Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


V. Die Entwicklungstendenzen der nationalen Kämpfe in Österreich


§ 24. Die innere Entwicklung Österreichs zur nationalen Autonomie


Wir haben bisher untersucht, welche Gestalt der nationalen Autonomie die Arbeiterklasse verlangen muss. Wir wenden uns jetzt der Frage zu, ob diese Forderung innerhalb unserer Gesellschaftsverfassung eine Utopie bleiben wird oder ob nachgewiesen werden kann, dass die Entwicklung der Nationen und der nationalen Kämpfe in Österreich zur Ersetzung der zentralistisch-atomistischen durch die organische Regelung der nationalen Verhältnisse treibt. Hierbei untersuchen wir zunächst die inneren Entwicklungstendenzen in Österreich, in den „im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern“. Wir setzen also zunächst voraus, dass die österreichischen Nationen in demselben staatlichen Verbände bleiben, in dem sie jetzt zusammenleben, und fragen, wie die Nationen innerhalb dieses Verbandes ihr Verhältnis zueinander und zum Staate einrichten werden. Die Frage, ob dieser Staatsverband auch bestehen bleiben wird, ob nicht Kräfte sichtbar sind, die die österreichischen Nationen in andere staatliche Gebilde überführen werden, wird besonders untersucht werden.

Wir haben die Geschichte der nationalen Kämpfe in Österreich bis zur vollständigen Stilllegung des Gesetzgebungskörpers unter den Ministerien Badeni und Koerber bereits dargestellt. Wir wissen, dass der Kampf der Nationen um die Macht im Staate geendet hat mit der völligen Ohnmacht aller Nationen, die durch die Obstruktion der Bürokratie die unbeschränkte Herrschaft in die Hände spielen, aber auch mit Ohnmacht des Staates, dessen bürokratische Verwaltung bei jedem Schritt durch den Stillstand der Gesetzgebung gehemmt ist. Die Selbstaufhebung der zentralistisch-atomistischen Nationalitätenverfassung durch die nationale Obstruktion war das Ende der Machtkämpfe der Nationen.

Unter dem Ministerium Gautsch hat sich das Bild freilich plötzlich durch die Wahlreform geändert, die Wucht des großen Reformgedankens hat das Gezänk um Gerichtssprache und Parallelklassen einen Augenblick zum Schweigen gebracht. Und es ist denkbar, dass im neuen Parlament des gleichen Stimmrechts die Nationen ein paar Monate lang friedlich zusammenarbeiten werden. Aber die Fortdauer dieses Friedens darf kein Besonnener hoffen. Werden die Deutschen für die tschechische innere Amtssprache, für die tschechische Universität in Brunn stimmen? Werden die Tschechen diese Forderung aufgeben? Kann nicht an jedem Turnerfest an der Sprachgrenze die nationale Wut sich neu entzünden und dem schwer errungenen nationalen Frieden plötzlich ein Ende bereiten? Werden die nationalen Schlagworte aus dem Wahlkampfe verschwinden? Insbesondere jetzt aus dem Wahlkampfe verschwinden, wo sie die wirksamste Waffe der bürgerlichen Parteien im Kampfe gegen die durch das gleiche Wahlrecht mächtiger gewordene Arbeiterklasse sind? Wird nicht auch weiter die Masse der Kleinbürger, der eigentlichen Träger des nationalen Hasses, die meisten Wahlkreise besetzen? Ist der Gedanke des nationalen Machtkampfes nicht längst selbst unter die Bauern, selbst unter einen Teil der Arbeiterschaft getragen worden? Wem der nationale Kampf die notwendige Begleiterscheinung einer gewaltigen geschichtlichen Umwälzung ist, der wird es nicht glauben, dass ein Wunder plötzlich die Nationen im Machtkampfe besonnen, nüchtern, zu Ausgleich und Bündnis fähig macht. Ein paar Monate des Friedens sind auch unter der herrschenden Verfassung und Verwaltung möglich: aber lasst sie dauern und der Staat steht binnen kurzem wieder, wo er unter Badeni und Koerber gestanden ist. Nicht wenn die nationalen Parteien vernünftig werden, sondern nur, wenn das Recht sich endlich den veränderten nationalen Verhältnissen anpasst, jeder Nation die Macht gibt, deren sie bedarf, kann der Machtkampf der Nationen aufhören, wird der nationale Hass nicht mehr Inhalt der österreichischen Politik sein, weil dem nationalen Kampfe jeder Angriffspunkt fehlen wird. Gibt es nun in Österreich wirklich Kräfte, die stark genug wären, den nationalen Frieden durch die nationale Autonomie zu begründen?

Der nationale Frieden ist zunächst eine Notwendigkeit für den Staat. Der Staat kann es nicht vertragen, dass die albernste Sprachenfrage, dass jeder Streit erregter Menschen an der Sprachgrenze, dass jede neue Schule die Gesetzgebung stilllegt. Aber der Staat ist ein Abstraktum. Er kann sein Bedürfnis nur verwirklichen, wenn das Bedürfnis des Staates zum Willen der Staatsbürger wird. Wo sind die Kräfte, die sich zu Trägern staatlicher Notwendigkeiten machen?

Das Bedürfnis des Staates wird zunächst zum Bedürfnis der Nationen. Der Machtkampf der Nationen hat zur Ohnmacht der Nationen geführt. Jede Nation ist stark genug, zu verhindern, dass den anderen Nationen ihr Recht werde; keine Nation aber ist stark genug, durchzusetzen, dass der Staat ihre Bedürfnisse erfülle. Diese Lage ist zunächst erträglicher für die alten historischen Nationen als für die Völker, die erst die wirtschaftliche Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts zu neuem Kulturleben erweckt hat. Deutsche, Polen, Italiener mögen es allenfalls noch ertragen, dass der Staat nur das bestehende Recht der Nationen erhält, dass keine neuen Schulen gegründet werden können, am Sprachenrechte nichts geändert werden kann. Denn sie sind von altersher die Besitzenden, ihre nationale Hauptaufgabe ist es, ihren Besitzstand zu wahren, nicht neuen zu erwerben. Anders die ehemals geschichtslosen Nationen. Sie fordern, dass der Staat sich den neuen Verhältnissen anpasse, die ihr kulturelles Wachstum geschaffen. Ihre nationale Politik ist Angriff, nicht Verteidigung. Tschechen, Slovenen, Ruthenen können die Stilllegung der Gesetzgebungsmaschine, können den Grundsatz, es dürfe am nationalen Besitzstande nichts geändert werden, nicht ertragen. Freilich sind gerade diese Nationen erfüllt von jenem sinnlosen rabiaten Radikalismus, den jede nationale Unterdrückung züchtet; gerade sie neigen zu einer Politik der großen Worte, der zwecklosen Demonstrationen, der pathetischen Gebärden. Aber die Notwendigkeit, die Bedürfnisse der Nation zu erfüllen, wird schließlich stärker sein als diese unpolitische Stimmung der Nationen. Wie seit Jahren schon in der tschechischen Nation die kluge Besonnenheit der Eim, Kaizl, Kramář die Allgewalt der radikalen Phrase allmählich überwindet, so werden auch weiterhin diese Nationen mehr und mehr erkennen, dass gerade sie, die Fordernden, die Ungesättigten, den Stillstand der Gesetzgebungsmaschine nicht ertragen können. Sie werden anfangen, die Notwendigkeiten des Staates als nationale Notwendigkeiten zu begreifen. Dann erst werden sie reif für den Gedanken, die alten Trutzformeln aufzugeben; dann erst werden sie lernen, dass es unmöglich ist. dass sie über andere Nationen herrschen, dass irgend eine Ordnung der Parteien im Abgeordnetenhaus oder gar irgend eine Verfassungsreform im Sinne des Kronländerföderalismus den Tschechen Macht über Deutsche, den Ruthenen Herrschaft über Polen, den Südslaven Gewalt über die Italiener gibt. Dann erst werden sie, da sie über die alten historischen Nationen nicht herrschen können und von ihnen nicht beherrscht werden wollen, reif für den Gedanken der nationalen Autonomie.

