Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


V. Die Entwicklungstendenzen der nationalen Kämpfe in Österreich


§ 25. Österreich und Ungarn


Wir haben bisher zu zeigen versucht, welche Kräfte in Österreich selbst die Entwicklung zur nationalen Autonomie bestimmen. Rudolf Springer hat darauf hingewiesen, dass diese Kräfte einen starken Bundesgenossen finden werden an Bewegungen, die die Auseinandersetzung zwischen Österreich und Ungarn auslösen wird. Wollen wir uns mit dieser Ansicht auseinandersetzen, so ist eine kurze Erörterung der ungarischen Frage nicht zu umgehen.

Ungarn fiel gleichzeitig mit Böhmen an Österreich. Aber die innere Entwicklung Ungarns ging ganz andere Wege als die Böhmens. Während Böhmen durch die Niederlage der Stände seinen Adel verloren hat, hat der magyarische Adel sich erhalten. Dadurch unterscheidet sich zunächst die national-kulturelle Entwicklung der Magyaren und der Tschechen: die Magyaren sind niemals zu einer geschichtslosen Nation geworden wie die Tschechen. Sie wurden nicht von einer fremden Herrenklasse beherrscht, sondern haben vielmehr selbst die geschichtslosen Nationen ihres Landes – die Rumänen, Slovaken, Serben, Ruthenen – geknechtet und ausgebeutet. Dieselbe Tatsache scheidet auch die politische Entwicklung der beiden Länder: in Böhmen haben die Habsburger die Stände vernichtet, Gesetzgebung und Verwaltung fielen in die Hand des Staates und seiner Bürokratie, in Ungarn dagegen haben die Stände ihre Macht in Gesetzgebung und Verwaltung behauptet und nur allmählich verwandelten sich die Stände in ein modernes Parlament – ein Prozess, der im Grunde auch heute noch nicht abgeschlossen ist.

Die ungarische Verfassung legte alle Macht in die Hand des magyarischen Adels. [1] Der Kampf zwischen der Staatsgewalt und den Ständen konnte auch Ungarn nicht erspart bleiben. So kommt es zu fortwährenden Kämpfen der „Nation“ [2] gegen „Wien“, das heißt gegen die absolute Staatsgewalt, ein Kampf, in dem die „Nation“ sich mit dem Ausland verbündet und „Wien“ mit Bluturteilen und Hinrichtungen antwortet. Die ganze Ideologie des magyarischen Adels ist auch heute noch erfüllt von der Erinnerung an diesen rücksichtslosen, unablässigen Kampf des Staates mit den Ständen.

Es waren gewaltige wirtschaftliche Interessengegensätze, die diesem Kampfe zugrunde lagen. In der theresianischen und josefinischen Zeit will der Staat auch in Ungarn die Bauern gegen die Ausbeutung durch die Gutsherrenklasse schützen. Der magyarische Adel zahlte keine Steuern; der Bauer war also der Hauptsteuerträger. Die Sorge für die „k. k. Kontribuenten“ treibt auch hier zur Bauernschutzpolitik. Sie war hier um so dringender nötig, als die Bauern seit der Niederwerfung des großen Bauernaufstandes von 1514 den Gutsherren wehrlos ausgeliefert waren und ihre rechtliche und wirtschaftliche Lage kaum besser war als im benachbarten Polen. Aber bei seinem ersten Versuche (1764 bis 1765) stieß der Staat auf den erbittertsten Widerstand des Reichstages. Die Kaiserin ließ daher 1766 bis 1768 durch Hofkommissionen ein „Urbarium“ entwerfen; aber die Stände setzten seiner Durchführung ihre ganze Macht entgegen und sahen in dem Versuche eigenmächtiger Regelung durch die Staatsgewalt eine Verfassungsverletzung. Durch die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Josef II. 1783 in Siebenbürgen, 1785 in Ungarn durchführte, wurden die Stände neuerlich gereizt. Als aber gar die Steuer- und Urbarialregulierung Josefs II. die herrschaftlichen Ansprüche in eine einheitliche Geldleistung verwandeln und nicht unwesentlich herabmindern wollte, steigerte sich der Widerstand des Adels zur offenen Rebellion. Josef II. musste für Ungarn das Gesetz noch selbst widerrufen! Der Adel hatte sein nationales Recht – das Recht auf Ausbeutung der Bauern, der magyarischen sowohl wie der fremden – mit Erfolg behauptet. Die Stände haben 1790 das ihnen weit günstigere theresianische Urbarium anerkannt, aber auch dieses nur provisorisch. Tatsächlich blieb es vollständig wirkungslos. [3]

