Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


IV. Die nationale Autonomie


§ 23. Nationale Autonomie der Juden?


Im Jahre 1905 schied aus der polnischen Sozialdemokratie in Galizien eine Gruppe von jüdischen Genossen aus, um eine eigene Organisation der jüdischen sozialdemokratischen Arbeiter zu begründen. Die Exekutive der internationalen Sozialdemokratie in Österreich erkannte jedoch die Bildung einer autonomen jüdischen Gruppe innerhalb der Partei nicht an, sondern erklärte, dass jene jüdischen Sozialdemokraten – die „Separatisten“ – sich durch ihren Austritt aus der polnischen Sozialdemokratie auch außerhalb des Kreises der österreichischen Internationale gestellt haben. Der unmittelbare Anlass des Ausscheidens eines kleinen Teiles der jüdischen Genossen aus der Gesamtpartei war nicht die Frage der Staatsverfassung, sondern die der Parteiorganisation; nicht um die nationale Autonomie der Juden im Staate, sondern um die Autonomie der jüdischen Gruppe innerhalb der Partei handelte es sich zunächst. Diese Frage der Organisation ist an dieser Stelle nicht zu behandeln. Aber sie kann nicht erledigt werden, wenn wir die Frage nicht aufwerfen, ob die Arbeiterschaft die Autonomie des jüdischen Volkes innerhalb des Staates fordern soll und muss. Wir müssen dieser Frage schon darum eine kurze Erörterung widmen, weil sonst unsere Theorie der Nation und der nationalen Autonomie zur Waffe der Separatisten im Kampfe gegen die Partei werden könnte.

Die Separatisten begründen ihre Forderungen mit dem einfachen Gedankengange: die Juden sind eine Nation; die Sozialdemokratie fordert für alle Nationen die nationale Autonomie im Staate und gewährt den Arbeitern aller Nationen die nationale Autonomie in der Partei; dasselbe Recht wie den anderen Nationen gebührt auch den Juden. Man hat diesen Gedankengang damit zu widerlegen gesucht, dass man seine erste Voraussetzung bestritt: die Juden, sagte man, seien eben keine Nation. Und in aller Regel verdichtete sich der Kampf dann zum Streit darum, ob die Siedlung auf einem eigenen Territorium ein wesentliches Merkmal der Nation ist und ob nicht die nationale Autonomie notwendig auf das Territorialprinzip gegründet werden muss. Im Kampfe gegen die Separatisten haben die polnischen Genossen vielfach ihren Beweisgründen eine Theorie der Nation zugrunde gelegt, die im gemeinsamen Territorium ein „Element“ der Nation findet und haben sie als die Gestalt der nationalen Autonomie, die sie fordern, die Selbstverwaltung der geschlossenen Siedlungsgebiete der Nationen erklärt. Ich halte jene Theorie für unrichtig und glaube, dass dieses Programm der Staatsverfassung den Bedürfnissen der Arbeiterklasse nicht genügt. Trotzdem birgt sich in diesen Beweisgründen der polnischen Genossen gegen die Separatisten in vielem Unrichtigen ein echter Kern, Wir wollen es versuchen, ihn herauszuschälen. Wir werden uns diese Mühe nicht verdrießen lassen, wenn wir uns erinnern, dass die letzte Berufserhebung unter den österreichischen Juden 42.681 Angestellte, 81.455 Arbeiter, 31.567 Taglöhner und 16.343 Dienstboten ermittelt hat und dass überdies zu den 235.775 Juden, die die Statistik als Selbständige anführt, sehr viele proletarische Existenzen, kapitalshörige Handwerker und Heimarbeiter gehören. Die Frage ist also für die sozialdemokratische Arbeiterpartei wichtig genug, um diesen Exkurs zu rechtfertigen.

Als Fremde waren die Juden in die feudale Gesellschaft des Mittelalters gekommen. An ihrer Wirtschaftsverfassung hatten sie keinen Teil: die Markgenossenschaften waren aus den alten auf Blutsverwandtschaft beruhenden Sippschaftsverbänden hervorgegangen, der fremde Jude konnte daher nicht ihr Mitglied sein. Und als auf Grundlage der uralten genossenschaftlichen Verbände die herrschaftlichen Organisationen erwuchsen, finden wir auch im Verbände der Grundherrschaft den Juden nicht. Welche Stellung konnte er also in der Wirtschaftsverfassung jener Zeit einnehmen?

Der Bauer und Grundherr des Mittelalters ist nicht Warenproduzent: er erzeugt grundsätzlich für den eigenen Bedarf, nicht für den Verkauf. Wohl tauscht er seine Überschüsse gelegentlich aus, aber dieser Austausch ist im Grunde immer etwas Fremdes, eine Ausnahme. So besitzt auch weder der Grundherr noch der Bauer in der Regel größere Geldbeträge: der größte Teil seines Reichtums besteht in Gebrauchswerten, in Getreide, Flachs, Vieh u.s.w. oder in Ansprüchen auf fremde Arbeitsleistung. Warenzirkulation, Zirkulation von Geldkapital, also Geldwirtschaft überhaupt sind dieser Gesellschaftsverfassung im Grunde fremd; das Geldkapital lebt, nach Marx’ anschaulichem Ausdruck, nur in ihren Poren. In diese Lücken jener Gesellschaft springt nun der Jude ein. An der großen Masse der wirtschaftlichen Vorgänge jener Zeit, die sich im Bauernhause, in der Mark- und Hofgenossenschaft, in der Grundherrschaft abspielen, hat er keinen Teil. Aber wenn der Bauer einmal etwas kaufen will, so bringt ihm der jüdische Hausierer die Ware; wenn der Bauer sein Vieh verkaufen will, so nimmt der Jude es ihm ab; wenn der Bauer Geld borgen will, so bietet es ihm der Jude gegen hohen Zins. So ist der Jude der Vermittler der Warenzirkulation und der Zirkulation des Geldkapitals in einer Gesellschaft, die auf der Gütererzeugung für den eigenen Bedarf beruht. Der Bauer verkauft nur gelegentlich den Überschuss seines Ertrages, um für den Erlös andere Güter kaufen zu können; der Jude dagegen kauft immer, um das Gekaufte mit Gewinn wieder zu verkaufen. Der Bauer ist der Träger der Naturalwirtschaft, der Jude verkörpert die Geldwirtschaft. Dieses Verhältnis dauert überall so lange, solange nicht der Kapitalismus die ganze Masse der Bevölkerung in die Warenproduktion, die Geldwirtschaft einbezieht. In Osteuropa ist auf dem Lande auch heute noch der Jude als Hausierer, Branntweinschenker, Vieh- und Getreidehändler, Makler, Wucherer, Handwerker, der Vertreter der Geldwirtschaft in einer naturalwirtschaftlichen Gesellschaft.

In jener Zeit waren die Juden unzweifelhaft eine Nation. Dass die Juden ihre Rasse wenigstens ebenso rein erhalten haben, wie die Mehrzahl der europäischen Nationen, dass das Schicksal der Ahnen durch Auslese und natürliche Vererbung die Eigenart der Nachkommen bestimmte und die Juden zu einer Naturgemeinschaft straff verknüpfte, kann wohl nicht bezweifelt werden. Aber nicht nur die Gemeinschaft des Blutes, auch die Gemeinschaft der Überlieferung der Kulturgüter schloss um die Juden ein enges Band. Sie hatten eine eigene Sprache, eine eigene starke Ideologie, eigene Sitten, die sie schon äußerlich von den Völkern unterschieden, unter denen sie wohnten. An den Schicksalen der Nationen, in deren Mitte sie lebten, hatten sie, von ihrem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben ausgeschlossen, nur geringen Teil, sie handelten wohl mit ihnen, aber sie lebten nicht mit ihnen, sie hatten ihr eigenes Schicksal, ihre eigene Geschichte, darum auch ihre eigene Kultur. „Ich will mit euch kaufen und verkaufen,“ sagt Shylock, „mit euch gehen und stehen, aber ich will nicht mit euch essen, mit euch trinken, noch mit euch beten.“ Das Band des wirtschaftlichen Verkehres, das den Juden mit den Bauern verknüpfte, war viel schwächer als die enge Verkehrsgemeinschaft mit den anderen Juden, die Verschiedenheit der geldwirtschaftlichen und der naturalwirtschaftlichen Kultur unvergleichlich stärker als die Gleichheit, die die gegenseitige Berührung beim Abschluss von Kauf, Verkauf und Darlehen erzeugte. So blieben die Juden mitten zwischen anderen Völkern eine eigene Nation.