Aber auch die alten historischen Nationen werden den Nationalitätenkampf schließlich nicht mehr ertragen können. Sie haben freilich einen Besitzstand zu verteidigen, nicht nur Neues zu erkämpfen. So weit ihr Verhältnis zu den anderen Nationen in Betracht kommt, ist die Erhaltung des bestehenden Zustandes ihr natürliches Programm. Aber das Leben der Nationen erschöpft sich nicht in ihren Berührungen mit den anderen Völkern. Alle Nationen bedürfen einer inneren Entwicklung. Die Anstalten, die der kulturellen Entwicklung der Nationen dienen, müssen ausgestaltet, umgestaltet werden, und gerade die reichen, die wirtschaftlich und kulturell differenzierten Nationen können den Stillstand der Gesetzgebung, die Alleinherrschaft der Bürokratie nicht dauernd dulden. Aber es ist längst unmöglich geworden, den Fortbestand des Staates dadurch zu sichern, dass die geschichtslosen Nationen geknechtet werden. Wollen Deutsche, Polen, Italiener, dass die Staatsmaschinerie arbeitet. und wollen sie doch nicht unter die Herrschaft der Tschechen. Ruthenen, Südslaven fallen, so müssen auch sie es lernen, dem Streben aller Nationen nach Gewalt über die anderen Völker dadurch ein Ende zu bereiten, dass das Recht die Nationen als öffentlich-rechtliche Körperschaften konstituiert und ihnen eine Rechtssphäre zuweist, die gegen Eingriffe aller anderen Nationen gesichert ist.

So werden also sowohl die geschichtslosen als auch die historischen Nationen die Notwendigkeit des Staates schließlich als ihre eigene Notwendigkeit begreifen müssen. Die Obstruktion oder doch die fortwährende Drohung mit Obstruktion, die jede Veränderung der nationalen Verhältnisse hemmt, ist das letzte Ende des nationalen Machtkampfes. Das plumpe Mittel der Obstruktion genügt, um die Entwicklung der anderen Nationen zu hemmen, es ist aber untauglich, wenn es gilt, die Entwicklung der eigenen Nation zu fördern. Eine Verfassung, die an die Stelle des Machtkampfes der Nationen rechtlich gesicherte Machtsphären der Nationen setzt, ist darum ein Bedürfnis aller Völker. Die bittere Not wird sie lehren, das Bedürfnis zu politischem Programm, das Programm zu politischer Tat zu verdichten.

Gehen wir nun daran, die Nationen in ihre Elemente, die sozialen Klassen und die einzelnen Schichten innerhalb dieser Klassen zu sondern, und fragen wir, welche Teile der Nation zu Trägern dieses nationalen Bedürfnisses werden können!

Hier stoßen wir nun zunächst auf die bedeutsame Tatsache, dass die Macht der beiden Klassen, die zuerst die Führung im nationalen Streite übernommen, ihm seinen Inhalt gegeben haben, allmählich sinkt.

Das politische Gewicht des Großgrundbesitzes ist leichter geworden, seit große Volksmassen vom Lande in die Städte und Industriegebiete gewandert sind, wo vor dem Reichtum der Bourgeoisie das Ansehen des Adels verblasst, seit der Bauer selbst sich als Staatsbürger fühlt und im Gutsherrn nicht mehr die angestammte „Obrigkeit“ sieht. Seit die Großgrundbesitzer selbst industrielle Unternehmer geworden sind, haben sich auch ihre politischen Interessen verändert: die Frage der Zuckerprämien ist ihnen heute wichtiger als die des Kronländerföderalismus. Die Politik der Großgrundbesitzer dient nun nicht so sehr dem Ziel, ihre ausschließliche Klassenherrschaft wiederzugewinnen, als ganz unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen. Dadurch wird erst sichtbar, was die staatsrechtlichen Formeln früher verhüllt haben, dass die Politik der Großgrundbesitzerklasse nicht dem gemeinsamen Streben der ganzen Nation, sondern dem beschränkten Sonderinteresse der Klasse dient. Die Massen der Bevölkerung durchschauen den Klassencharakter dieser Politik und schütteln die politische Führung der Großgrundbesitzer ab.

Noch hat das Wahlrechtsprivileg der Klasse die politische Bedeutung künstlich gegeben, die ihr nach ihrem sozialen Einfluss nicht mehr zukam. Sobald das Kurienwahlrecht fällt, wird die Verringerung des politischen Einflusses der Großgrundbesitzer unmittelbar sichtbar. Die Führung der Nationen fällt aus den Händen der vornehmen Herren in die der breiten Massen. Damit werden die politischen Programme, die einst dem Klassenkampfe der Gutsherrenklasse gegen Bourgeoisie und Bürokratie gedient, der Streit um Zentralismus und Kronländerföderalismus, allmählich an Bedeutung verlieren.

Ganz ähnlich ist das politische Schicksal der Intelligenz. Auch sie verliert an Macht, seit dank der wachsenden Volksbildung die Massen selbst fähig geworden sind, ihre politischen Kämpfe zu führen. Ihre alte Führerrolle wird aber nicht nur unnötig, sie wird auch unmöglich, je lebendiger die Klassengegensätze innerhalb der einst politisch einheitlichen Nationen werden. Wie kann die Intelligenz entscheiden, wo Kapitalisten und Arbeiter um die Dauer der Arbeitszeit, Kleinbürger und Arbeiter um den Befähigungsnachweis, Bauern und Arbeiter um die Getreidezölle streiten r Sie hat an diesen Kämpfen kein eigenes Interesse, sie steht ihnen ratlos gegenüber. Der einzelne Akademiker mag sich zu der oder jener Klasse schlagen, sein Wissen und Können in den Dienst der oder jener Klasse stellen. Die Intelligenz als Klasse aber verliert die politische Führung, sobald nicht mehr Nation gegen Nation, sondern innerhalb jedes Volkes Klasse gegen Klasse kämpft. Und auch die politischen Interessen der Intelligenz sind andere geworden, seit die kapitalistische Entwicklung und ihre Folgeerscheinungen ihre wirtschaftliche Stellung verändert haben. Manchem Arzt erscheint heute die „Freie Arztwahl“ wichtiger als die deutsche Staatssprache. So beginnen auch die einzelnen Berufsstände der Intelligenz – Ärzte, Advokaten, Techniker, Beamte – den Kampf für ihre Sonderinteressen. Je mehr aber eine Klasse unmittelbar, jedem sichtbar, ihre Sonderinteressen verficht, desto schwerer kann sie das gesamte Volk als einheitliche Partei unter ihrer Führung erhalten.

Auch hier hat das Privilegienwahlrecht der Intelligenz künstlich noch eine soziale Macht gewahrt, die ihrem Einfluss in der Gesellschaft nicht mehr entsprach. Das allgemeine Wahlrecht wird sie zu einem unbeträchtlichen Teile der Wählerschaft machen und es wird den Klassengegensätzen stärkeren politischen Ausdruck geben. Wie der Großgrundbesitz, so verliert nunmehr auch die Intelligenz endgültig die Führung der Nation. So wird nun auch die Schul- und Sprachenfrage andere Gestalt annehmen: nun werden nicht mehr die Wünsche der Beamten, sondern die Bedürfnisse der Volksmassen entscheiden, wenn von der Sprache der Behörden und Gerichte die Rede ist; nun wird man nicht mehr im Streite um Universitäten und Gymnasien an den Ausbau der Volksschule vergessen. Jetzt erst, nachdem die Klassen, die bisher den Inhalt des nationalen Kampfes bestimmten, auf jenes Maß politischer Macht zurückgewiesen sind, das ihnen nach ihrem Einflüsse in der Gesellschaft gebührt, können die großen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft – die Bourgeoisie, das Kleinbürgertum, die Bauern und die Arbeiter – darangehen, die nationalen Verhältnisse selbständig zu regeln.