Neben dem Rechte auf unbegrenzte Ausbeutung der Bauern galt den Ständen ihrer Steuerfreiheit als das heiligste nationale Recht. Vergebens haben die Habsburger immer wieder versucht, den Adel zum Verzicht auf dieses Vorrecht zu bewegen. Da sich der Adel hierzu nicht verstehen wollte, so rächte sich der Absolutismus in seiner Weise. Ungarn wurde geradezu als Kolonie behandelt. Im ständischen Doppelstaate lag die Gewerbegesetzgebung und Zollpolitik durchaus in der Hand des Kaisers. Der Merkantilismus hat nun in Ungarn die Entwicklung der Manufaktur und Hausindustrie nicht gefördert, sondern sie bewusst gehemmt, um den österreichischen Unternehmungen den ungarischen Markt zu sichern. So wurden die Einfuhrzölle für die Rohstoffe der Industrie in Ungarn höher festgesetzt als in Österreich. Als beispielsweise der Zolltarif des Jahres 1775 beraten wurde, erklärte Graf Blümegen:

„Wenn man Farbzeug, Indigo in den deutschen Erblanden mit 5 Prozent belege, so müssten diese Artikel in Ungarn mit 30 Prozent angesetzt werden, weil dies das einzige Mittel sei, Ungarn von der Errichtung von Fabriken abzuhalten.“ [4]

Um den österreichischen Kapitalisten den ungarischen Markt zu sichern, wurde die Einfuhr ausländischer Waren nach Ungarn erschwert. Diesem Zwecke dienten österreichische Durchfuhrzölle, ferner die Bestimmung, dass ausländische Waren nach Ungarn nur an gewissen Hauptstationen eingeführt werden dürfen, während man österreichische Waren nach Ungarn an jeder beliebigen Grenzstation einführen konnte. Dagegen wurde die ungarische Ausfuhr nach anderen Ländern als nach Österreich unterbunden; wenn ungarische Waren über Österreich in das Ausland geführt wurden, mussten sie den Ausfuhrzoll doppelt bezahlen. Am rücksichtslosesten ging man vor, wo ungarische und österreichische Waren in Wettbewerb traten; so musste zum Beispiel, wer eine Quantität ungarischen Weines in das Ausland ausführen wollte, die gleiche Menge österreichischen Weines ausführen, damit der österreichische Weinbau unter dem ungarischen Wettbewerb nicht leide. [5] Der Kaiser hatte ja nicht nur das Recht der Zollgesetzgebung in Österreich, sondern auch als König von Ungarn das Recht der wirtschaftlichen Gesetzgebung für die Länder der Stephanskrone. Diese Rechte wurden nun ausschließlich zugunsten der Erbländer gebraucht. Man muss diesen Zusammenhang verstehen, um die Erbitterung Ungarns gegen diese Politik zu begreifen, die die Rechte des Königs von Ungarn ausschließlich den Interessen Österreichs dienstbar machte! Freilich hatte der ungarische Adel kein Recht, sich über diese Politik zu beklagen. Vielmehr hat er sie selbst dadurch verschuldet, dass er auf seine Steuerfreiheit nicht verzichten wollte. Da der ungarische Gutsherr keine Steuer zahlte, der ungarische von der Gutsherrenklasse rücksichtslos ausgebeutete Bauer nur verhältnismäßig wenig staatliche Steuern ertragen konnte, so konnte das Land kaum in anderer Weise als durch die Zölle zur Steuerleistung herangezogen werden. Dieser Zusammenhang lässt sich quellenmäßig wohl erweisen. So schrieb Josef II. am 30. Dezember 1785 an den ungarischen Kanzler, den Grafen Palffy, er wolle Ungarn gleich behandeln wie Österreich, insbesondere die Gründung von Fabriken fördern, wenn der ungarische Adel auf die Steuerfreiheit verzichte. [6] Aber der magyarische Adel hat sich zu diesem Opfer nicht entschlossen. Wenn Ungarns wirtschaftliche Entwicklung auch heute noch nicht nur hinter der der westeuropäischen Länder, sondern selbst hinter der kapitalistischen Entwicklung Österreichs weit zurückgeblieben ist, so hat das auch viele andere Gründe – man erinnere sich nur, dass Ungarn erst vor zwei Jahrhunderten von der Türkenherrschaft befreit wurde – aber zum nicht geringen Teile dankt es seine Rückständigkeit dem ungarischen Adel, der die Entwicklung des Landes seinem Vorrecht der Steuerfreiheit geopfert hat.