Aber mit dem Fortschritte der kapitalistischen Produktionsweise ändert sich auch die Stellung der Juden in der Gesellschaft. [1] Zunächst rückt ein Teil der Juden in die Klasse der industriellen Bourgeoisie auf. Die Geldkapitalien, die sie angesammelt haben, die kapitalistische Psychologie, die ihre Beschäftigung mit Handel und Wucher in ihnen erzeugt hat, befähigen sie dazu. Die merkantilistischen Regierungen fördern das Streben reicher Juden, ihr Kapital der Industrie zuzuwenden. Das neue jüdische Großbürgertum entfernt sich nun immer weiter von der Lebens- und Denkweise jener Juden, die in den alten überlieferten Lebensverhältnissen verharren; es tritt zu seinen christlichen Klassengenossen in immer engere Verkehrsbeziehungen; die überlieferte Ideologie des Judentums genügt ihm nicht mehr und gierig nimmt es die Bildung und die Ideologien der Zeit, die Gedanken der Aufklärung in sich auf. Im 18. Jahrhundert beginnt die jüdische Bourgeoisie sich aus der alten jüdischen Kulturgemeinschaft loszulösen und in die Kulturgemeinschaften der europäischen Völker einzugliedern. Die jüdische Bourgeoisie fängt an, sich den Völkern, in deren Mitte sie lebt, anzupassen, zu assimilieren.

Allmählich erfasst diese Bewegung auch die anderen Klassen des jüdischen Volkes. Am schnellsten wird die Intelligenz von ihr ergriffen, aber auch das Kleinbürgertum folgt allmählich nach. Die Lage des jüdischen Händlers im Industriegebiet oder in der Stadt ist eine ganz andere als die seines Großvaters im Dorfe, der der einzige Vertreter der Geldwirtschaft in einer Welt bäuerlicher Naturalwirtschaft war. Die Geldwirtschaft hat die ganze Gesellschaft ergriffen, die Christen selbst sind Juden geworden. Der jüdische Händler in der Stadt ist Warenverkäufer in einer Gesellschaft von Warenverkäufern, er hat den Wettbewerb seines christlichen Kollegen zu fürchten, er muss sich den Bedürfnissen der Kundschaft anpassen, muss mit ihr ihre Sprache sprechen, muss ihren Geschmack befriedigen, darf sie durch fremde Art nicht verletzen, wenn er bestehen will. So legt er nach und nach die überlieferte Kleidung, die überlieferte Sprache, die überlieferten Sitten seines Volkes ab und wird seiner Umgebung mehr und mehr ähnlich.

Diese allmähliche Anpassung der Juden an ihre Umgebung ist eine Wirkung der Tatsache, dass die kapitalistische Warenproduktion allmählich die gesamte Bevölkerung umfasst. Waren die Juden einst die einzigen Träger der Geldwirtschaft, so durchdringt die Geldwirtschaft nun die ganze Gesellschaft. Die Juden passen ihre Kultur der Kultur der europäischen Nationen an, seit die Geldwirtschaft, die einst nur die Juden vertraten, zur Wirtschaftsverfassung aller europäischen Völker wurde. „Weil das reale Wesens des Juden in der bürgerlichen Gesellschaft sich allgemein verwirklicht, verweltlicht hat,“ [2] darum passt sich der Jude dem allgemeinen Wesen dieser bürgerlichen Gesellschaft an.

Diese tatsächliche Anpassung hat schließlich die rechtliche Emanzipation der Juden, ihre rechtliche Gleichstellung mit den Christen herbeigeführt. „Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind.“ [3] Und diese rechtliche Gleichstellung hat die tatsächliche Anpassung dann wiederum ihrerseits gefördert. Seit auch der Jude am öffentlichen und politischen Leben der Nationen teil hat, auch das jüdische Kind die öffentliche Volksschule besucht und auch der Jude im Heer seine Wehrpflicht erfüllt, geht die kulturelle Anpassung der Juden schnell vor sich.

Aber der entscheidende Augenblick für sie ist doch erst gekommen, seit der Bauer zum modernen Landwirt, zum reinen Warenproduzenten geworden ist. Nun erst befreit sich der Bauer überall vom jüdischen Händler und jüdischen Wucherer. Der Verkehr des Bauern mit der Stadt wird enger, er deckt in der Stadt durch Einkauf seine Bedürfnisse und verschafft sich dort das Darlehen, dessen, er bedarf, er ist auf den Dorfjuden und Hausierer nicht mehr angewiesen. Die Eisenbahnen erleichtern diese Entwicklung, da sie den Bauer der Stadt näher bringen. Am wirksamsten aber bekämpfen die landwirtschaftlichen Genossenschaften, die den Bauer erst zum reinen Warenproduzenten machen, die ihm Kredit verschaffen und Einkauf und Verkauf für ihn besorgen, den Juden im Dorfe. Der Jude muss seine alte geldwirtschaftliche Vermittlerrolle auf dem Lande aufgeben und sich anderen Berufen zuwenden. Seit Jahrhunderten im Handel beschäftigt, will er auch in der Stadt oder im Industriegebiet zuerst den Handel betreiben. Aber der Handel kann so vielen Händen nicht mehr Beschäftigung bieten hat doch in der kapitalistischen Gesellschaft auch im Handel die Konzentration der Betriebe längst begonnen, ersetzt doch ein Warenhaus oder ein Konsumverein Hunderte von kleinen Händlern. So werden die Juden allmählich in die anderen Berufe hineingezwungen sie verstreuen sich über das Land, sie verteilen sich auf alle Produktionszweige und überall treten sie in immer engeren wirtschaftlichen Verkehr mit der Bevölkerung, überall passen sie sich ihr kulturell mehr und mehr an.

So beginnen die Juden, sich den Nationen, in deren Mitte sie leben, zu assimilieren. Es ist dies ein schwerer Prozess, der sich nur allmählich vollzieht. Sie haben ihre alte jüdische Sprache in Mitteleuropa längst vergessen, aber sie „mauscheln“ noch immer; und wenn sie selbst dies nicht mehr tun, so sprechen sie die Sprache, die sie angenommen, doch immer noch, -wie man eine fremde Sprache spricht, als Buchsprache, ohne jede Erinnerung an die Mundart des Ortes. Sie tragen die überlieferte jüdische Kleidung nicht mehr, aber man erkennt sie als Juden noch am Gebärdenspiel. Sie haben die alte jüdische Religion längst aufgegeben, aber auf ihr an Gedanken- und Gefühlsinhalt so armes Reformjudentum wollen sie nicht verzichten. Sie kennen die alte Literatur, die alten Sagen ihres Volkes nicht mehr, aber kümmerliche Reste von all dem, einzelne Worte und einzelne Sitten, erhalten sie mit großer Zähigkeit. Sie verkehren mit den Menschen, unter denen sie leben, aber sie heiraten nur untereinander und haben ein starkes Bewusstsein ihrer Eigenart und ihrer Zusammengehörigkeit. Der Prozess ihrer Loslösung aus der alten jüdischen Kulturgemeinschaft und ihrer Eingliederung in die Kulturgemeinschaften der anderen Nationen ist noch nicht abgeschlossen, er ist noch im Gange. Darum betrachten auch die Völker den Juden immer noch als einen Fremden. Man sagt heute selbst in West- und Mitteleuropa vielleicht zuviel, wenn man behauptet, dass die Juden keine Nation sind. Aber man darf gewiss behaupten, dass sie aufhören, eine Nation zu sein.

