Schuhmachers in der kleinen Landstadt, sondern sie decken ihren Bedarf in der Großstadt. Sie suchen ihr Vergnügen nicht in den spießbürgerlichen Wirtsstuben, wo die Philister am Biertisch die Fragen der großen Welt besprechen, wie sie sich in ihren engen Köpfen malt, sondern sie schaffen sich eigene Zentren für ihre anders geartete Geselligkeit. Ein großer Teil der Fabrikanten verbringt den größten Teil des Jahres nicht in der tschechischen Industriestadt, sondern etwa in Wien. Der Mehrwert, den die Arbeit der tschechischen Arbeiter in jener Kleinstadt erzeugt, wird also gar nicht gegen die Waren der Kleinbürger des Ortes, sondern gegen die Waren der vornehmen kapitalistischen Unternehmungen der Großstadt umgesetzt.

Aber nicht nur der Kleinbürger ist dem deutschen Kapitalisten und deutschen Angestellten feind. Auch die immer noch maßlos ausgebeuteten, verelendeten Hausweber kennen den Deutschen nur als Kapitalisten. Auch den Arbeitern der Spinnereien, der mechanischen Webereien, der Baumwolldruckereien tritt der Kapitalist und der Antreiber als Deutscher gegenüber. Der ganze Hass der Arbeiter gegen den Kapitalisten erscheint hier notwendig als nationaler Hass.

Ganz seltsam verknüpft sich der Hass gegen den Deutschen mit dem Hass gegen die Juden. Die deutschen Minderheiten in den tschechischen Industriegebieten bestehen überall zu einem beträchtlichen Teil aus Juden. Wenn einerseits der alte Hass gegen die Juden stets dadurch lebendig erhalten wird, dass der Jude im Gewände des nationalen Gegners, als Deutscher erscheint, so wird andererseits der Judenhass auch auf die Deutschen überhaupt übertragen, zu denen der Jude dort gehört.

Kein zielbewusster Klassenkampf vermag den Hass des tschechischen Kleinbürgers gegen die deutschen Kolonien in seiner Mitte auszudrücken. Der Kleinbürger kann Ja gar keinen ernsthaften Kampf mit bestimmtem Ziel gegen die deutschen Kapitalisten führen; denn das einzige Mittel, das ihn von dem deutschen Fremdling befreien würde, die Vernichtung der Industrie im tschechischen Sprachgebiet, kann er nicht wollen. So bleibt auch ihm kein anderes Mittel, die Spannung der Leidenschaften zur Entladung zu bringen, als die Politik sinnloser Wut, die Politik zweckloser Demonstrationen, kleinlicher Gewalttätigkeit, zielloser Schikanen. So beginnt auch er – ganz wie der deutsche Kleinbürger– den Kampf gegen deutsche Aufschriften, gegen den Gebrauch deutscher Sprache, gegen deutsche Feste. Auch hier wird der Minderheit das an sich Wertlose ein hohes Gut, sobald man es ihr zu nehmen sucht. Der deutsche Student in Prag hält müßiges Spazierengehen, den „Bummel“ in der tschechischen Stadt schon für eine nationale Tat. Dieselbe nationale Spannung, die in Deutschböhmen die Zuwanderung tschechischer Arbeiter und Kleinbürger erzeugt, wird hier durch die Ansiedlung deutscher Kapitalisten und ihrer Angestellten geschaffen.

Während aber noch kleinbürgerlicher Hass den lärmenden, zwecklosen Kampf auf dem Markte führt, arbeitet in aller Stille der Kapitalismus weiter an seinem Werke der sozialen Differenzierung. Sein nächster Erfolg ist die Schaffung eines tschechischen Kapitals, einer tschechischen Bourgeoisie.

Die Entstehung einer tschechischen Bourgeoisie hängt zunächst mit der raschen Industrialisierung einiger tschechischer Gebiete zusammen. Vor allem ist es das Industriegebiet von Prag und Umgebung, das sich in den letzten Jahren ganz außerordentlich schnell entwickelt hat.