Indessen, diesen Zusammenhang mag heute der Geschichtskundige durchschauen, die Bevölkerung Ungarns hat ihn nie verstanden. Sie sah nur, dass der König von Ungarn seine verfassungsmäßigen Rechte zum Nachteil des Landes, zum Vorteil eines fremden Staates gebrauchte. Diese Tatsachen haben heute noch wirkende Kraft. Der jahrhundertelange Ständekampf hat im magyarischen Adel eine politische Ideologie gezüchtet, die im Kampfe gegen den Absolutismus, im Kampfe gegen „Wien“, im Kampfe um die Freiheit und Souveränität der ungarischen Stände die einzige politische Aufgabe sah. Und die Behandlung Ungarns als Kolonie ließ mehr und mehr den magyarischen Adel als Kämpfer für die Interessen des gesamten Königreichs gegen eine fremde Macht, die Ungarn knechten und ausbeuten will, erscheinen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der Gegensatz immer schärfer empfunden. 1843 wurde Lists Nationales System der politischen Ökonomie in das Magyarische übersetzt. Die „Entwicklung der Produktivkräfte des Landes“ wurde zu einem beliebten Schlagwort. 1844 verlangen die Stände das Recht der Zollgesetzgebung. In demselben Jahre wird ein nationaler Schutzverein gegründet, dessen Mitglieder sich ehrenwörtlich verpflichten, nur Erzeugnisse des ungarischen Gewerbes zu kaufen.

Den Unwillen des Landes darüber, dass der Absolutismus seine wirtschaftliche Entwicklung durch seine wirtschaftspolitische Gesetzgebung unterband, wusste der Adel klug seinen Interessen dienstbar zu machen. Aber er kannte noch andere Mittel, um den Kampf der Stände als nationalen Kampf erscheinen zu lassen.

Eines dieser Mittel war der Kampf um den Gebrauch der magyarischen Sprache. Der Sprachenkampf beginnt hier unter Josef II. Damals hatte in Deutschland die deutsche Sprache das mittelalterliche Latein längst aus der Gesetzgebung, der Verwaltung und Rechtsprechung, aus der Wissenschaft verdrängt. In Ungarn dagegen war die lateinische Sprache immer noch Staatssprache. Allmählich greift nun die Bewegung, die das Lateinische durch die lebenden Volkssprachen ersetzen will, auch nach Ungarn über. Josef II. wollte aber hier die lateinische Sprache nicht etwa durch die magyarische ersetzen, sondern durch die deutsche. Die lateinische Sprache war die Sprache der Stände und der ständischen Verwaltung; die deutsche Sprache war die Sprache der kaiserlichen Bürokratie. Kein Wunder, dass der Kaiser, der alle ständischen Verfassungen und damit alle Sonderrechte seiner „Königreiche und Länder“ vernichten und die ganze Monarchie zu einer „einheitlich regierten Masse“ machen wollte, den Geltungsbereich der deutschen Sprache auch über Ungarn auszudehnen strebte. Die Stände wehrten sich gegen die Einführung der „lingua peregrina“ mit aller Macht; der Kampf gegen die deutsche Sprache wurde ihnen ein wirksames Mittel ihres Klassenkampfes gegen die Staatsgewalt. Schon 1792 wird der Unterricht in der magyarischen Sprache in allen Schulen des Landes vorgeschrieben. Durch die Gesetze der Jahre 1836 und 1844 wird das Magyarische an Stelle des Lateinischen die Staatssprache Ungarns.