In Ländern, in denen der Kapitalismus sein Werk der Umwälzung schnell vollbracht hat, geht auch der Prozess der Assimilierung schnell vor sich. Ein deutliches Zeichen des Fortschrittes dieses Prozesses ist das Verschwinden der alten Judenschulen. So wurden in Böhmen von den israelitischen Kultusgemeinden im Jahre 1890 noch 86, im Jahre 1900 nur mehr 28 Privatschulen erhalten. Von diesen Schulen liegen 27 in tschechischen Schulbezirken: in den deutschen Schulbezirken besuchen die Judenkinder also bereits durchwegs die öffentlichen Schulen. Aber auch in den tschechischen Bezirken assimilieren sich die Juden der Mehrheit: haben sich doch bei der letzten Volkszählung bereits 55.2 Prozent der Juden in Böhmen zur tschechischen Umgangssprache bekannt.

Langsamer vollzieht sich die Eingliederung der Juden in die Kulturgemeinschaften der anderen Nationen in Galizien und der Bukowina. Dies liegt zunächst daran, dass dort die Juden in größeren Massen zusammenwohnen – von den 1.224.711 österreichischen Juden wohnten 811.183 in Galizien, 96.150 in der Bukowina – den einzelnen Juden daher engerer Verkehr mit seinesgleichen verknüpft. Ferner ist dies darauf zurückzuführen, dass die Juden in Galizien zu einem beträchtlichen Teile den unteren Bevölkerungsklassen angehören, den unteren Schichten des Kleinbürgertums und dem Proletariat – Klassen, die neue Bildungselemente schwerer aufnehmen als die Bourgeoisie und die Intelligenz. Die Hauptursache der langsameren Assimilierung ist aber die wirtschaftliche Rückständigkeit dieser Länder. Die Verbreitung der kapitalistischen Warenproduktion, die Verwandlung des Bauern in einen reinen Landwirt geht hier nur langsam vor sich; erst seit kurzem haben auch hier die landwirtschaftlichen Genossenschaften begonnen, den jüdischen Zwischenhandel und Wucher auszuschalten. Aber welches immer das Tempo des Assimilierungsprozesses sein mag, es unterliegt keinem Zweifel, dass er überall vor sich geht: der Kapitalismus und der moderne Staat sind überall am Werke, das alte Judentum zu zerstören. Das gilt selbst für das russische Reich, mag auch dort die Rückständigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung, der Mangel eines öffentlichen Lebens und die Gesetzgebung, die die Juden künstlich im Ansiedlungsgebiet zusammengepfercht hat, statt ihre Zerstreuung über das Reich zu begünstigen, diesen Prozess aufgehalten haben. Nach dem Urteil aller einwandfreien Zeugen zerreißt doch auch dort die soziale Entwicklung allmählich die alten Bande, die das Judentum durch Jahrhunderte so stark zusammenhielten. [4]

Der Prozess der Assimilation hat, wie wir bereits erwähnten, die verschiedenen Klassen in ungleichem Grade ergriffen. Überall erfasst er zuerst und am stärksten die Bourgeoisie und die Intelligenz. In West- und Mitteleuropa sind auch Kleinbürger, Angestellte und Arbeiter gefolgt. In Osteuropa dagegen leben noch Millionen nicht assimilierter Juden, die überwiegend den unteren Volksschichten angehören. Diese jüdischen Kleinbürger und Arbeiter in Russland, Polen, Litauen, in Galizien und in der Bukowina, in Rumänien u.s.w. bilden heute die jüdische Nation. Sie haben die überlieferte jüdische Sprache und Gesittung noch bewahrt. Wir kennen bereits den Typus solcher Nationen, die sich nur aus den ausgebeuteten und beherrschten Klassen zusammensetzen, denen die Reichen und Herrschenden nicht angehören : sofern die heutigen Juden in Europa noch eine Nation bilden, tragen sie den Charakter einer geschichtslosen Nation. Weil ihnen die Klassen nicht angehören, die in der Klassengesellschaft vor allem die Träger kultureller Entwicklung sind, ist ihre Kultur verkümmert, ihre Sprache verkommen, haben sie keine nationale Literatur. Das 19. Jahrhundert hat nun, wie wir wissen, alle geschichtslosen Nationen zu neuem Leben erweckt. Wird das 20. Jahrhundert auch der jüdischen Nation die Möglichkeit neuer, selbständiger Kulturentwicklung geben?

Im letzten Jahrzehnt hat in der Tat eine Bewegung eingesetzt, die dem Assimilierungsprozess entgegenarbeitet und auch aus den Juden eine selbstständige historische Nation machen will. Man betrachtet diese nationale Bewegung der Juden gewöhnlich als eine Rückwirkung des Antisemitismus. Und in der Tat mag der Antisemitismus der unmittelbare Anlass gewesen sein, der sie ausgelöst hat. Aber so gewiss er sie verstärkt, unter den assimilierten Juden, insbesondere unter der jüdischen Intelligenz, Teilnahme und Verständnis für die nationalen Regungen der nicht assimilierten Juden des Ostens erweckt hat, so liegen doch dieser ganzen Bewegung tiefere soziale Ursachen zugrunde. Diese neue Bewegung ist von denselben Kräften getrieben, die auch die anderen geschichtslosen Nationen zu neuem Kulturleben erweckt haben. Da ist zunächst das soziale Erwachen der unteren Klassen, das Erwachen ihres Selbstbewusstseins: der jüdische Arbeiter fühlt sich nun nicht mehr minder wert als der reiche und gebildete Pole oder auch der reiche Jude, der die polnische Bildung in sich aufgenommen hat. Und wie das Bewusstsein persönlicher Würde in ihm erwacht, so trägt er auch seine Eigenart stolz zur Schau, er schämt sich seiner Sprache und seiner eigenartigen Gesittung nicht mehr. Welche Wandlung in den Köpfen der jüdischen Arbeiter sich vollzogen hat, das hat Europa seit dem Beginn der russischen Revolution staunend gesehen; aus den furchtsamen demütigen Juden des Ghetto sind die heldenmütigsten Kämpfer der großen Revolution hervorgegangen. Und diese Massen leben nun nicht mehr träge im Kreise der Überlieferung: sie brauchen eine neue Kultur, sie beginnen sich eine neue Kultur zu schaffen. Jüdische Organisationen entstehen, in den Versammlungen werden in jüdischer Sprache die neuen Kulturwerte den Massen vermittelt, es entsteht eine Presse in jüdischer Sprache, man beginnt die Literatur der europäischen Nationen in den Jargon zu übersetzen und bald zeigen sich auch erste Anfänge einer neuen selbständigen jüdischen Literatur. Und der neue revolutionäre Geist ergreift nun auch die Intelligenz. Auch sie beginnt ihre Kräfte in den Dienst der neuen Kulturbewegung zu stellen, sie, die den nicht assimilierten Juden immer nur verhöhnt und verspottet hat, sieht nun in ihm den ausgebeuteten Proletarier und den revolutionären Kämpfer. Sie will seine Sprache kennen und lernt sie wie eine fremde Sprache, da sie ja den Jargon längst vergessen hat. Sie wendet sich in Wort und Schrift an die jüdischen Massen, sie ist es, die ihre Literatur zu schaffen beginnt. Wir haben diesen ganzen Prozess bereits einmal beschrieben, als wir darstellten, wie das tschechische Volk aus geschichtslosem Dasein erwacht ist. Sehen wir hier nicht dieselben Kräfte wirksam wie dort: das Erwachen der unteren Klassen zu neuem Selbstbewusstsein: das Vordringen des revolutionären Geistes, der auch die oberen Klassen erfasst und verhindert, dass jeder, der Reichtum, Bildung oder soziale Würde erlangt, der nationalen Kulturgemeinschaft verloren geht und in eine fremde Kulturgemeinschaft Aufnahme sucht; die Entstehung eines „Publikums“ für die neue nationale Geisteskultur; die Entstehung einer neuen nationalen Literatur; werden nicht dieselben Kräfte, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die tschechische Nation zu neuem Kulturleben erweckt haben, nun auch bei den nicht assimilierten Juden Russlands, Polens und Litauens eine neue Blüte nationaler Kultur hervorrufen, dem Prozess der Assimilierung ein Ende bereiten?