Den industriellen Charakter Prags und der mit ihm eng verbundenen Vorstädte belegt Rauchberg durch folgende Zahlen. Im Jahre 1900 gehörten dort von je 1.000 ortsanwesenden Personen zur

Land- und Forstwirtschaft

124

Industrie

475

Handel und Verkehr

210

Öffentlichem Dienst und freien Berufen

191

In der Industrie waren von je 1000 berufstätigen Personen:

Selbstständige

158

Angestellte

  41

Arbeiter

767

Taglöhner

  22

Mithelfende Familienmitglieder

  12

Die Zahl der Angestellten ist auffallend groß, die Zahl der mithelfenden Familienmitglieder auffallend klein. Beides deutet auf den kapitalistischen Charakter der Prager Industrie. Die verhältnismäßig große Zahl der Selbstständigen dürfte teils dadurch zu erklären sein, dass viele Unternehmer, die außerhalb Prags ihren Betrieb haben, in Prag leben, teils ist sie darauf zurückzuführen, dass in Prag wie in jeder Großstadt eine beträchtliche Zahl kapitalshöriger Handwerker lebt, die wirtschaftlich kaum anderes als Heimarbeiter sind, von der Statistik aber als Selbständige gezählt werden. Die Bevölkerung Prags und seiner Vororte vermehrt sich nun außerordentlich schnell. Sie betrug:

1880

  

276.260

1890

343.383

1900

437.053

Der Zuwachs beträgt 1881 bis 1890 24,20 Prozent, 1891 bis 1900 27,27 Prozent. Dieses Wachstum kommt wesentlich der Industrie zugute. Der Anteil der industriellen Bevölkerung an der gesamten ortsanwesenden Bevölkerung stieg 1890 bis 1900 um:

 

 

Prozent

Deutsche Bezirke

148,3

Bezirke mit deutscher Mehrheit

210,2

Bezirke mit tschechischer Mehrheit

    6,9

Prag und Umgebung

288,4

Andere tschechische Bezirke

  76,4

In keinem Sprachgebiet ist die Verschiebung der Bevölkerung in die Industrie so schnell vor sich gegangen wie im Prager Industriebezirk.

Nun waren zunächst auch im Prager Industriegebiet die Kapitalisten gewiss in der Regel Deutsche. Aber die schnelle industrielle Entwicklung erzeugt hier eine nationale Bourgeoisie. Die schnelle Steigerung der Grundrente infolge des Wachstums der Bevölkerung verwandelt manchen Prager Hausbesitzer in einen Kapitalisten. Die schnelle Entfaltung der industriellen Kräfte gibt manchem Kleinbürger Gelegenheit zu Extraprofiten und in der Hand des sparsamen Kleinbürgers wird der gewonnene Mehrwert zu Kapital. Selbst mancher kleine Gewerbsmann verwandelt sich in Zeiten schneller Industrialisierung in einen kleinen Kapitalisten.

Aber nicht nur auf dem Wege der Akkumulation, sondern auch auf dem Wege der Zentralisation entsteht tschechisches Kapital. Sparkassen und Genossenschaften sammeln die unzähligen kleinen KapitalsspHtter im Lande. Und indem sie nun ihre Kräfte vereinen, können größere tschechische kapitalistische Unternehmungen geschaffen werden, tschechische Aktiengesellschaften, eine große tschechische Bank, eine Versicherungsgesellschaft, Brauhäuser u.s.w.

Endlich entsteht die tschechische Bourgeoisie auch dadurch, dass Kapitalisten fremder Nationalität sich ihrer tschechischen Umgebung anpassen, im tschechischen Volke aufgehen. Besonders häufig trifft dies für die jüdischen Kapitalisten zu, deren Nachkommen sehr häufig die tschechische Schule und tschechische Umgebung der tschechischen Kulturgemeinschaft gewinnt. Haben sich doch bei der letzten Volkszählung bereits 55,2 Prozent der böhmischen Juden zur tschechischen Umgangssprache bekannt.