Und sehr schnell erkannte der Adel, dass es kein besseres Mittel geben konnte als den Sprachenkampf, wenn er seinen ständischen Kampf als Kampf der ganzen Nation erscheinen lassen wollte. Die fremde Sprache im Munde des Beamten, des Richters, des Offiziers macht die Fremdherrschaft anschaulich. Die Forderung, dass der Staat die magyarische Sprache sprechen sollte, musste nicht nur das magyarische Bürgertum, sondern auch den magyarischen Bauer gewinnen. Der Instinkt der Massen ahnt, dass die Organe des Klassenstaates ihn als fremde Mächte beherrschen; aber kindlich meinen sie, die Fremdherrschaft, die doch das Wesen jedes Klassenstaates ist, beseitigen zu können, wenn sie nur die fremde Sprache aus den Ämtern, Gerichten, der Armee ausscheiden. Als ob der Staat den magyarischen Bauern darum nicht mehr als fremde Macht gegenüberstünde, wenn seine Organe mit ihm magyarisch sprechen! So hat der Kampf um die Sprache das Wunder bewirkt, die magyarischen Bauern in die politische Gefolgschaft ihrer grausamsten Unterdrücker einzureihen!

Es ist nun überaus interessant, zu sehen, wie die durch den fortwährenden Kampf zwischen der Staatsgewalt und den Ständen immer wieder erzeugte und verstärkte Ideologie des Adels allmählich selbst stärker geworden ist als sein Klasseninteresse. Die Klassenideologie ist immer ein Erzeugnis der besonderen Bedingungen, unter denen eine Klasse lebt; sie ist stets geboren aus einem Klasseninteresse. Aber einmal entstanden, lebt eine Klassenideologie weiter, sie macht eine eigene Entwicklung durch, treibt, durch ihre eigene Logik über sich selbst hinaus. So kann es unter günstigen Umständen geschehen, dass die Klassenideologie das Klasseninteresse, dem sie ihr Dasein verdankt, überlebt, dass die Klasse an ihre Ideologie gebunden bleibt, mag sie auch nicht mehr ihren Interessen entsprechen. Ein solcher Zustand mag nur als Übergangszustand denkbar sein, das veränderte Klasseninteresse wird schließlich gewiss auch die Klassenideologie verändern. Aber zeitweilig besteht doch dieser Widerstreit zwischen Klasseninteresse und Klassenideologie und wird geschichtlich wirksam. Dies war auch die Situation des magyarischen Adels kurz vor dem Jahre 1848 und während der Revolution. Die Ideologie des Adels war die nationale Freiheit. Das Klasseninteresse des Adels an der Erhaltung ständischer Herrschaft, die ihm die Bauern wehrlos unterwarf und ihm seine Steuerfreiheit sicherte, hatte ihn zum Kampfe um die Freiheit der Nation getrieben. Aber dieser Gedanke hatte sich in jahrhundertelangen Kämpfen der Köpfe des magyarischen Adels mit solcher Macht bemächtigt, dass er sie schließlich auch dann beherrschte, als er bereits ihren Interessen widerstritt. Die ungarn-feindliche Wirtschaftspolitik des Absolutismus ist nicht zu bekämpfen, wenn der Adel auf seine Steuerfreiheit nicht verzichtet – ein Teil des Adels entschließt sich endlich, für dieses Opfer zu stimmen. Der Kampf gegen den Absolutismus kann nicht als Freiheitskampf erscheinen, solange der Adel ihn allein führt: so entschließt sich denn ein Teil des Adels, die Herrschaft mit dem Bürgertum zu teilen. Der eigene Kampf bringt den magyarischen Adel den bürgerlichen Freiheitskämpfern ganz Europas näher: so übernimmt er denn die großen Gedanken der bürgerlichen Revolution; an die Stelle der Forderung nach ständischer Herrschaft tritt allmählich das Verlangen nach der Herrschaft des Parlaments, an die Stelle des Prinzips der ständischen Vorrechte der Gedanke bürgerlicher Rechtsgleichheit. Wohl wehrt sich die Mehrheit des Adels gegen die Folgerungen aus ihrer eigenen Ideologie, sobald sie ihren Interessen widerstreiten. Aber der jüngere, tatkräftigere Teil des Adels, entflammt von den Idealen des Kampfes seiner Klasse, hält an diesen Gedanken fest und führt sie schließlich zum Siege, sobald die Revolution alle Hindernisse niederreißt. Darum konnte der Freiheitskampf des magyarischen Adels den Revolutionären in ganz Europa als ihr eigener Kampf erscheinen, obwohl doch die Kämpfer in Ungarn die Erben jenes Adels waren, dem ständische Rechte nichts als ein Mittel waren, die eigene Steuerfreiheit und die Ausbeutung der Bauern gegen den Eingriff der Staatsgewalt zu sichern.