Kein Zweifel, auch im Osten sind die Kräfte wirksam und werden immer stärker wirksam werden, die die Juden Mittel- und Westeuropas aus der alten jüdischen Kulturgemeinschaft losgelöst und sie den Kulturgemeinschaften der anderen Nationen eingegliedert haben. Aber andererseits sehen wir nun im Osten auch eine Tendenz wirken, die die noch nicht assimilierten Juden zum Range einer historischen Nation zu erheben strebt. So sehen wir Tendenz gegen Tendenz: welche der beiden Entwicklungsrichtungen wird stärker ein?

Wir können die Frage vielleicht am leichtesten beantworten, wenn wir die Bedingungen für die kulturelle Entwicklung der Nationaljuden mit jenen sozialen Bedingungen vergleichen, unter denen die tschechische Nation den Weg vom geschichtslosen zu historischem Dasein zurückgelegt hat.

Der eigentliche Sitz der tschechischen Wiederbelebung waren die geschlossenen Siedlungsgebiete des tschechischen Volkes. Die Massen des tschechischen Volkes standen hier nur mit ihresgleichen in Verkehr, nicht mit fremden Nationen. Nur diejenigen Tschechen, die in die oberen sozialen .Schichten aufstiegen, wurden hier germanisiert. Die Ursache der ganzen Bewegung war nun tue psychologische Wandlung der breiten Massen, die die soziale Umwälzung bewirkt hatte. Für die Massen der tschechischen Kleinbürger, Bauern und Arbeiter bedeutete das Erwachen der Nation nicht eine Veränderung ihrer Nationalität, sondern nur eine Veränderung im Wesen der Nationalität: an die Stelle der trägen Überlieferung uralter nationaler Kulturgüter trat das Bedürfnis nach neuer nationaler Kultur, die Fähigkeit, neue Kulturgüter zu schaffen und zu genießen.

Hier lagen also die Verhältnisse wesentlich anders als bei den Juden. Die Juden haben kein geschlossenes Siedlungsgebiet. Allerdings wohnen sie in manchen Städten Russlands und Polens in größeren Massen. Aber die überwiegende Mehrzahl von ihnen wohnt doch als kleine Minderheit inmitten fremder Völker und es besteht zweifellos die Tendenz, auch die noch geschlossenen Massen der Juden im Osten noch weiter zu zersprengen. Mögen immerhin einige große Judenstädte sich erhalten, die Masse der Juden wird als kleine Minderheit mitten unter den anderen Völkern leben. Diese Juden nun kommen, wie wir bereits ausgeführt haben, in immer engeren Verkehr mit der übrigen Bevölkerung. Die Verkehrsgemeinschaft, die sie mit den Massen verknüpft, mit denen sie zusammen leben, zusammen arbeiten, deren Sprache sie sprechen, deren Bedürfnissen sie sich anpassen müssen, wird immer enger werden. Wenn der alte jüdische Händler und Wucherer inmitten einer Gesellschaft naturalwirtschaftlicher Bauern seine nationale Eigenart sich bewahren konnte, so tritt dagegen der moderne jüdische Industrielle, Kaufmann, Advokat, Arzt, Handwerker, Arbeiter in immer engeren Verkehr mit den Massen seiner christlichen Berufskollegen und Kunden; dieser engere Verkehr zwingt ihn, auch seinen Kindern dieselbe Erziehung angedeihen zu lassen, dieselben Bildungselemente aufzunehmen, dieselben Lebensgewohnheiten anzunehmen wie sie. Die enge Verkehrsgemeinschaft wird notwendig zur Kulturgemeinschaft. Man sieht: die Bedingungen für die nationale Entwicklung der Juden sind ganz andere als die für die Tschechen. Das Erwachen der tschechischen Kultur bedeutete keine Veränderung der Verkehrsgemeinschaft, sondern nur eine Veränderung der Art des Verkehrs, indem an Stelle bloßer Überlieferung spärlicher Kulturgüter im Verkehr Neuerschaffung neuer Kulturgüter trat. Zu solcher kultureller Entwicklung wäre zweifellos auch die jüdische Nation fähig; wenn die Verkehrsgemeinschaft der Juden untereinander so eng, ihr Verkehr mit den anderen Nationen so spärlich blieben, dass die Juden eine Nation bleiben könnten, dann würde diese Nation sich zweifellos von einer geschichtslosen zu einer historischen Nation entwickeln. Aber glücklicher- oder unglücklicherweise werden die Juden, in immer engeren Verkehr mit den anderen Nationen hineingezwungen, so dass sie ihre kulturelle Sonderart nicht erhalten können-, und wenn die kulturelle Sonderart überhaupt nicht erhalten bleibt, so ist auch der Fortschritt der nationalen Kultur nicht möglich. Die Juden würden eine historische Nation werden, wenn sie überhaupt eine Nation blieben; aber die kapitalistische Gesellschaft lässt sie überhaupt nicht als Nation bestehen.

Hier können wir nun das Schlagwort, die Juden könnten keine Nation bleiben. weil sie kein Territorium haben, auf seine Richtigkeit prüfen. Behauptet man allgemein, ein geschlossenes Siedlungsgebiet sei die Voraussetzung der Erhaltung einer Nation, so ist das unrichtig. Die Geschichte der Juden, die sich soviele Jahrhunderte lang ohne den Besitz eines eigenen Territoriums als Nation behauptet haben, widerlegt diese Meinung. Aber wir wissen nun, wie dies möglich war: die Juden, als Vertreter der Geldwirtschaft innerhalb einer naturalwirtschaftlichen Welt, hatten, trotzdem sie inmitten der europäischen Völker wohnten, mit ihnen nur so lockere Verkehrsgemeinschaft, dass sie ihre eigene Kulturgemeinschaft erhalten konnten. Die kapitalistische Entwicklung, die die alte Naturalwirtschaft überall zerstört und durch die kapitalistische Warenproduktion die Geldwirtschaft zur allgemeinen Verfassung der Gesellschaft und so, wie Marx sagt, die Christen selbst zu Juden gemacht hat, macht die Juden zu Christen. Das Territorium ist nicht Bedingung nationalen Daseins, soweit Gemeinschaft der Wohnsitze noch nicht Verkehrsgemeinschaft bedeutet; in dem Augenblick aber, in dem Juden und Christen nicht mehr verschiedene Wirtschaftsverfassungen verkörpern, sondern alle als Organ derselben Wirtschaftsverfassung, der kapitalistischen Produktionsweise, tätig sein müssen, bewirkt die Gemeinschaft des Wohnsitzes so enge Gemeinschaft des Verkehrs, dass die Erhaltung kultureller Sonderart innerhalb dieser Gemeinschaft nicht dauernd möglich ist.