Die Entwicklung einer tschechischen Bourgeoisie hat an den nationalen Gegensätzen zunächst nichts geändert, sondern das junge tschechische Großbürgertum hat den nationalen Streit nur seinen Interessen dienstbar gemacht. Es ahmt auf höherer Stufe das Beispiel des tschechischen Kleinbürgers nach und macht seine Nationalität zu einem Kampfmittel der Konkurrenz, freilich der Konkurrenz jetzt nicht mehr auf einem engbegrenzten örtlichen Markt, sondern im ganzen Siedlungsgebiet des tschechischen Volkes. Nun wird es nationale Pflicht, tschechische Zündhölzer und tschechische Seifen zu kaufen, seine verfügbaren Kapitalien einer tschechischen Bank zur Verfügung zu stellen, sein Haus bei einer tschechischen Gesellschaft gegen Feuersgefahr zu versichern.

Aber nicht nur als Verkäuferin ihrer Waren, auch als Käuferin der Arbeitskraft nutzt die tschechische Bourgeoisie die nationale Spannung. Indem sie sich an die Spitze der Nation stellt und wirkliche oder angebliche nationale Interessen vertritt, will sie die Klassengegensätze verhüllen, sich die Gefolgschaft der tschechischen Arbeiter erhalten, den gemeinsamen Kampf der tschechischen und deutschen Arbeiter gegen die deutsche und tschechische Bourgeoisie verhindern oder doch wenigstens die. Armee der Arbeiterklasse durch die nationale Spaltung schwächen. So wird jener nationale Hass, den die Umwälzung aller überlieferten Verhältnisse durch den Kapitalismus, die Umsiedlung und Umschichtung der Bevölkerung erzeugt und in den Köpfen des Kleinbürgertums beider Nationen verdichtet hat, für die junge tschechische Bourgeoisie ein Werkzeug ihrer Interessen, ein Mittel, ihr den Absatz ihrer Waren und die Botmäßigkeit ihrer Arbeiter zu sichern. Ist das Kleinbürgertum der Träger, so ist die Bourgeoisie die Nutznießerin des nationalen Hasses.