Die politische Führung fällt zweifellos zunächst in die Hand der Bourgeoisie.

Die Bourgeoisie ist die Nutznießerin des nationalen Streites. Eine Junge Bourgeoisie, wie die tschechische, schon darum, weil ihr der nationale Streit Mittel der Konkurrenz ist. Aber Jede Bourgeoisie, nicht am wenigsten die deutsche, braucht den nationalen Hader, um die Klassengegensätze zu verhüllen. In den industriellen Bezirken Deutschböhmens, Mährens, Schlesiens sind die Arbeiter oft die Mehrheit, immer ein beträchtlicher Teil der Wähler in den neuen Wahlkörpern des allgemeinen Stimmrechtes. Wie soll hier das Großbürgertum seinen Kampf gegen die Arbeiterpartei führen? Sollen die Wahlwerber der Bourgeoisie glatt heraussagen, dass sie die Interessen des Großbürgertums vertreten wollen? Hier ist die nationale Ideologie dem Großbürgertum ein unentbehrlicher Bundesgenosse. Welcher Vorteil für die Bourgeoisie, wenn im Wahlkampfe von tschechischen Schulen und tschechischer Amtssprache die Rede ist, statt vom Achtstundentage und von den Schutzzöllen, hinter denen sie ihre Kartelle sichert! Die Bourgeoisie aller Nationen bedarf des nationalen Streites und wird ihn im Wahlkampfe schüren, weil sie die Klassengegensätze verhüllen will.

Aber wenn dem Großbürgertum einerseits der nationale Kampf ganz willkommen ist, so ist er doch andererseits seiner eigenen Herrschaft gefährlich. Der Staat ist der Bourgeoisie längst ein unentbehrliches Werkzeug ihrer wirtschaftlichen Interessen geworden. Die Zollpolitik, das Eisenbahntarifwesen, die Steuergesetzgebung will sie unmittelbar bestimmen. Sie wird die Fragen des Ausgleiches mit Ungarn, sie wird die Fragen der wirtschaftlichen Gesetzgebung nicht einer Bürokratie ausliefern, die sie nur mittelbar beeinflussen kann. Sie braucht Macht im Staate und der nationale Machtkampf gefährdet diese Macht, gibt alle Entscheidung immer wieder der Bürokratie in die Hand. Sie kann den Stillstand der Gesetzgebung nicht ertragen. Sie wünscht eine Reform der Aktiensteuer – das Parlament streitet um die tschechische Universität in Brunn. Sie verlangt einen Kanalbau – die Parteien haben sich noch nicht über die tschechische innere Amtssprache geeinigt. Sie fordert Exportprämien – das Parlament unterhält sich mit der Besprechung irgend eines tschechischen Festes in Troppau und seiner weltgeschichtlichen Folgen. Sie will, dass das Konsularkorps den Exportinteressen dienstbar werde – in den Delegationen unterhält man sich über den Rassenkampf der Germanen und Slaven. Herrschaft der Bourgeoisie im Staate und eine Gesetzgebung und Verwaltung, die die kapitalistische Entwicklung fördert: das sind die Lebensinteressen der Bourgeoisie. Und weil der nationale Kampf beides unmöglich macht, die Gesetzgebung stilllegt, die Macht der Bürokratie ausliefert, wird sie dem nationalen Kampfe feind, sehnt sie sich nach dem nationalen Frieden.

So streiten, ach, zwei Seelen in ihrer Brust. Sie braucht den nationalen Kampf, um die Klassengegensätze zu verhüllen. Und sie braucht den nationalen Frieden, um den Staat zum Werkzeug ihrer Herrschaft zu machen. Die deutschen Fabrikanten in Böhmen und Mähren bekämpfen bei den Wahlen die internationale Sozialdemokratie als Feindin des deutschen Volkes und fördern mit erlaubten und unerlaubten Mitteln die Wahl der nationalen Kandidaten. Wenn aber die Gewählten dann das Parlament durch ihre Obstruktion lahmlegen, wenn die Gesetzgebungsmaschine stillsteht, die Parlamente keine Zeit finden, die wichtigsten Gesetzesvorlagen zu erledigen, und die Bürokratie nur schlecht und recht für die dringendsten Notwendigkeiten des wirtschaftlichen Lebens sorgen kann, dann Jammern die industriellen Verbände über den „unfruchtbaren nationalen Streit“.

Ganz ähnlich wie die Stellung der Bourgeoisie ist auch die des Kleinbürgertums. Das Kleinbürgertum ist der eigentliche Träger des nationalen Hasses. Auch das Kleinbürgertum bedarf der nationalen Ideologie, um seinen Klassenkampf gegen die Arbeiterschaft zu führen. Aber auch das Kleinbürgertum hat Wünsche an die Gesetzgebung und ist sehr unzufrieden, wenn der nationale Streit den Parlamenten keine Zeit lässt, sich mit der Gewerbenovelle oder mit einem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb zu beschäftigen. Innerhalb der einzelnen Teile des Kleinbürgertums sind diese verschiedenen, einander widersprechenden Neigungen verschieden stark.

Am stärksten ist das Interesse an den Machtkämpfen der Nationen in den Sudetenländern. Einmal darum, weil hier der nationale Gegner am nächsten ist, die Einwanderung der tschechischen Minderheiten den nationalen Hass immer wieder erregt. Dann auch, weil in diesen industriellen Bezirken die Zahl der Arbeiter groß, der Klassenkampf besonders heftig, das Bedürfnis nach einer Ideologie, die die Klassengegensätze verhüllt, den Klassenkampf der Arbeiter erschwert, daher besonders lebhaft ist. Die Kleinbürger der Sudetenländer sind daher von dem Gedanken des nationalen Machtkampfes besonders stark erfüllt.