Der lange Kampf zwischen dem Staate und dem magyarischen Adel endet schließlich mit einem Kompromiss, dem berühmten „Ausgleich“ von 1867. Die deutsche Bürokratie und Bourgeoisie teilt mit dem magyarischen Adel die Herrschaft im Reiche. Die Krone begnügt sich damit, dass ihr durch die einheitliche Armee die Herrschaft im ganzen Reiche gesichert wird, dass das Reich nach außen als ein einheitlicher Staat erscheint; im übrigen gewährt sie den Magyaren die Macht, einen nationalen Staat zu begründen. Die geschichtslosen Nationen werden dem magyarischen Adel wehrlos ausgeliefert.

Aber der Ausgleich kann der Abschluss der ganzen Entwicklung nicht sein. Im alten ständischen Doppelstaate waren die habsburgischen Länder eine Einheit gewesen, soweit die Macht des Kaisers reichte, dagegen jedes Kronland ein selbständiger Staat, soweit das Recht der Stände galt. Je mächtiger der Landesfürst wurde, desto stärker ward das Band, das die Länder miteinander verknüpfte; je mehr die Macht der Stände sank, desto mehr verloren die Kronländer den Charakter selbständiger Staaten. Darum erschien der Kampf der Stände gegen den Staat als ein Kampf des Föderalismus gegen den Zentralismus, in Ungarn also der Kampf gegen die Krone als ein Kampf gegen die enge Verbindung mit Österreich.

Dieser Kampf hat nun auch nach Abschluss des Ausgleichs nicht aufgehört. Die überlieferte politische Ideologie war für Ungarn allzu einladend, sie auszunützen. Ungarn und Österreich hatten ja verschiedenartige Interessen. Zunächst bei der Frage, welchen Teil der gemeinsamen Lasten, der Kosten des Heeres und der Verzinsung der gemeinsamen Staatsschuld, jeder der beiden Staaten tragen sollte. Dann bei Regelung aller wirtschaftspolitischen Fragen: jeder Handelsvertrag musste die Frage aufwerfen, inwieweit Österreichs industrielle oder Ungarns agrarische Interessen berücksichtigt werden sollten. Endlich auch bei vielen politischen Fragen. Welchen Einfluss sollte Ungarn, welchen Einfluss Österreich auf die gemeinsame auswärtige Politik üben? In diesem Widerstreit der Staaten nun gab sich Ungarn den Anschein, als bringe es ein großes Opfer, wenn es überhaupt in die Gemeinschaft mit Österreich willige. So musste denn in jedem Streite beider Staaten Österreich nachgeben, damit die Gemeinsamkeit Ungarn nicht unerträglich werde. So hatte Ungarn an dem Bestände von Parteien, die die alte Tradition des Kampfes gegen die Gemeinsamkeit pflegten, ein materielles Interesse: seiner staatsrechtlichen Opposition dankt Ungarn manchen Sieg über Österreich im Kampfe um die Quote, um Zoll- und Handelsverträge, um Einfluss auf die auswärtige Politik. Der Kampf gegen die Gemeinsamkeit war ursprünglich ein Mittel im Kampfe der Stände gegen die Staatsgewalt. Die überlieferten Ideen dieses Kampfes hat Ungarn nach dem Ausgleich sorgfältig gepflegt; sie sind ihm jetzt ein Mittel im Interessenkampfe gegen die andere Reichshälfte geworden.

Der Kampf gegen die Gemeinsamkeit erschien zunächst als Kampf gegen die äußeren Zeichen der Reichsgemeinschaft: gegen Wappen, Fahnen, gegen die deutsche Sprache. Am wichtigsten war und ist auch heute noch der Sprachenkampf. Die herrschende Klasse hat an diesem Kampfe ein unmittelbares Interesse: die magyarische Armeesprache wird ihr die Offiziersstellen in der ungarischen Armee vorbehalten, den Wettbewerb österreichischer Offiziere ausschließen. Überdies aber muss der herrschende Kleinadel, die Gentrv, schon darum die Alleinherrschaft der magyarischen Sprache anstreben, weil ihre Macht auf der Unterdrückung der geschichtslosen Nationen beruht. Sie will zunächst den Rumänen, Ruthenen, Serben, Slovaken, aber auch den Deutschen in Ungarn die magyarische Sprache aufdrängen. Aber dieser Kampf erscheint wenig volkstümlich; er widerstreitet den überlieferten Ideologien, die den Kampf der Nation als einen Kampf um die Freiheit erscheinen lassen; er widerstreitet selbst den Ideologien der breiten Massen der magyarischen Nation, die, selbst ausgebeutet und unterdrückt, aller Unterdrückung feind sind, und stellt daher die herrschende Klasse vor die Gefahr, die politische Gefolgschaft der eigenen Nation zu verlieren. So gilt es denn, den Kampf um die Sprache als einen Freiheitskampf erscheinen zu lassen. Darum gibt man ihm eine Spitze gegen Wien, gegen die Krone. Der Kampf um die Alleinherrschaft der magyarischen Sprache im staatlichen Leben, ein Werkzeug der Gentry zur Unterdrückung der Nationalitäten, erscheint als Kampf des Parlaments gegen die Krone – und die Freiheitsfreunde in ganz Europa und in Ungarn selbst klatschen ihm Beifall.