Werfen wir einen Blick zurück auf das letzte Jahrhundert der Geschichte des tschechischen Volkes, so sehen wir zwei große Ereignisse: Im Zeitalter des Überganges von der Manufaktur und ländlichen Hausindustrie zur Fabrik das Erwachen der Nation aus dem Elend geschichtslosen Daseins, das die überlieferte rechtliche Ordnung der nationalen Verhältnisse unerträglich macht und schließlich zur nationalen Revolution führt; in der Zeit des Eindringens des modernen Kapitalismus, der schnellen Industrialisierung erst des deutschen, dann auch des tschechischen Landesteiles, das Erwachen und die fortwährende Steigerung des nationalen Hasses, der zur Triebkraft der nationalen Kämpfe wird. Die Entstehung des Fabrikssystems und die Überführung der Bevölkerung aus der Landwirtschaft in die Industrie sind aber Erscheinungsformen eines und desselben großen Prozesses, einer großen Veränderung im Aufbau der gesellschaftlichen Arbeit; ein immer größerer Teil der gesellschaftlichen Arbeit wird auf die Erzeugung der Produktionsmittel, ein immer geringerer unmittelbar auf die Herstellung der Verbrauchsgüter verwendet. Wenn an die Stelle der Manufaktur die Fabrik tritt, so verschiebt sich ein Teil der gesellschaftlichen Arbeit von der Konsumgüterproduktion in die Produktion der Maschinen. Wenn die Entwicklung der modernen Verkehrsmittel, der Eisenbahnen und der Dampfschifffahrt, die fruchtbaren Ländereien ferner Erdteile der Getreideversorgung Europas dienstbar macht; wenn die Vernichtung der alten Hausindustrie durch die modernen Fabriken, die Einführung der Maschinen in die Landwirtschaft die Bevölkerung aus der Landwirtschaft in die Industrie jagt, so bedeutet dies, dass ein großer Teil der gesellschaftlichen Arbeit der Erzeugung der Dampfmaschinen, der Spinnmaschinen, der Webstühle, Lokomotiven und Eisenbahnschienen, der Dampfschiffe und Hafenanlagen, der Kohle und des Eisens dient, die Gesellschaft aber weniger Arbeit unmittelbar an den Bau von Weizen und Korn, an die Herstellung unserer Kleidung verwendet. Diese Veränderung in der Verteilung der Arbeitenden, im Aufbau der gesellschaftlichen Arbeit, ist das große Gesetz der Entwicklung unserer Produktivkräfte. Ökonomisch tritt diese Veränderung der Produktivkräfte in Erscheinung in der Veränderung der Zusammensetzung des Kapitals: ein geringerer Teil des gesellschaftlichen Gesamtkapitals verharrt in der Gestalt variablen Kapitals, ein größerer Teil nimmt die Form des konstanten Kapitals an. Fortschritt zu höherer organischer Zusammensetzung bedeutet der Übergang von der Manufaktur zur Fabrik, der die Nation aus dem Schlafe der Geschichtslosigkeit geweckt hat; Fortschritt zu höherer organischer Zusammensetzung des Kapitals bedeutet die Überführung der Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft in die Industrie, die durch so vielfache Zwischenglieder den nationalen Hass, die treibende Kraft der nationalen Kämpfe zeugt. Wer es liebt, die ursächliche Erklärung komplizierter sozialer Erscheinungen in eine kurze Formel zu pressen, mag den Satz getrost wagen: Die Veränderung der Machtverhältnisse der Nationen in Österreich, die nationalen Kämpfe, sind eine der vielen gewaltigen Wirkungen des Fortschritts zu höherer organischer Zusammensetzung des Kapitals. Und wenn wir uns der anderen Wirkungen der gewaltigen kapitalistischen Umwälzung erinnern, die das ganze Bild des europäischen Kulturkreises verändert, mächtige Staaten von stolzem Dasein abwärts geführt und andere aus unscheinbaren Anfängen emporgehoben, die das Wesen der Menschen selbst, den Umfang und Inhalt unserer ganzen Kultur völlig verändert hat, so werden wir wohl sagen dürfen, dass die nationale Entwicklung in Österreich bei weitem nicht die bedeutendste, die folgenschwerste Wirkung jener völligen Umwälzung menschlicher Produktivkräfte ist. In geschichtlicher Distanz gesehen, ist der österreichische Nationalitätenkampf nichts als eine der minder beträchtlichen, minder bedeutsamen Begleiterscheinungen eines gewaltigen weltgeschichtlichen Umwälzungsprozesses, der ein neues Zeitalter in der Geschichte der Menschheit einleiten wird.


Fußnoten

1. Rauchberg, Der nationale Besitzstand in Böhmen, Leipzig 1905.

2. Wie sehr die ganze Beweisführung unserer Deutschnationalen von bourgeoisem Geiste getränkt ist, beweist folgender Satz:

„Unmittelbar von den Deutschen Böhmens, das heißt als direkte Arbeiter und Beamte werden mit jährlich 193.8 Millionen Kronen 196.750 tschechische Arbeitnehmer unterhalten. Das bedeutet unter Berücksichtigung der Angehörigen dieser Tschechen, dass mindestens 700.000 bis 800.000 Tschechen ohne weitere Zwischenvermittlung von den Deutschen leben, das ist mehr als ein volles Fünftel aller Tschechen Böhmens.“ Deutschböhmen als Wirtschaftsgroßmacht, Reichenberg 1903, I., S.22.

Werden wirklich die Arbeiter vom Kapitalisten „unterhalten“? Ist es nicht vielmehr so, dass die Arbeit der Arbeiter die ganze Gesellschaft erhält und das Privateigentum an Arbeitsmitteln dem Kapitalisten nur die Macht gibt, einen Teil des Arbeitsertrages der Arbeiter sich anzueignen?


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008