Ganz anderen Charakter trägt das Kleinbürgertum der deutschen Städte in den Alpenländern. Wohl besteht auch dort der nationale Hass – am stärksten an der Sprachgrenze, in Südtirol, wo Deutsche und Italiener, in Südsteiermark, wo Deutsche und Slovenen aufeinanderstoßen. In den Industriegebieten der Alpenländer, in Graz, im Gebiet der steirischen Eisenindustrie empfindet auch das Bürgertum das Bedürfnis, durch die nationale Ideologie die Klassengegensätze zu verhüllen, sehr stark. Aber im allgemeinen droht doch dem aufrechten Bürgertum der Alpenländer weder von fremden Minderheiten noch von den Arbeitern der eigenen Nation gleiche Gefahr wie den deutschen Kleinbürgern der Sudetenländer. Ein ganz anderer Gegensatz beherrscht sein politisches Denken. Hier, wo die Landwirtschaft noch weit weniger von der kapitalistischen Warenproduktion in ihrem Wesen verändert wurde, wo der Bauer noch in seinem überlieferten Geistesleben verharrt, trennt Kleinbürger und Bauern eine tiefe Kluft. Es ist weniger der Gegensatz der Klasseninteressen als der Gegensatz der Klassenideologien, der die Bevölkerung der Alpenländer in zwei schroff geschiedene Gruppen, klerikale Bauern und liberale Kleinbürger, scheidet. Hier fehlt es dem Kleinbürgertum nicht an einer Ideologie mit parteibildender Kraft; es kann auf die nationale Ideologie leichter verzichten, da ihm immer noch die antiklerikale Ideologie bleibt. Die Frage der Trennbarkeit der katholischen Ehe interessiert hier die Wählermassen nicht minder als irgend eine nationale Schul- oder Sprachenfrage. Wenn die kleinbürgerliche Politik in den Sudetenländern der nationalen Ideologie dringend bedarf, weil sie sonst in ihrer ganzen Nacktheit als Interessenpolitik einer Klasse erscheinen müsste, so bleibt dem antiklerikalen Bürgertum der Alpenländer immer noch seine parteibildende Ideologie, wenn auch der nationale Kampf verstummt. So kann das Bürgertum der Alpenländer sich zu friedlicher nationaler Politik leichter entschließen als die vom nationalen Hass erfüllten, von der Arbeiterschaft bedrohten Kleinbürger Böhmens und Mährens. Aber wenn dieses Bürgertum an der nationalen Machtpolitik nicht mit gleicher Kraft hängt, so empfindet es die staatlichen Bedürfnisse desto stärker. Dank seiner langsameren wirtschaftlichen Entwicklung ist das Bürgertum der Alpenländer noch wenig differenziert. Da sind nicht Bourgeois und kapitalshörige Handwerker schroff voneinander geschieden, sondern das gesamte Bürgertum, durch keine großen Einkommensunterschiede wirtschaftlich und gesellschaftlich gespalten, bildet eine einheitliche Schichte, deren Masse aus Kleinbürgern besteht, deren Führung die Gemeindecliquen fest in ihren Händen halten. Dieses wenig differenzierte Bürgertum hat ein starkes Verlangen nach politischer Macht. Der soziale Hass ist hier nicht so stark als der Wunsch, einen Landsmann an der Spitze der Parlamentsmehrheit oder im Rate der Krone zu wissen, der dann der Stadt eine Begünstigung, der Gegend eine Lokalbahn erwirken soll, der die Laufbahn seiner Landsleute in der Beamtenschaft fördert. Für alle diese kleinen Verlockungen ist das wenig differenzierte Bürgertum der Alpenländer weit empfänglicher als die sozial zerrissene Bürgerschaft der hoch entwickelten Industriegebiete. Wenn es den nationalen Hass weniger stark empfindet, die nationale Ideologie nicht ebenso notwendig braucht, so hascht es desto gieriger nach Anteil an der politischen Gewalt. Wer aber unter den gegebenen Bedingungen nach politischer Macht strebt, muss bereit sein, die Notwendigkeiten des Staates zu erfüllen. Wohl kann die Wut des nationalen Kampfes auch das Bürgertum der Alpenländer mitreißen; aber immer wieder wird der Wunsch sich durchringen, das Staatswesen so zu ordnen, dass der nationale Streit die Gesetzgebung nicht lahmlegt, die staatliche Gewalt der Bürokratie nicht ausgeliefert, dass die bürgerlichen Parteien die Möglichkeit haben, im Parlament ihrem Wählkreis wirtschaftliche Vorteile zu erstreiten und durch ihren Einfluss auf die Verwaltung ihre Landsleute zu fördern. Wenn das Kleinbürgertum Böhmens in der Hitze des nationalen und sozialen Kampfes immer nur Brüx und Dux und Prachatitz sieht, so sieht das Bürgertum der Alpenländer doch manchmal auch den Staat.

Wiederum anderen Charakter als das aufrechte Bürgertum der Alpenländer trägt das Kleinbürgertum Wiens. Seine Hauptmasse bilden kapitalshörige Handwerker und Kleinhändler. Den nationalen Hass empfindet dieses Bürgertum noch kaum. Einmal ist es, dank der starken Zuwanderung aus den tschechischen Gebieten und der schnellen friedlichen Germanisierung der Einwanderer, durch die Anziehungskraft der Großstadt, selbst stark mit Elementen durchsetzt, die zwar der deutschen Kulturgemeinschaft allmählich eingegliedert werden, die aber ihren tschechischen Ursprung noch nicht vergessen haben. Dann aber hat es ganz andere Forderungen, ganz andere Ideologien. Dieses Kleinbürgertum stellt zunächst ein Programm der Mittelstandspolitik auf; der Staat soll das schwer kämpfende Kleingewerbe und den Kleinhandel retten. Empfindet doch der kleine Händler der Großstadt den Wettbewerb der Warenhäuser und Konsumvereine, der kleine Handwerker den Druck des Handelskapitals weit unmittelbarer als sein Berufskollege in der Provinzstadt. Die Wissenschaft mag hundertmal beweisen, dass die kleinen Maßregeln der „gewerblichen Mittelstandspolitik“ die Betriebs- und Wirtschaftsformen der Vergangenheit nicht retten können; der „kleine Mann“ braucht eine Lebenslüge: der Kampf um die Ausgestaltung des Befähigungsnachweises kann diese Aufgabe ebenso gut erfüllen wie der nationale Streit. Und den Sündenbock, den er in seiner Not braucht, hat er hier bald gefunden. Der Gegensatz gegen das jüdische Handelskapital hat dieses Kleinbürgertum zum Antisemitismus getrieben: wie in den Sudetenländern der Tscheche, so ist hier der Jude an allen Übeln dieser Welt schuld. Endlich hat der Kampf gegen den Liberalismus dieses Kleinbürgertum allmählich wieder dem Klerikalismus zugeführt. Die großstädtische Bevölkerung, infolge des schnellen Wachstums der Großstadt stark mit Elementen durchsetzt, die die bäuerliche Ideologie noch nicht verloren haben, war für den Klerikalismus sehr empfänglich. Alle diese Tatsachen haben die Gedanken des Wiener Kleinbürgertums von den nationalen Fragen abgelenkt: im Kampfe gegen die Juden, im Kampfe um die christliche Schule und christliche Ehe, im Kampfe um die Ausgestaltung des Befähigungsnachweises und der Zwangsgenossenschaften kümmert es sich wenig um das Gezanke der nationalen Parteien. Irgend eine Gewerbenovelle erscheint ihm weit wichtiger als die Brünner Universität, er jammert über den unfruchtbaren nationalen Streit und ist daher dem Gedanken des nationalen Friedens weit weniger abgeneigt als die anderen Schichten des Kleinbürgertums. Gestärkt wird diese Neigung noch durch seinen „Patriotismus“, eine beim schaulustigen Spießbürger der Residenzstadt leicht erklärliche Erscheinung. Der Wiener „Spießer“ ist ein „guter Österreicher“ und will nicht, dass ihm der nationale Streit sein Österreich zerreiße.

Wir haben gesehen, wie im Bewusstsein des Kleinbürgers der nationale Hass, der Wille zum nationalen Machtkampfe in seiner unversöhnlichsten Gestalt ebenso notwendig entsteht wie der Wille nach Macht im Staate, der voraussetzt, dass der Staat leben kann, dass die Tätigkeit der gesetzgebenden Körperschaften durch den nationalen Streit nicht unterbunden wird. Nähere Prüfung zeigt uns, wie diese zwei Willensrichtungen, die sich im Kleinbürgertum überall finden, in den verschiedenen Schichten der Klasse verschieden stark sind: im Kleinbürgertum der Sudetenländer überwiegt der nationale Hass, im kapitalshörigen Handwerk und Kleinhandel Wiens die Neigung, durch billigen Ausgleich der nationalen Gegensätze den nationalen Streit zu schlichten, das Bürgertum der Alpenländer steht etwa in der Mitte zwischen dem radikal-nationalen Kleinbürgertum Böhmens und Mährens und dem christlich-sozialen Kleinbürgertum Wiens.