Die breiten Massen waren für diesen Kampf unschwer zu gewinnen. In einem Lande mit sehr langsamer wirtschaftlicher Entwicklung erhalten sich zähe die überlieferten Ideologien der Klassen. Wie sehr hat die kapitalistische Entwicklung die sozialen und politischen Ideale des deutschen Volkes seit der Revolution verändert! In Ungarn dagegen klingt dem magyarischen Bauern heute noch wie 1848 der Name Kossuth wie ein Programm. Vor kurzem noch kannten die Massen des magyarischen Volkes keinen anderen politischen Gedanken als den alten, aus der Zeit des Ständekampfes überlieferten: den Kampf gegen Wien. Auch heute noch ist es nicht schwer, dem Bauern die deutsche Sprache als Zeichen der Fremdherrschaft erscheinen zu lassen. Die ungarische Armee wäre freilich auch dann kein Volksheer, wenn der Bauernsohn mit magyarischen Kommandoworten zum Dienst für den Klassenstaat gedrillt würde. Aber das deutsche Kommando macht es so anschaulich, so unmittelbar sichtbar, dass der magyarische Bauernsohn im Dienste einer fremden Macht die Mühen der Dienstzeit auf sich nehmen muss. Ist es wunderbar, dass sein richtiger Instinkt gegen die Armee des Klassenstaates, die bei jeder Ernte gegen streikende Landarbeiter, bei jeder Wahl gegen oppositionelle Bauern entsandt wird, sich zunächst in dem naiven Hasse gegen die deutsche Armeesprache äußert?

So entspringt der Kampf gegen die Reichsgemeinschaft dem Klasseninteresse und der Klassenideologie der herrschenden Grundbesitzerklasse, die es verstanden hat, das sich langsam entwickelnde magyarische Bürgertum und die Masse der magyarischen Bauern in der überlieferten Gedankenwelt einer vergangenen Zeit zu erhalten und sie dadurch in den Dienst der Interessen des herrschenden Adels zu stellen. Dass Ungarn entschlossen ist, den magyarischen Nationalstaat rein auszubauen, eine eigene magyarische Armee zu schaffen, unterliegt keinem Zweifel. Auch das gemeinsame Wirtschaftsgebiet besteht rechtlich nicht mehr; von Rechts wegen könnte Ungarn morgen ohneweiters an der österreichischen Grenze Einfuhrzölle einheben. Wird es die rechtliche Möglichkeit zur vollen Wirklichkeit machen?

Selbst Rudolf Springer meint, dass in Ungarn nur „einige Gründer und die kleinbürgerliche Arroganz“ das einheitliche Zollgebiet bekämpfen. [7] Ich halte dies für einen Irrtum. Sehr starke Kräfte treiben Ungarn auch zur wirtschaftlichen Trennung von Österreich. Im Jahre 1900 entfielen von den Erwerbstätigen nur 17,5 Prozent auf Berg- und Hüttenwesen, Industrie, Handel und Verkehr, dagegen 71,13 Prozent auf die Landwirtschaft. Der Warenaustausch zwischen Österreich und Ungarn ist im wesentlichen ein Austausch österreichischer Industrieprodukte gegen die Erzeugnisse der ungarischen Landwirtschaft und Viehzucht. Im Jahre 1905 waren von den Waren, die Ungarn nach Österreich eingeführt hat, dem Werte nach 58,2 Prozent Rohstoffe, 7,2 Prozent Halbfabrikate, 34,6 Prozent Ganzfabrikate, während Österreich nach Ungarn dem Werte nach 10,3 Prozent Rohstoffe, 11,8 Prozent Halbfabrikate, 77,9 Prozent Ganzfabrikate ausführte. Welche Wirkungen hat ein solches Verhältnis für die ungarische Wirtschaft?