Man wird uns nun entgegenhalten, dass doch auch die anderen Nationen sich als Minderheiten in fremden Siedlungsgebieten erhalten können und dass gerade wir die rechtlichen Bedingungen für ihre Erhaltung gefordert haben. In der Tat verschwinden die tschechischen Minderheiten im deutschen Sprachgebiete nicht, sondern wachsen von Tag zu Tag und zweifellos haben auch diese Minderheiten an der kulturellen Entwicklung ihrer Nation nicht geringen Teil. Aber auch hier gilt es scharf zu unterscheiden. Soweit diese Minderheiten keinen Zuzug aus dem geschlossenen Siedlungsgebiete der Nation erhalten, bröckeln sie in der Tat allmählich ab. Dies wird auch geschehen, wenn ihnen auch die nationale Autonomie nationale Schulen und Rechtshilfe sichern wird. Der enge Verkehr mit der Mehrheit lässt sie allmählich dahinschwinden. Dies gilt selbst für bäuerliche Minderheiten, trotz der Zähigkeit, mit der der Bauer seine Sonderart erhält. Die deutschen bäuerlichen Kolonisten im tschechischen Teile Böhmens verschwinden allmählich ebenso wie etwa die letzten Reste der einstigen tschechischen Siedlungen im Bezirke Mies. Es gilt dies natürlich in noch viel höherem Grade von bürgerlichen und proletarischen Minderheiten in der Stadt. Wenn sich die tschechischen Minderheiten im deutschen Sprachgebiet nicht nur erhalten, sondern sogar wachsen, so liegt dies daran, dass sie fortwährend aus den tschechischen Gebieten Zuzug erhalten, der die an die nationale Mehrheit abgefallenen Volksgenossen ersetzt. Die Einwanderer bringen zunächst in das deutsche Gebiet die tschechische Kultur ihrer Heimat mit. Dort wurde das Interesse für das öffentliche Leben, für die kulturelle Entwicklung der Nation in ihnen erweckt. Dadurch wurden sie mit dem gesamten tschechischen Volke durch engen kulturellen Verkehr verknüpft. Wenn sie nun in das deutsche Gebiet kommen, so haben sie das Bedürfnis, diesen ihnen lieb gewordenen Verkehr weiter zu pflegen: sie lesen tschechische Zeitungen, tschechische Bücher, bilden tschechische Vereine. Darauf beruht es ja, dass die tschechischen Minderheiten desto schwerer germanisiert werden können, je weiter die kapitalistische Entwicklung fortschreitet: je mehr Anteil die breiten Massen an der nationalen Kultur haben, desto enger ist das Band geistigen Verkehres, das sie mit der Gesamtheit der Nation verknüpft, desto stärker die Kraft, die sie der Anziehungskraft der Mehrheit entgegensetzten. Die nationale Zähigkeit der tschechischen Minderheiten im deutschen Gebiete wurzelt also in der inneren kulturellen Entwicklung des geschlossenen tschechischen Gebietes, aus dem die Arbeiter und Kleinbürger in das deutsche Sprachgebiet wandern. Es ist die Kraft der nationalen Entwicklung der Heimat, welche sie auch noch im fremden Lande national erhält. Ein Teil dieser Einwanderer kehrt nach wenigen Jahren wieder in die tschechische Heimat zurück – die Zeit ist hier zu kurz, als dass sie der deutschen Kulturgemeinschaft gewonnen werden könnten. Hier ist es unmittelbar die Beziehung zum geschlossenen tschechischen Gebiete, die Möglichkeit der Rückwanderung, die die nationalen Minderheiten stetig erhält – denn wenn Hunderte von Tschechen alljährlich aus dem deutschen Sprachgebiet zurückwandern, so werden sie doch gleichzeitig durch Hunderte neuer Einwanderer ersetzt, die nach wenigen Jahren dann gleichfalls neu einwandernden Volksgenossen Platz machen. Aber auch soweit die tschechischen Einwanderer im deutschen Gebiete dauernd bleiben, stärken sie die Widerstandskraft der schon bestehenden nationalen Minderheit: die neuen Einwanderer suchen stets mit den Volksgenossen, die in der Stadt schon siedeln, Verkehr und geben daher fortwährend den schon sesshaft gewordenen Tschechen Verkehr mit ihresgleichen; dadurch wird das Band, das die sesshafte Minderheit mit ihren Volksgenossen verknüpft, verstärkt, ihre Widerstandskraft gegen die Anziehung der Mehrheit erhöht. Trotzdem bröckelt der wirtschaftliche Verkehr von dieser Minderheit fortwährend Menschen ab, aber sie erhält sich gleichwohl zahlenmäßig unverändert, weil der Zuzug aus dem tschechischen Siedlungsgebiete niemals aufhört. Das ist das Geheimnis der Widerstandskraft der tschechischen Minderheiten: dass der Prozess der Wanderung aus dem agrarischen Gebiete in das Industriegebiet stetig vor. sich geht, dass jede günstige wirtschaftliche Konjunktur ihn stärkt, dass er niemals völlig aufhört.

Man kann dergleichen sehr wohl auch bei den Juden beobachten. Auch hier vollzieht sich vielfach ein Zuzug aus dem Osten, aus Gemeinden nicht assimilierter Juden in Judengemeinden, deren Mehrheit bereits vom Prozess der Assimilierung ergriffen ist. Und auch dadurch wird zweifellos der Prozess der Assimilierung gehemmt: der Verkehr mit nicht assimilierten Volksgenossen erhält auch die Juden des Westens auf einer tieferen Stufe der kulturellen Anpassung an die europäischen Nationen. Trotzdem kann der Prozess der Assimilierung dadurch nur verlangsamt, nicht verhindert werden. Die Kraft, die die Juden zum Verkehr mit der Mehrheit der Bevölkerung und daher zu kultureller Anpassung an sie zwingt, ist stärker als dieses Hindernis. Aber es leuchtet ein, dass die Schnelligkeit der ganzen Bewegung noch wesentlich vergrößert werden wird, wenn dieses Hindernis wegfällt. Für die Juden West- und Mitteleuropas ist dies in der Regel heute schon der Fall. Der kulturelle Abstand, der sie von den Ost-Juden trennt, bewirkt, dass sie auch mit den Ost-Juden, die in ihre Länder einwandern, kaum noch irgendwelchen Verkehr pflegen, der ihre Assimilierung verlangsamen könnte. Immerhin aber entstehen in den größeren Judengemeinden dadurch immer wieder von neuem nicht assimilierte Minderheiten, deren Anpassung an ihre Umgebung durch den fortwährenden Zuzug aus dem Osten verlangsamt wird. Denken wir uns aber, dass der Kapitalismus die wirtschaftlichen Verhältnisse des Ostens verändert, dass die russische Revolution den russischen Juden die Freizügigkeit schenkt, dass die Demokratie auch die Juden des Ostens mehr und mehr im öffentlichen Leben mit den Nationen, in deren Mitte sie leben, zusammenführt, so wird auch im Osten der Assimilierungsprozess beginnen und es wird jener Quell versiegen, aus dem in die nicht assimilierten Minderheiten des Westens immer neuer Zufluss strömt.

Die tschechischen Minderheiten im deutschen Gebiete schöpfen also aus dem unmittelbaren Wanderverkehr und aus den geistigen Verkehrsbeziehungen mit dem geschlossenen tschechischen Sprachgebiete ihre Kraft. Den Juden fehlt diese Kraftquelle. Es ist also richtig, dass die Juden ihre Nationalität darum nicht erhalten können, weil sie kein eigenes Siedlungsgebiet haben. Aber dies bedeutet nicht, dass ein eigenes Territorium überall Voraussetzung nationaler Erhaltung ist. Nur als Bedingung der Verkehrsgemeinschaft kommt das Siedlungsgebiet für das nationale Dasein in Betracht. Solange Juden und Arier verschiedene Wirtschaftsverfassungen verkörpern, bewirkt die Gemeinschaft des Wohnsitzes keine so enge Verkehrsgemeinschaft unter ihnen, dass die Minderheit sich der Mehrheit kulturell anpassen müsste; sobald sie dagegen unter den Gesetzen einer Wirtschaftsverfassung stehen, schlingt der gemeinsame Wohnsitz ein Verkehrsband um sie, das Juden und Christen eines Landes fester zusammenschließt als die Juden verschiedener Gebiete.