Ähnliche Gegensätze finden wir auch bei den Bauern. Die Bauern der Sudetenländer sind bereits vom kleinbürgerlichen Nationalismus stark erfasst. Anders die Bauern der Alpenländer. An alle Überlieferung gebunden, sind sie gut österreichisch und schon darum dem nationalen Kampfe wenig geneigt. Ihre stärkste Ideologie ist aber die klerikale. Wir wissen bereits, dass der Klerikalismus ursprünglich kosmopolitisch ist, vom nationalen Kampfe überhaupt nichts wissen will. Allmählich hat er es freilich lernen müssen, mit der harten Tatsache der nationalen Kämpfe zu rechnen. Aber immer bleibt ihm der nationale Streit eine Unbequemlichkeit, der er nur widerwillig Rechnung trägt.

So sehen wir bei allen besitzenden Klassen – bei der Bourgeoisie, beim Kleinbürgertum und bei den Bauern – zwei einander widerstreitende Tendenzen. Die sozialen Verhältnisse erzeugen im Bewusstsein dieser Klassen ebenso notwendig den Willen zum nationalen Kampfe wie den Willen zum nationalen Frieden. Jede Klasse, Ja wenn auch in verschiedener Stärke, jede Schichte dieser Klassen hat an beiden Tendenzen ihren Teil. Diese Tatsache sichert den schließlichen Sieg der nationalen Autonomie. Wären alle Klassen nur von dem Willen zum nationalen Frieden beseelt, dann könnten sich die Nationen auch unter der zentralistisch-atomistischen Nationalitätenverfassung vertragen. Dies ist aber nicht der Fall. Alle besitzenden Klassen sind von starken sozialen Kräften beherrscht, die sie immer wieder zu unversöhnlichem nationalen Kampfe treiben. Aber sobald aus irgend einem nichtigen Anlass der Kampf von neuem entbrennt, das Abgeordnetenhaus und die Landtage völlig lahmlegt, alle Klassen, alle Nationen, den Staat selbst ohnmächtig macht, erstarken die Kräfte zum nationalen Frieden, die gleichfalls in allen Klassen wirksam sind, und immer stärker wird das Bedürfnis nach einem friedlichen Zusammenleben der Nationen, das allen Klassen erst die Möglichkeit schafft, um Macht im Staate zu kämpfen, den Staat ihren Klasseninteressen dienstbar zu machen, Gesetzgebung und Verwaltung mit dem Geiste ihrer Klasse zu erfüllen. Darum folgt in Österreich seit langem auf jede Periode heftigen nationalen Streites ein kurzer Zeitraum, in dem die Nationen sich schlecht und recht vertragen. Aber jedes Neuaufflackern des nationalen Kampfes steigert die Verbitterung der Nationen; die nationalen Parteien, in der Falle ihrer eigenen Schlagworte gefangen, können immer schwerer auch nur in der geringfügigsten Frage dem Gegner ein Zugeständnis machen. So wird der friedliche Ausgleich für alle Nationen immer schwerer. Die anmutige Abwechslung nationaler Obstruktionen und kurzer Friedensperioden wird dauernd unmöglich. Jede neue Steigerung des nationalen Kampfes gibt den Gegentendenzen, die, in allen Klassen wirksam, nationalen Frieden fordern, immer bestimmtere Gestalt. Sie müssen sich schließlich in der Forderung nach rechtlicher Entscheidung des Machtkampfes der Nationen, in der Forderung der nationalen Autonomie verdichten. Nicht aus der friedlichen Gesinnung der Völker und Klassen, sondern aus dem fortwährend steigenden nationalen Hasse, aus der steigenden Erbitterung und Heftigkeit der nationalen Kämpfe, aus der völligen Stilllegung aller gesetzgebenden Körperschaften werden die Gegentendenzen, die zum nationalen Frieden treiben, wachsende Kraft, bestimmteren Inhalt empfangen. Der nationale Kampf zeugt die nationale Autonomie. Das ist die Situation, die wir schon einmal als die Selbstaufhebung der zentralistisch-atomistischen Verfassung bezeichnet haben. In dieser Gestalt wird die Tatsache, dass die zentralistisch-atomistische Verfassung notwendig zum nationalen Machtkampfe treibt, dass der nationale Machtkampf schließlich alle Nationen, alle Klassen, den Staat selbst ohnmächtig macht und dass doch keine Nation, keine Klasse darauf verzichten kann, den starken Arm des Staates ihren Zwecken dienstbar zu machen, zur wirkenden geschichtlichen Kraft.

Irgend eine Richterernennung, irgend eine Schulgründung reizt die nationalen Instinkte. Die radikalen Kleinbürger und Bauern der Sudetenländer, die Fabrikanten, die in dem nationalen Kampfe ein Gegenmittel gegen den Klassenkampf der Arbeiter sehen, reißen die Führung der deutschen besitzenden Klassen an sich. Willig folgen ihnen die deutschen Bürger der Alpenländer und schließlich können sich auch die klerikalen Bauern, auch die christlich-sozialen Handwerker und Kleinhändler dem nationalen Machtkampfe nicht entziehen. Der nationale Hass brennt lichterloh, Ministerien fallen, Parlamente und Landtage lähmt die Obstruktion. Aber nun, da die ganze Staatsmaschinerie stillsteht, erstarken in den besitzenden Klassen die Tendenzen zum nationalen Frieden. Die industriellen Verbände, die den Stillstand der Gesetzgebung nicht ertragen, klerikale Bauern und christlich-soziale Kleinbürger erhalten das Übergewicht, vereinen sich mit den Bürgern der Alpenländer, zwingen schließlich auch die Bürger und Bauern der Sudetenländer zur Mäßigung. Es folgt eine Periode des nationalen Friedens. Aber irgend ein unvorhergesehener Anlass macht der nationalen Idylle bald wieder ein Ende. Lasst die nationalen Parteien diesen lieblichen Kreislauf ein paar Mal zurücklegen und es dringt allmählich in die besitzenden Klassen die Vorstellung: so geht das nicht weiter! Der Staat kann nicht auf Kündigung leben! Wir brauchen ein Programm, das uns endlich den toten Punkt überwinden lässt, das die ewige Wiederkehr nationaler Kampfperioden verhindert, das nicht das Streben aller Nationen, aller Klassen nach staatlicher Macht fortwährend an irgend einem geringfügigen Gegenstand nationalen Streites scheitern lässt. Nicht theoretische Einsicht, sondern die bittere Not, die unerbittliche Notwendigkeit staatlichen Lebens werden die sozialen Schichten, die heute schon im nationalen Kampfe zum Vergleich, zur Versöhnung geneigt sind, schließlich zu Trägern des Gedankens der nationalen Autonomie machen.

In den Dienst dieser Entwicklung stellt sich nun die Arbeiterklasse. Für sie ist die nationale Autonomie nicht die Notwendigkeit des Staates, der ja das Machtwerkzeug ihrer Gegner ist, sondern die Notwendigkeit des Klassenkampfes. Sie wirft den Gedanken der rechtlichen Selbstbestimmung der Nationen in die Massen. Wenn im Klassenkampfe der Gutsherrenklasse gegen Bourgeoisie und Bürokratie der Gegensatz des Zentralismus und des Kronländerföderalismus formuliert wurde, wenn die Intelligenz die Schul- und Sprachenfrage zum Streitgegenstand der Nationen gemacht hat, wenn das Kleinbürgertum dem nationalen Kampfe seinen unversöhnlichen Charakter gab, so pflanzt die Arbeiterklasse nun mitten im Gewühl der nationalen Kämpfe eine neue Fahne auf, das Banner der nationalen Autonomie. Sie muss, wenn sie sich nicht selbst aus den politischen Kämpfen ausschalten will, eine Antwort auf die Frage wissen, die alle Gemüter so leidenschaftlich erregt. Und sie kann ihrem ganzen Wesen nach keine andere Antwort finden als die Selbstbestimmung der Nationen. Je lärmender der nationale Kampf tobt, desto lauter verkündet sie ihr Programm. Unablässig, unermüdlich verkündigt sie allen Völkern Österreichs den großen Gedanken. So dringt die Idee der nationalen Autonomie allmählich in die Massen. Jede sozialdemokratische Zeitung, jede Arbeiterversammlung zwingt die nationalen Politiker, zur Forderung der nationalen Autonomie Stellung zu nehmen. Vor dem neuen Gedanken verblassen die alten Kampfformeln. Das Herrschaftsgelüste jeder bürgerlich-nationalen Partei ist enthüllt, sobald sie die nationale Autonomie ablehnt. So dringt der Gedanke der Selbstbestimmung der Nationen auch in das Bewusstsein der besitzenden Klassen. Alle jene Schichten, in denen der nationale Hass noch nicht den Blick für die Notwendigkeiten des Staates und der Gesellschaft getrübt, noch nicht den Willen zur Macht im Staate ertötet hat, nehmen allmählich das neue Verfassungsprogramm an.