In einem Agrarstaate werden zunächst im Verhältnis zu seiner Volkszahl überhaupt weniger Werte produziert als in einem Industrielande. Die landwirtschaftliche Arbeit ist Saisonarbeit. Die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte liegen daher während eines großen Teiles des Jahres brach. Der Kapitalismus hat zunächst das alte Hauswerk – die Nebenbeschäftigung des Bauern für den eigenen Bedarf – zugrunde gerichtet. Dieser Prozess ging in Ungarn allerdings sehr langsam vor sich. Auch heute noch ist die Hausweberei, ja selbst die Hausspinnerei für den Eigenbedarf der Bauernfamilie noch nicht vollständig verdrängt. Aber mit der Entwicklung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus dringen die Industrieprodukte auf das Land und vernichten das alte Hauswerk. In anderen Ländern wurde das Hauswerk durch die Hausindustrie ersetzt: Bauern und Häusler begannen als Hausindustrielle, im Solde des Kapitalisten Waren zu erzeugen. Aber gerade in Jener Zeit, in der die alten Hausindustrien begründet wurden, litt Ungarn unter der Wirtschaftspolitik des österreichischen Merkantilismus. Nicht in Ungarn, sondern in Böhmen, Mähren, Schlesien entstanden die kapitalistischen Hausindustrien, deren Waren der ungarische Bauer kaufte. So wurde der ungarischen Landbevölkerung ihre alte Nebenbeschäftigung genommen, ohne dass sie durch eine neue ersetzt werden konnte. Das bedeutet für die ungarische Gesamtwirtschaft, dass weniger gesellschaftliche Arbeit geleistet, also weniger Werte produziert werden. Für die ländliche Bevölkerung selbst hat es die Wirkung, dass sie, wo die Landwirtschaft selbst sie nicht ernähren kann, sich im Lande überhaupt nicht zu erhalten vermag und daher zur Auswanderung gezwungen wird. In der Tat wächst die Auswanderung aus Ungarn von Jahr zu Jahr. Der Wert der ausgewanderten Arbeitskräfte und der Mehrwert, den sie im Lande hätten erzeugen können, geht der Gesamtwirtschaft verloren.

Die Ausbeutung der ungarischen Landarbeiter ist ungeheuer groß. Ist die Ernte weniger gut, so verbreitet sich selbst in den fruchtbarsten Teilen des Landes der Hungertvphus. Die ungarische Regierung sucht diese Notlage der ländlichen Bevölkerung, die in dem fruchtbaren Lande natürlich nicht die Ungunst der Natur, sondern die maßlose Ausbeutung verschuldet, zu verewigen, indem sie die Organisation der Landarbeiter verhindert, jede Arbeitseinstellung mit Waffengewalt niederschlägt und der Staat selbst für die Vermittlung von Streikbrechern sorgt. Ist der Preis der Arbeitskraft so niedrig, so kommt für die Gesamtwirtschaft alles darauf an, was mit dem Mehrwert geschieht.

Ein beträchtlicher Teil dieses Mehrwerts fließt nun in das Ausland. Dies schon darum, weil große Teile des Landes ausländischen Grundbesitzern gehören, die den Mehrwert im Auslande verzehren, so dem Kaiserhause, böhmischen und ausländischen Grundbesitzern, österreichischen Klöstern.

Aber auch ganz abgesehen davon, muss Jedes Land, dessen Kapital niedrige organische Zusammensetzung hat, im Warenaustausch mit einem Land höherer organischer Zusammensetzung einen Teil seines Mehrwertes an das Ausland abtreten. Wir haben die Gründe für diese wichtige Erscheinung schon bei Besprechung des Gegensatzes zwischen dem deutschen und tschechischen Böhmen angeführt und können uns hier auf diese Darstellung berufen. Wenn Ungarn Getreide gegen Baumwollgewebe austauscht, so ist in dem Getreide mehr gesellschaftliche Arbeit vergegenständlicht als im Baumwollgewebe; Ungarn leistet daher für Österreich Mehrarbeit.