Der Prozess der Assimilierung der Juden und das Erwachen der geschichtslosen Nationen haben dieselbe Ursache: die Umwälzung der alten Gesellschaft durch die kapitalistische Warenproduktion. Die Bewegung, die die geschichtslosen Nationen zu neuem Kulturleben führt, setzt auch bei den Juden ein. Auch hier entsteht die Tendenz, ein Volk, das eine alte, erstarrte Kultur träge weiter überliefert, zu neuem Leben zu erwecken, ihm eine neue, lebendige, fortschreitende Kultur zu schenken. Aber diese Bewegung kann dem jüdischen Volk seine nationale Kultur nicht erhalten, sondern sie kann nur das Wesen dieser Kultur verändern, sofern sie erhalten wird. Aber dieselbe geschichtliche Umwälzung, die das Wesen der nationalen Kultur des jüdischen Volkes zu verändern strebt, reißt die Scheidewand nieder, die die Juden von ihrer Umgebung trennt, bringt sie in immer engeren wirtschaftlichen Verkehr mit den Massen der arischen Bevölkerung und gliedert sie so schließlich den anderen Nationen ein. Mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus und des modernen Staates werden auch die Juden des Ostens ebenso aufhören, eine eigene Nation zu sein, werden sie ebenso unter den Nationen aufgehen, wie die Juden des Westens in ihnen längst aufgegangen sind. Diese ganze Bewegung wird gefördert werden durch die eigene Entwicklung der slavischen Nationen im Osten. Solange diese Völker geschichtslose Nationen mit geringer Kultur sind, werden sie die jüdischen Minderheiten nicht aufsaugen können. Erwachen aber die Ruthenen zu neuem, lebendig fortschreitendem Kulturleben, dann werden sie auf die Juden Ostgaliziens ebenso starke Anziehungskraft üben können, wie die Tschechen sie heule schon auf die Juden Böhmens und Mährens zu üben begonnen haben.

Man darf freilich die Schnelligkeit dieser Bewegung nicht überschätzen. Im russischen Reiche fehlen noch die wirtschaftlichen und rechtlichen Voraussetzungen für den Assimilierungsprozess. Dort wird die jüdische Bevölkerung von dieser Bewegung daher weit langsamer ergriffen werden, dort wird die neue jüdische Kulturbewegung wohl noch jahrzehntelang breiten Spielraum haben. Dort wird wohl noch manches Jahr der „Bund“ die jüdischen Arbeiter organisieren und ihrem Leben neuen Inhalt geben; dort wird die jüdische Presse, die neue jüdische Literatur sich noch manchen Fortschrittes freuen dürfen. Aber je mehr sich Russland wirtschaftlich und politisch den Staaten West- und Mitteleuropas nähert, desto schneller werden auch dort die Bedingungen fallen, unter denen die Entwicklung einer selbständigen jüdischen Kultur allein möglich ist. Die Neubelebung der jüdischen Kultur im Osten ist nur möglich auf einer Übergangsstufe: sie entspricht einer Entwicklungsstufe der Gesellschaft, die schon die unteren Massen des jüdischen Volkes aus ihrem kulturellen Schlaf herausreißt und sie zu neuem Kulturleben erweckt, die aber die Juden noch nicht der Verkehrs- und Kulturgemeinschaft der anderen Nationen eingliedert. Das alte Judentum, die Sonderkultur der geldwirtschaftlichen jüdischen Bevölkerung inmitten naturalwirtschaftlicher Bauern ist auch dort schon tot; die neue Gesellschaft, die alle Völker in den Kreis der Geldwirtschaft einbezieht, die alle Christen zu Juden und darum die Juden zu Christen macht, ist noch nicht da. In dieser Augenblickssituation entsteht die neue nationale Kultur der Ostjuden. Aber so gewiss es ist, dass der Kapitalismus auf jener Stufe, die er in Osteuropa bisher erreicht hat, nicht verharren wird, so gewiss es ist, dass auch der Bauernsohn des Ostens zum Arbeiter und der Bauer des Ostens zum reinen Landwirt werden wird, so gewiss ist es, dass auch die Juden des Ostens schließlich in den Nationen des Ostens aufgehen werden. Das junge jüdische Nationalgefühl wird den Prozess der Assimilierung vielleicht da und dort psychologisch erschweren. Aber die Notwendigkeiten des wirtschaftlichen Verkehrs sind stärker als alle sentimentalen Wünsche. Historisch betrachtet, ist auch das Erwachen der Ostjuden zu neuem Kulturleben nichts als ein Vorläufer der schließlichen Assimilierung.

Jetzt erst, nach Feststellung der Entwicklungstendenzen, können wir zur Frage der nationalen Autonomie des jüdischen Volkes Stellung nehmen. Dabei stellen wir nochmals fest, dass es sich hier nur um die Frage der Autonomie im Staat, nicht etwa innerhalb der Partei handelt. Auch beschränken wir uns auf die Besprechung der Frage, ob die nationale Autonomie der Juden in Österreich gefordert werden soll. Wir vermögen nicht zu entscheiden, ob die Frage im russischen Reiche in gleicher Weise beantwortet werden kann wie in Galizien und in der Bukowina.

Sollen zunächst die jüdischen Arbeiter selbst die nationale Autonomie für ihr Volk verlangen? Dass die längst assimilierten oder doch schon ganz vom Flusse des Assimilierungsprozesses mitgerissenen Juden Westösterreichs auf die Kulturgemeinschaft mit den Nationen, in deren Mitte sie leben, nicht verzichten werden, ist selbstverständlich. Für sie ist das Jüdische längst eine fremde Sprache, die Gesittung der Juden des Ostens eine fremde Kultur, an der sie keinen Teil haben. Die Frage der nationalen Autonomie kann also überhaupt nur bestehen für die nicht assimilierten Juden in Galizien und in der Bukowina, allenfalls für kleine Minderheiten der Judenschaft in Mähren und in Ostschlesien. Wollen wir diese Frage beantworten, so dürfen wir nicht von der ebenso wohlklingenden als inhaltsleeren Redensart vom natürlichen Rechte aller Nationen auf Selbstbestimmung ausgehen, wir müssen vielmehr nach den Aufgaben der nationalen Autonomie fragen und untersuchen, ob die Bedürfnisse der jüdischen Arbeiterschaft die nationale Selbstverwaltung heischen.

Die öffentlich-rechtliche Organisation nationaler Minderheiten hat wesentlich zwei Aufgaben: sie soll das Schulwesen der nationalen Minderheit ausbauen und verwalten und sie soll den Volksgenossen, die der Sprache der Behörden und Gerichte nicht oder nicht hinreichend kundig sind, Rechtshilfe gewähren. Nun besteht die Sprachenfrage für die Juden nicht. Denn da sie inmitten anderer Völker leben und mit ihnen in immer engeren wirtschaftlichen Verkehr treten, müssen sie die Sprache der Mehrheit wohl oder übel können. Der Jude, der mit Polen in einer Werkstätte arbeitet, von Polen kauft oder den Polen verkauft, wird auch vor den Behörden und Gerichten in polnischer Sprache sein Recht suchen können. Bleibt somit der autonomen Organisation der Nation nur eine wichtige Aufgabe: die Sorge für das nationale Schulwesen, Die Frage der nationalen .Autonomie der Juden ist wesentlich eine Schulfrage. Nun besuchen die Judenkinder auch in Galizien heute schon die öffentlichen Schulen. In der Schule lernen die Judenkinder, gemeinsam mit den anderen Kindern, die Sprache des Landes. Die Schule ist heute natürlich auch ein außerordentlich wirksames Mittel der Assimilierung. Wer also die nationale Autonomie für die nicht assimilierten Juden Galiziens verlangt, muss die Frage beantworten, ob er in der Tat die Judenkinder aus den öffentlichen Volksschulen ausscheiden und ein eigenes jüdisches Schulwesen von der Volksschule bis zur Universität auszubauen gedenkt.