Aber nicht nur die Verhältnisse im Reiche, auch die Kämpfe der Nationen in den Ländern und Gemeinden treiben zur nationalen Autonomie. Die Deutschen beherrschen noch die Vertretungskörper mancher Gemeinde, in denen sie nur eine Minderheit der Bevölkerung bilden. Diese Stellung, die sie dem plutokratischen Gemeindewahlrecht verdanken, ist heute überall bedroht. Einerseits rüttelt die Arbeiterklasse an den Wahlrechtsprivilegien der Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Oberschichte, andererseits dringen dank der Entwicklung einer tschechischen Bourgeoisie die Tschechen auch in die Wahlkörper der Privilegierten ein. So haben die Deutschen die Herrschaft im mährischen Landtag, in den Gemeindevertretungen von Prag und Pilsen verloren, so sehen sie sich heute in Budweis bedroht. Diese Entwicklung ist nicht zu hemmen. Wollen die Deutschen der neuen tschechischen Mehrheit nicht wehrlos ausgeliefert werden, so müssen sie sich durch die nationale Autonomie eine Machtsphäre sichern. Darum hat noch die letzte deutsche Mehrheit im mährischen Landtage die Einführung des Nationalkatasters beschlossen. Darum fordern heute die Budweiser Deutschen die nationale Autonomie in der Gemeinde. Ganz ebenso werden in nicht ferner Zeit die Polen im Osten, die Italiener im Süden die nationale Autonomie innerhalb der Lokalverwaltung fordern müssen, wenn sie nicht dort, wo sie als Minderheit jahrhundertelang geherrscht haben, dem nationalen Gegner wehrlos preisgegeben werden wollen. Die nationale Autonomie wird so zur Forderung der alten historischen Nationen, deren Herrschaft durch die Entwicklung der geschichtslosen Nationen zu historischem Dasein gebrochen wird.

Hinter all dem steht aber noch ein allgemeineres Problem. Alle Sachkundigen sind darüber einer Meinung, dass die österreichische Verwaltungsorganisation den Bedürfnissen eines modernen Staates nicht mehr entspricht. Die alte österreichische Doppelverwaltung – ein sonderbares Gemisch der ständischen Überlieferung, des bürokratischen Zentralismus und der liberalen „Selbstverwaltung“ – ist heute bankerott.

Das gilt unzweifelhaft von der autonomen Landesverwaltung. Sie ist bankrott schon im finanziellen Sinne: die Frage der Landesfinanzen wird von Tag zu Tag schwieriger lösbar. Aber sie ist auch politisch bankerott. Das Land ist als einheitliches Verwaltungsgebiet unmöglich: es mag eine historisch-politische Individualität sein, aber es ist keine soziale und keine nationale Individualität. Die angebliche Selbstverwaltung ist zu einer rücksichtslosen Fremdherrschaft der Mehrheit – wohlgemerkt, der Mehrheit der Wähler des Privilegienwahlrechtes, nicht der Mehrheit der Bevölkerung – geworden. In den national gemischten Ländern führt dies zu fortwährenden Klagen der Minderheit. Aber selbst in den national einheitlichen Ländern hat sich die Bevölkerung längst gewöhnt, gegen die Parteiherrschaft der Landtagsmehrheit tagtäglich die Bürokratie zu Hilfe zu rufen. Die sogenannte autonome Verwaltung der Länder hat den Gedanken der örtlichen Selbstverwaltung in Österreich heillos diskreditiert.

Aber auch die autonome Gemeindeverwaltung hat den großen Erwartungen des Liberalismus nicht entsprochen. Die Gemeinden sind in den meisten Ländern zu klein und zu arm, als dass sie ihren Aufgaben genügen könnten. Das Wahlrechtsprivileg hat sie überall einer oder mehreren Gemeindecliquen wehrlos ausgeliefert. Schließlich sind sie in allen wichtigen Fragen, wenn nicht der staatlichen Bürokratie, so doch dem Landtag und Landesausschuss untergeordnet worden. Die „autonome“ Landesverwaltung missbraucht aber in allen Kronländern ihre Macht zu politischen Zwecken. Jede Bewilligung zu einem Anlehen, zu einer Erhöhung der Gemeindeumlagen wird nur als Belohnung für politische Dienste der Gemeindevertretung gewährt. Am kunstvollsten hat wohl die christlich-soziale Landesverwaltung in Niederösterreich diese politische Korruption ausgebildet. Sehr richtig sagt Brockhausen, dass in Österreich, dank einer sonderbaren Verkettung der Umstände, die „Autonomie“ das Grab der Gemeindefreiheit wurde.

Nicht besser als der autonomen geht es der bürokratischen Verwaltung. Die Aufgaben der Staatsverwaltung wachsen schon infolge der Bevölkerungsvermehrung, dann aber infolge der wirtschaftlichen Umwälzungen, denen die Gesetzgebung Rechnung tragen muss, von Tag zu Tag. Jedes neue Gesetz gibt ihr eine Fülle neuer Aufgaben! Und diese neuen Aufgaben sollen dieselben Statthaltereien überall erfüllen – in der kleinen Bukowina oder in Salzburg ebenso wie im großen hoch entwickelten Böhmen. In den größeren und höchstentwickelten Kronländern sind so wahre Ungetüme von Behörden entstanden, die gar nicht mehr verwalten, sondern nur noch Akten mehr schlecht als recht erledigen können. Jeder Fabrikant, der einen neuen Betrieb gründen wollte, weiß von der Arbeitsweise dieser Behörden ein Lied zu singen. Dass der Statthalter, der an der Spitze dieser Behörde steht, sie wirklich leiten kann, ist gänzlich ausgeschlossen; er hat genug zu tun, wenn er unter die Akten seine Unterschrift setzt. Und dass die Zentralstellen diesen Riesenkörper kontrollieren können, ist gleichfalls unmöglich.

„Die Prager Statthalterei zählt 18 Departements, also mehr Fachabteilungen als das Ministerium des Innern. Welches Ungetüm von einer Behörde ist diese Mittelstelle! Sie zählt an 400 Beamte und hat ein Budget von über 1 Million Kronen, also mehr als das Kultus-, Handels- oder Ackerbauministerium! Und für das Tun und Lassen dieser aktenschreibenden Armee ist der eine Statthalter verantwortlich. Dieser Riesentintenbetrieb erledigt im Jahre – eine Viertelmillion Geschäftsstücke, das macht für den Statthalter per Tag 750 Akten! Und dabei, sagt man, geht der Herr noch jagen! Wie soll ein Ministerium einen solchen Betrieb überwachen, kontrollieren? Die Statthalterei ist ein undurchdringliches Gemäuer, hinter dem jede Vetternwirtschaft, jede autokratische Willkür möglich ist. Von den Vorgängen im Innern erfährt die Zentralstelle nur wenn ein Rekurs erhoben wird. Wie ist ein verantwortliches Ministerium und eine parlamentarische Kontrolle daneben denkbar? Welchen Sinn aber hat ein Ministeriuin als dritte überprüfende Instanz, wenn sie nicht weitaus fachmännischer zusammengesetzt ist als die zweite?“ [1]

Nicht besser als die Statthalterei entspricht, wie Springer im einzelnen nachgewiesen hat, die Bezirkshauptmannschaft ihrem Zweck. Für einen Teil ihrer Aufgaben sind die Sprengel der politischen Bezirke viel zu klein, hier brauchen wir größere Verwaltungssprengel, deren Behörden eine größere Zahl fachlich gebildeter Beamter für jede einzelne Verwaltungsaufgabe zur Verfügung stehen kann.

„Während in Privatrechtssachen von mehr als 1.000 Kronen der kollegial organisierte Gerichtshof erster Instanz entscheidet, beschließt über die Genehmigung einer industriellen Betriebsanlage ein – sagen wir, einseitig juristisch gebildeter Einzelbeamter auf Grundlage des Gutachtens des Bezirksarztes, obwohl das Wohl eines ganzen Distriktes von dem Gedeihen der Industrie abhängen und große Kapitalien bei der Sache auf dem Spiel stehen können.“ [2]

Für andere Aufgaben wieder sind die Sprengel der politischen Bezirke zu groß, zumal der von der Bevölkerung sozial geschiedene Beamte mit den Bedürfnissen des Bezirkes nicht vertraut zu werden vermag.

„Jeder Weg, jeder Mautschranken, jedes Gewerbe hat für den Bezirk eine individuelle Bedeutung. Und gerade die Bezirkshauptmannschaft ist nur eine kurze, rasch genommene Vorstufe für aufsteigende aristokratische Gestirne, die durch die Absonderung ihres Standes und die Kürze des Aufenthaltes verhindert sind, die tatsächlichen Verhältnisse nur zu erfassen, um so mehr Anstoß zu geben, den Gewerbefleiß zu entmuntern und die Kräfte des Volkes zu entfesseln.“ [3]

In der Tat haben alle neueren Verwaltungsanstalten sich von der Einteilung der Verwaltungssprengel losgelöst, so, wie Springer anführt, die Strassenkonkurrenzbezirke, die Verpflegsstationen. die Armenbezirke, die Militärtaxkommissionen, die Bezirkskrankenkassen, die Schubkonkurrenzen. „Es herrscht eine wahre Flucht der Gesetzgebung und Bevölkerung vor der Bezirkshauptmannschaft.“

Wir stehen ohne Zweifel vor Versuchen, die innere Verwaltung zu reformieren. Hier’ wird es nun die Aufgabe der Arbeiterklasse sein, dafür zu sorgen, dass diese Reform nicht bürokratisch geschehe, wie das Ministerium Koerber dies geplant, sondern demokratisch. Die Arbeiterklasse muss notwendig verlangen, dass die innere Verwaltung durch örtliche, auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes nach dem Proportionalwahlsystem gewählte Körperschaften besorgt wird. Wenn das Bürgertum sich mit seinem sozialen Einfluss auf die Bürokratie begnügen kann, so bedeutet die Beamtenherrschaft für die Arbeiterklasse immer Fremdherrschaft. Wenn dem Bürgertum die Demokratie der Gesetzgebung genügt, so will die Arbeiterklasse die Demokratie, die immer noch nur hinkende Demokratie ist, fest auf beide Beine stellen. Die Arbeiterklasse – und nur noch die Arbeiterklasse – begreift den wahren Gehalt des Satzes Niebuhrs, dass die Freiheit und Gleichheit mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung beruhe.

Nun dürfen wir uns über die Aussichten einer so grundlegenden Reform gewiss nicht täuschen. Dass irgend ein Staat des europäischen Festlandes das englische Svytem der inneren Verwaltung noch in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung übernehmen wird, ist sehr unwahrscheinlich. Dazu wirken auch heute noch jene geschichtlichen Tatsachen viel zu stark, die die moderne Staatsverwaltung auf dem Festland in die Hand der Bürokratie gelegt haben. Und dazu gesellt sich, je weiter die kapitalistische Entwicklung fortschreitet, die Angst der altgewordenen Bourgeoisie vor aller Demokratie. Indessen ist in Österreich die wirtschaftliche Entwicklung noch nicht fortgeschritten genug, als dass die Herrschaft des Bürgertums in den weitaus meisten Ländern und Bezirken durch eine demokratische Verwaltungsreform bedroht werden könnte. Und eine merkwürdige Verkettung von Umständen hat gerade im nationalen Streit einen starken Bundesgenossen für die Verwaltungsreform geschaffen. Es ist gewiss, dass Österreich die innere Verwaltung nicht gänzlich in die Hand örtlicher Selbstverwaltungskörper legen wird. Aber eine gemeinsame Verwaltung der Kreise durch einen k. k. Kreishauptmann und einen Kreisrat, wie sie Springer gezeichnet hat, ist in Österreich durchaus möglich.

Wenn es eine Utopie gibt, so ist es die dauernde Erhaltung unserer bestehenden Verwaltungsorganisation. Versucht man es aber, an sie zu rühren, so stößt man sofort auf die nationalen Gegensätze. Jede Verwaltungsreform gewinnt nationale Bedeutung, verschiebt die Machtverhältnisse der Nationen. Diese Tatsache macht eine bürokratische Verwaltungsreform in Österreich aussichtslos. Man versuche es einmal, eine neue Bezirkseinteilung für Böhmen zu verlangen, und man stößt sofort auf den alten Streit um die nationale Abgrenzung. Der Streit der Nationen, beiderseits in letzter Instanz durch das Kampfmittel der Obstruktion gesichert, wird gewiss jede neue Abgrenzung der politischen Bezirke verhindern. Verquickt man aber die neue Abgrenzung mit der Einführung der Selbstverwaltung im Kreise, so stehen die Dinge ganz anders. Werden die Tschechen eine Verwaltungsreform verhindern, die den Massen der tschechischen Bürger und Bauern erst die Selbstverwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten gibt: Was bedeutet der Streit um die Sprache der Beamten, wenn nun das Amt selbst in Frage gestellt wird? Was bedeutet das alte Schlagwort der Landeszerreißung, wenn zum ersten Mal der tschechischen Nation die Macht angeboten wird, sich selbst zu regieren, für ihre wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse selbst zu sorgen? Alle Reform unserer verrotteten Verwaltung ist aussichtslos, wenn nicht die Wucht des demokratischen Gedankens die nationalen Hindernisse niederreißt.

Man führe die örtliche Selbstverwaltung im Kreise in Böhmen durch und sie ist Mähren nicht zu verweigern. Hier erweist sich aber die rein örtliche Abgrenzung als unmöglich. Die nationale Minderheit im Kreise der Mehrheit auszuliefern, geht gleichfalls nicht an. So entsteht hier Springers Doppelkreis: die Selbstverwaltung der national indifferenten Angelegenheiten im territorialen Kreisrat, die Selbstverwaltung der nationalen Kulturaufgaben jeder Nation in der nationalen Kreisvertretung! Und haben wir erst einmal die nationalen Kreisräte und Kreisvertretungen, dann ist mir um ihre Zusammenfassung im ganzen Staat, um den souveränen Nationalrat nicht bange! Gebt der demokratischen Verwaltung ein Stück Bodens und sie treibt mit zwingender Gewalt den gesamten Staat zur Durchführung der nationalen Autonomie!

Utopien, Utopien, nicht wahr? Nun denn, der Nationalkataster war im Jahre 1899 eine Utopie – im Jahre 1905 wurde er in Mähren Gesetz.