Wir glauben, dass die jüdischen Arbeiter in Galizien und der Bukowina, sobald sie ihre eigenen Interessen erkennen, die abgesonderten Judenschulen nicht verlangen können. Zunächst widerstreitet die Absonderung der jüdischen Kinder dem wirtschaftlichen Interesse der jüdischen Arbeiter. Der moderne Arbeiter braucht die Freizügigkeit. Aber niemand braucht sie mehr als gerade der jüdische Arbeiter. Das jüdische Proletariat besteht zum großen Teile aus jenen Juden (oder deren Nachkommen), denen die Entwicklung der modernen Warenproduktion es unmöglich gemacht hat, in den Berufszweigen ihre Nahrung zu suchen, die durch Jahrhunderte die Juden ernährt haben. Diese aus dem Dorfe und der kleinen .Stadt vertriebenen Juden haben zuerst in wenigen Städten und in wenigen Produktionszweigen ihren Erwerb gesucht. Die weitere Entwicklung wird sie zwingen, sich im Lande zu zerstreuen oder außerhalb des Landes ihren Unterhalt zu suchen; sie werden sich auf die verschiedenartigsten Produktionszweige verteilen. Darum müssen die jüdischen Arbeiter sich der Kultur der Nationen anpassen, in deren Mitte sie ihren Lebensunterhalt suchen müssen. Der jüdische Arbeiter in Galizien ist noch kaum irgendwo ein moderner Industriearbeiter, noch trägt er fast überall die Eierschalen seines Ursprunges aus jüdischem Kleinhandel, jüdischem Handwerk, jüdischem Wucher an sich. Er hat die wirtschaftliche Stellung, aber noch nicht ganz den kulturellen Typus, die Psychologie der Juden der alten naturalwirtschaftlichen Zeit verloren. Die wichtigste Aufgabe der jüdischen Arbeiterschaft ist ihre eigene Erziehung. Aus dem jüdischen Proletarier muss ein wirklicher moderner Arbeiter werden. Sobald der Jude dies ist, ist ein schweres Hindernis für seine Verbreitung auf weitere Gebiete und verschiedene Produktionszweige gefallen. Ein solches Hindernis ist nicht etwa nur die besondere Sprache der Juden, sondern ihr ganzes Wesen. In vielen Betrieben dulden auch heute noch die christlichen Arbeiter keinen jüdischen Arbeitskollegen: diese Abneigung entspringt nicht etwa politischem Antisemitismus, sondern dem naiven Instinkt gegen die fremde Art des nichtassimilierten Juden. Wenn es möglich werden soll, dass die Juden in allen Produktionszweigen ihre Arbeitsstellen finden sollen, so müssen sie kulturell dem modernen Arbeiter der anderen Nationen ähnlich werden. Solange der Ton ihrer Sprache, ihre Gebärden, ihre Kleidung, ihre Sitten den christlichen Klassengenossen, den Werkmeister, den Unternehmer verletzen, vererbt sich der alte wirtschaftliche Gegensatz des Bauern und des jüdischen Händlers noch in Gestalt einer instinktiven Abneigung, eines ästhetischen Missfallens auf die Nachkommen beider, obwohl nun der Nachkomme des christlichen Bauern so gut wie der Nachkomme des jüdischen Händlers Arbeiter geworden ist; so lange ist die örtliche und wirtschaftliche Verteilung des jüdischen Proletariats unmöglich, bleiben die jüdischen Arbeiter, deren Zahl infolge der Vernichtung des alten jüdischen Handels und Gewerbes schnell wächst, auf den beschränkten Arbeitsmarkt weniger Gewerbe in wenigen Orten beschränkt. Erst wenn der jüdische Arbeiter sich kulturell seiner Umgebung angepasst hat, hat er wirklich die Freizügigkeit gewonnen; dann erst kann er sich jedem Orte, jedem Gewerbe zuwenden, wo das blinde Walten der kapitalistischen Kräfte gerade vermehrte Arbeitsgelegenheit schafft; dann erst schwindet die besondere jüdische Not und es bleibt ihm nichts als die gemeinsame proletarische Not, die er im gemeinsamen Kampfe Schulter an Schulter mit den arischen Kollegen bekämpfen und besiegen wird.

Aber auch damit er zu diesem Kampfe überhaupt fähig werde, muss er seine Gesittung der des christlichen Arbeiters nähern. Man denke sich nur die Judenkinder in eigenen Schulen mit jüdischer Unterrichtssprache! Welcher Geist wird diese .Schulen beherrschen? Gewiss, eine neue jüdische Kultur ist im Entstehen und würde sich wohl entwickeln, wenn dem jüdischen Volke noch Zeit zur Entwicklung neuer lebender Kultur bliebe. Aber diese Kultur ist eben nur im Entstehen, sie ist noch nicht da. Dagegen besitzt das jüdische Volk eine andere Kultur: es ist die Kultur einer geschichtslosen Nation, die Kultur von Menschen, die außerhalb der Gesittung der europäischen Völker standen, die eine ganze Welt längst erstorbener Gedanken, Wünsche, Sitten von Geschlecht zu Geschlecht überlieferten. Kann es einem Zweifel unterliegen, dass diese alte, erstarrte Kultur noch jahrzehntelang den jüdischen Schulen ihren Charakter aufprägen würde, und nicht die neue, erst erstehende, erst langsam im Judentum selbst nach Macht ringende Kultur, die aus der revolutionären jungjüdischen Literatur zu uns spricht? So würden die Kinder der jüdischen Arbeiter künstlich im Geiste längst vergangener Zeiten erhalten. Man würde ihnen, die als moderne Arbeiter sich ihre Arbeitsstellen suchen, ihren Klassenkampf führen sollen, das Weltbild des Mittelalters überliefern, die Psychologie einer toten Wirtschaftsverfassung einprägen, die Lebensgewohnheiten des jüdischen Branntweinschenkers, der mitten zwischen naturalwirtschaftlichen Bauern lebte, bei ihnen erhalten. Gewiss, das Leben ist stärker als die .Schule, und auch aus diesen Kindern könnten kräftige Menschen werden, die furchtlos im Klassenkampfe ihren Mann stellen; aber können die jüdischen Arbeiter wollen, dass die .Schule ihre Kinder zu einer Geistesverfassung zu erziehen sucht, die dann das Leben erst wieder umwandeln, umstossen muss? Die jüdische Schule bedeutet für die Juden vorerst künstliche Erhaltung ihrer alten kulturellen Sonderart, die ihre Freizügigkeit beschränkt und hierdurch ihr Elend vermehrt, dann Stärkung ihrer alten Ideologie, ihrer alten sozialen Psychologie, die erst überwunden werden muss, damit sie zum Klassenkampfe fähig werden.

Wollen wir die besonderen Judenschulen nicht, dann hat die nationale Autonomie der Juden keinen Sinn. Sie ist ja nicht, wie man so phrasenhaft gesagt hat, die rechtliche Form des Daseins der Nation, sondern Mittel zu bestimmten Zwecken. Welche Aufgaben sie erfüllen soll, wenn die jüdischen Kinder polnische, deutsche oder ruthenische Schulen besuchen sollen, ist mir nicht verständlich. Die nationale Autonomie kann nicht die Forderung der jüdischen Arbeiter sein. Der deutsche Arbeiter wünscht dem jüdischen Klassengenossen, was er dem tschechischen Proletarier wünscht: höhere Löhne, stolzes Selbstbewusstsein, Fähigkeit zum internationalen Klassenkampf. Um diesen Zweck zu erreichen, muss er dem tschechischen Arbeiter auch im deutschen Siedlungsgebiete die nationale Autonomie gewähren; zu demselben Zwecke muss er sie dem jüdischen Arbeiter versagen. Dieselbe Rechtseinrichtung, die wir brauchen, um den tschechischen Arbeiter zum Klassenkampf fähig zu machen, ihn dem Klassenkampfe zu gewinnen, würde das Elend des jüdischen Proletariers vermehren, ihm die Psychologie des jüdischen Händlers vergangener oder doch vergehender Zeit erhalten, seine Überführung in die moderne Industrie und den modernen Klassenkampf erschweren. Nicht darauf kommt es an, für alle Nationen gleiche Rechtseinrichtungen zu schaffen, sondern darauf, die Arbeiter aller Nationen kulturell zu heben, sie alle der großen internationalen Armee des kämpfenden Proletariats einzureihen. Dass der deutsche Arbeiter für den tschechischen die nationale Autonomie fordert, sie aber der jüdischen Nation versagt, entspricht der Tatsache, dass die kapitalistische Produktionsweise die Tschechen zum Range einer historischen Nation erhebt, während sie die Juden als Nation aufhebt, sie den Kulturgemeinschaften der europäischen Nationen zuführt.

Wer in nationaler Wertungsweise befangen, sich überall zu konservativ-nationaler Politik bekennt, wem Erhaltung nationaler Eigenart der Endzweck politischen Wollens ist, der mag diese Aussicht recht betrübend finden. Und hier ist ja dieses Bedauern vielleicht begreiflicher als sonst. Denn wenn die evolutionistisch-nalionale Politik sonst nur Veränderung der nationalen Kultur verlangt, so verlangt sie von den Juden die Preisgabe ihrer kulturellen Sonderart. Aber die vielen Namen assimilierter Juden, die in der Geschichte aller großen Nationen Europas fortleben, mögen auch diese Gefühlsregung berichtigen! Das Schicksal des jüdischen Volkes hat ja in doppelter Weise die Juden zur Nation zusammengeschlossen: einmal durch natürliche Vererbung, dann durch Überlieferung von Kulturgütern. Wenn die jüdische Kulturgemeinschaft vernichtet wird, so bleibt doch die jüdische Naturgemeinschaft, die Rasse, erhalten. Der assimilierte Jude ist kraft seiner Bildung ein Kind der Nation, deren Kultur er in sich aufgenommen hat. Aber in seiner natürlichen Veranlagung bleibt doch immer das Schicksal des jüdischen Volkes wirkende Kraft, jenes Schicksal, das seinen Ahnen durch natürliche Auslese einen scharf ausgeprägten körperlichen Typus, eine eigenartige geistige Veranlagung angezüchtet hat. Namen wie Spinoza, Ricardo, Disraeli, Marx. Lassalle, Heine und viele andere, die aus der Geschichte der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft und Kunst der Völker Europas nicht fortgedacht werden können, mögen beweisen, dass das Judentum überall dort seine glänzendsten Leistungen vollbracht hat, wo jüdische Naturveranlagung und europäische Kulturüberlieferung einander befruchtet haben. Den nicht assimilierten Juden hassen die christlichen Nationen mit dem Hasse des Bauern gegen den Wucherer; von den assimilierten Juden dagegen lebt so mancher in ihrer Erinnerung als einer der Großen, in deren Köpfen sich zuerst die treibenden Kräfte der Geschichte verdichtet zu individueller Tat und die hierdurch das Schicksal ganzer Nationen für Jahrhunderte mitbestimmt haben.

Freilich, werden die Juden, einmal in die Kulturgemeinschaft der europäischen Nationen aufgenommen, auch nur ihre Naturgemeinschaft erhalten können? Werden nicht allmählich Wechselheiraten das jüdische Blut mit dem Blute der anderen Nationen vermengen? Und welche Wirkung wird diese Blutmischung haben?

Wir stehen hier vor Fragen, die die Wissenschaft unserer Tage nicht beantworten kann. Nur dilettantische Afterwissenschaft, die aus ein paar ungewissen Einzelbeobachtungen ein System kühnster Schlüsse zieht, rühmt sich auch dieser Rätsel Lösung zu kennen. Man hat beobachtet, dass auch die assimilierten Juden der Instinkt der Rasse häufig wieder zueinander führt, und hat gemeint, dass darum die jüdische Rasse sich trotz aller kulturellen Assimilierung rein erhalten werde. Aber die Beobachtung weniger Einzelfälle genügt nicht, eine solche Behauptung zu erweisen; genügt am wenigsten darum, weil der Prozess der Assimilierung in manchen Ländern fortgeschritten, aber kaum irgendwo völlig abgeschlossen ist. Noch weniger wissen wir darüber, ob die Blutmischung der Juden und der Arier eine bessere oder eine minder begabte Rasse erzeugen wird. Die Geschichte kennt ebenso Beispiele günstiger wie ungünstiger Wirkungen der Rassenmischung. Das Gesetz, das sich hinter jenen Einzelfällen birgt, kennen wir nicht. So können wir denn auch über Wirkungen der Rassemischung nichts im voraus sagen; hier muss die Erfahrung entscheiden. Und auch hier genügen ein paar zufällige Einzelbeobachtungen nicht. .So vermag die heutige Wissenschaft nicht zu entscheiden, ob das Aufgehen der Juden nicht nur in der Kulturgemeinschaft, sondern auch in der Naturgemeinschaft der anderen Nationen für die folgenden Geschlechter vorteilhaft sein wird oder nicht. Sie muss die Entscheidung der geheimnisvollen Macht überlassen, die bei Tier und Mensch Mann und Weib zusammenführt, die das Menschengeschlecht bis in unsere Tage geführt hat und es auch weiter führen wird: der geschlechtlichen Zuchtwahl. Junger Männer Liebeswerben, junger Frauen Liebeswahl wird über diese letzte aller Judenfragen entscheiden.

Fußnoten

1. Die Entwicklung der jüdischen Nation unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise verläuft keineswegs geradlinig. Der Frühkapitalismus hat die Kluft zwischen den Juden und den christlichen Nationen zunächst verbreitert, indem er neuartige Gegensätze zwischen Juden und Christen schuf: Konkurrenzkämpfe zwischen jüdischen und christlichen Kapitalisten, Interessengegensätze zwischen jüdischem Handels- und Leihkapital und christlichem industriellen Kapital, zwischen jüdischem Kapital und christlichem Handwerk u.s.w. Indessen haben wir es hier nur mit den Wirkungen des modernen Kapitalismus zu tun. Die frühkapitalistische Entwicklung mit ihren Folgeerscheinungen ist nur eine – freilich Jahrhunderte währende und für das jüdische Volk schmerzvolle – Episode.

2. Marx, Zur Judenfrage, Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, herausgegeben von Franz Mehring, I, S.430. 

3. Marx, a.a.O., S.426.

4. „Die Kämpfer für die Freiheit von heute kennen das Judentum nicht mehr, hassen es nicht, weil sie es nie geliebt haben, bleiben gleichgültig ihm gegenüber, weil es keinen Platz mehr in ihrem Leben einnimmt ... Als ich noch ein Junge war, sagte mir einer der alten Assimilanten, der Champions der Los-vom-Ghetto-Bewegung, war es eine tapfere Tat, ein Erlebnis, eine Zigarre am Samstage zu rauchen. Und es war mein Hauptspass, Freitag abends dem krummen Reb Nuchim, der von der Synagoge nach Hause ging, mit einer brennenden Zigarette auf der Straße zu begegnen. Mein Sohn weiß nicht mehr, dass man am Samstag nicht rauchen darf. Für ihn ist die Welt so einfach geworden.“ Dieser Bericht stammt nicht etwa aus irgend einem west- oder mitteleuropäischen Zentrum der Assimilation, sondern aus – Wilna, dem „Jerusalem von Litauen“, und wir entnehmen ihn nicht irgend einer Zeitung der Assimilanten, sondern der – zionistischen Welt vom 10. August 1906.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008