Wir haben gesehen, wie die Stilllegung der gesetzgebenden Körperschaften durch den nationalen Streit zur nationalen Autonomie treibt. Aber nehmen wir einmal an, das Abgeordnetenhaus und die Landtage könnten unter der geltenden Verfassung ein paar Jahre lang friedlich arbeiten. Dann bleibt uns die große Umwälzung erst recht nicht erspart. Denn jedes neue Gesetz bedeutet neue Aufgaben für die Verwaltung. Jedes Jahr macht darum die Verwaltungsreform zu einer dringenderen Aufgabe. Eine gründliche Reform der bürokratischen Verwaltung ist aber unmöglich, weil sie alle nationalen Fragen mit einem Schlage aufwirft: alle Fragen der nationalen Abgrenzung, der verfassungsmäßigen Kompetenzen, der inneren und äußeren Amtssprache. Die Verwaltungsreform wird dringender; der nationale Streit hemmt die Verwaltungsreform. In diesem Augenblick springt die Arbeiterklasse ein und wirft die Frage der demokratischen Verwaltung auf. Sie zeigt allen Nationen, dass die autonome Lokalverwaltung die Macht des Amtes unmittelbar in die Hand der Völker legt; sie begegnet dem Streite um die Sprache der Protokolle mit der Frage, ob es denn überhaupt notwendig ist, dass volksfremde Beamte über unsere wichtigsten Angelegenheiten entscheiden. Wiederum zwingt sie einen Teil des Bürgertums, Stellung zu nehmen; wiederum kann ein Teil des Bürgertums .der Macht des demokratischen Gedankens nicht widerstehen. Diese Lage der Dinge begreift nun auch der Staat: die Bürokratie wird sich nicht entschließen, abzudanken zugunsten der aus dem gleichen Stimmrecht hervorgegangenen Kreisräte. Aber der Staat wird eher seine Beamten die Macht mit autonomen Selbstverwaltungskörpern teilen lassen, ehe er seine Verwaltung, sein eigenstes Dasein selbst völlig lahmlegt. Die Notwendigkeit der Verwaltungsreform treibt so, dank dem nationalen Streit, zur Demokratie, und die Notwendigkeit der Demokratie führt wiederum zur nationalen Selbstbestimmung.

Zweifelt man daran, dass die Bürokratie dieses Opfer bringen werde? Nun denn, in anderen Staaten haben die Völker parlamentarische Ministerien schwer erkämpfen müssen. In Österreich aber bettelt die Bürokratie, seit die Beamtenministerien das vom nationalen Streit zerrissene Abgeordnetenhaus nicht mehr zu leiten vermögen, die nationalen Parteien darum, dass sie aus ihren Vertretern das Ministerium bilden, und die Krone selbst muss es als ein „patriotisches Opfer“ erklären, wenn irgend ein Prade oder Pacák sich gnädig herbeilässt, Minister zu werden. Die Notwendigkeit des Staates, zu leben, ist stärker als die Herrschsucht der Bürokratie! Sobald die Bürokratie das zerklüftete Österreich nicht mehr zu verwalten vermag, wird sie noch selbst nach der Teilnahme des Volkes an der Verwaltung rufen! Was würde der Herr Statthalter von Böhmen darum geben, wenn ihm die Verantwortung für manche schwere Entscheidung von der Mehrheit irgend eines Kreisrates abgenommen würde?

Von welcher Seite immer wir das Dasein des Nationalitätenstaates betrachten: überall sehen wir die Kräfte wirksam, die die nationale Autonomie verwirklichen werden. Der nationale Streit lähmt die Gesetzgebung, hemmt die Verwaltung; die Not des Staates wird zur Not aller Klassen, aller Nationen; nur die nationale Autonomie gibt dem Staate wieder seine Lebensfähigkeit zurück, indem sie die Macht der Nationen rechtlich sichert. Weil der Staat die nationale Autonomie nicht entbehren kann, wird sie allmählich zum Programm aller Nationen und aller sozialen Schichten, die den Staat nicht entbehren können.

Ist es wunderbar, dass die Entwicklung der nationalen Verhältnisse zu einer so gewaltigen Umwälzung des alten Österreich führen soll? Uns schiene es wunderbarer, wenn die gewaltige Umwälzung der nationalen Verhältnisse die alten Rechtsformen bestehen ließe. Unsere Verfassung beruht auf zwei Grundsätzen: auf der atomistisch-zentralistischen Regelung der nationalen Verhältnisse, die die Nationen notwendig zum Kampfe um die Macht treibt, und auf der Verschiebung der Machtverhältnisse durch Wahlrechtsprivilegien zugunsten der alten historischen Nationen. Wie gewaltig hat aber das letzte Jahrhundert alle nationalen Verhältnisse verändert! Seither sind alle österreichischen Völker zu historischem Dasein erwacht; seither sind innerhalb aller Völker nacheinander alle Klassen aufmarschiert und der nationale Kampf, einst der Streit der Bourgeoisie und Bürokratie auf der einen, der Gutsherrenklasse auf der anderen Seite, ist zu einem Kampfe der großen Massen der Kleinbürger, Bauern und Arbeiter geworden; seither hat der Kapitalismus alle überlieferten sozialen Verhältnisse umgewälzt, hat die Bevölkerung umgesiedelt und umgeschichtet und überall einen furchtbaren sozialen Hass aufgespeichert, der sich in vielfältiger Weise in nationalen Hass verwandelt hat. Alle Machtverhältnisse sind verändert; wie könnte da die Rechtsordnung unverändert bleiben? Schon hat die Wahlreform die Vorrechte der alten historischen Nationen, wenn nicht beseitigt so doch gemildert. Jeder weitere Schritt zur Demokratie gefährdet die überlieferte Macht der Deutschen, Polen, Italiener im Staat; nur die Macht über den Staat gibt aber in der heutigen Verfassung den Nationen die Gewähr, die Bedürfnisse der nationalen Kultur befriedigen zu können. So klammern sich die alten historischen Nationen an den bestehenden Zustand, fürchten jede Änderung. Aber die Erhaltung der bestehenden Zustände ist unerträglich für die aufwärtsstrebenden geschichtslosen Nationen, unerträglich für alle Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, die keinen Stillstand ertragen können, unerträglich für den Staat selbst, dessen Gesetzgebung nicht stillstehen, dessen Verwaltung nicht unverändert weiterbestehen kann. Weiterentwicklung und Stillstand sind unter unserer Verfassung gleich unmöglich. Wenn die Rechtsordnung den Nationen die Autonomie zugesteht, so geschieht nichts anderes, als dass sich die Rechtsordnung den neuen Machtverhältnissen anpasst, die das Erwachen der geschichtslosen Nationen und die soziale Differenzierung aller Völker geschaffen haben.

Freilich ist es wenig wahrscheinlich, dass die nationale Autonomie das Ergebnis einer großen Entschließung, einer kühnen Tat sein wird. In einem langsamen Entwicklungsprozess, in schweren Kämpfen, die immer wieder die Gesetzgebung stilllegen und die bestehende Verwaltung starr erhalten und doch nicht lebensfähig machen können, wird sich Österreich Schritt für Schritt der nationalen Autonomie entgegen entwickeln. Nicht eine große gesetzgeberische Tat, sondern eine Unzahl von Einzelgesetzen für einzelne Länder, einzelne Gemeinden werden die neue Verfassung schaffen. Aber wie immer dies werden mag, wem der nationale Kampf nicht törichte Bosheit von Hetzern, sondern notwendige Wirkung veränderter sozialer Verhältnisse ist, wem die Rechtsordnung nicht ein willkürlich beschriebenes Stück Papier, sondern der Niederschlag der gesellschaftlichen Machtverhältnisse ist, der darf den Satz getrost wiederholen: „Wenn Österreich sein wird, wird die nationale Autonomie sein.


Fußnoten

1. Springer, Kampf der österreichischen Nationen, S.129.

2. Springer, a.a.O., S.120.

3. Springer, a.a.O., S.121.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008