Wohl wird auch hier dieses Gesetz durch die Erscheinung der Grundrente durchbrochen. Wenn das Getreide, das Ungarn an Österreich im Austausch hingibt, auf schlechtem Boden geerntet ist, so ist zur Produktion dieses Getreides mehr Arbeit erforderlich gewesen als zur Herstellung einer Quantität Baumwollgewebe, die denselben Preis erzielt. Aber Ungarn hat auch bessere Böden und das auf dem fruchtbaren Boden geerntete Getreide erzielt denselben Preis wie das Erzeugnis des schlechtesten Bodens, dessen Ertrag das Wirtschaftsgebiet noch braucht. Werden die Erzeugnisse des besseren Bodens ausgetauscht, so enthalten sie nicht mehr, vielleicht sogar weniger Arbeit als das Baumwollgewebe, das Österreich für sie im Austausch hingibt. Indessen wird dadurch die Mehrarbeit, die Ungarn für Österreich (wie jedes Land mit niedriger organischer Zusammensetzung des Kapitals für das höher entwickelte Land) leisten muss, nur verringert, nicht aufgehoben. Dies schon darum nicht, weil auch ein beträchtlicher Teil der Grundrente in das Ausland, insbesondere wiederum nach Österreich abfließt. Ein beträchtlicher Teil der Grundrente wird ja stets als Zins an die Hypothekargläubiger der Grundbesitzer gezahlt.

Auf diese Weise fließt ein nicht geringer Teil der ungarischen Grundrente in die Hände jener österreichischen Kapitalisten, die den ungarischen Landwirten unmittelbar oder mittelbar (als Pfandbriefbesitzer) Hypothekardarlehen gewähren. Dieses Einkommen ausländischer Kapitalisten wird zwar in Ungarn versteuert und soweit das Hypothekengeschäft in den Händen der gemeinsamen Notenbank ist, hat auch der Staat einen Anteil am Gewinn; aber soweit der Hypothekenzins Privatkapitalisten zufließt, strömt er zum größten Teil in das Ausland.

Wir sehen also: in Ungarn ist die Masse der erzeugten Werte im Verhältnis zu der Volkszahl des Landes klein; da die Ausbeutung der Arbeiter sehr groß ist, bildet der Mehrwert einen beträchtlichen Teil dieser Werte; von diesem Mehrwert fließt aber ein großer Teil in das Ausland. Diese Tatsachen müssen die Kapitalsanhäufung im Lande hemmen. Dazu kommt aber noch die Art, wie die Besitzer der Produktionsmittel den im Lande verbleibenden Teil des Mehrwertes verbrauchen. Der Kapitalist teilt seinen Mehrwert in zwei Teile. Den einen Teil konsumiert, den anderen akkumuliert er, das heißt er verwandelt ihn wieder in Kapital, gebraucht ihn, um Arbeitskräfte und Produktionsmittel zu kaufen. Wir nennen das Verhältnis des akkumulierten zum gesamten Mehrwert die Akkumulationsrate. Je höher die Akkumulationsrate ist, desto schneller steigt der Kapitalsreichtum des Landes. Nun ist es eine alte Erfahrung, dass die industriellen Kapitalisten einen wesentlich größeren Teil des an sie gefallenen Mehrwertes akkumulieren als der grundbesitzende Adel. In hoch entwickelten Ländern mag die Konkurrenz des amerikanischen und russischen Getreides auch den Grundbesitzern wirtschaftlichen Sinn eingebleut, mag die herrschende Kapitalistenklasse auch den grundbesitzenden Adel mit ihrer Ideologie erfüllt, mit ihrer Gier nach Profit angesteckt haben. In Ungarn ist das gewiss noch nicht der Fall. Die magyarischen Adeligen verjubeln gewiss noch in jedem Jahre den größten Teil des erbeuteten Mehrwertes. Und da vom gesamten Mehrwert des Landes der größte Teil in die Hände dieser Klasse fließt, so ist die Akkumulationsrate in Ungarn immer noch sehr niedrig, es wächst daher auch sehr langsam sein Kapitalsreichtum.

Diese Tatsache drückt sich in der kulturellen Dürftigkeit des ganzen Landes aus. Wohl verweisen die Magyaren gern auf die glänzende Entwicklung der Hauptstadt. Aber das Wachstum Budapests und weniger anderer Städte kann die kulturelle Rückständigkeit des ganzen Landes nicht widerlegen. Übrigens ist es sehr fraglich, ob nicht gerade im äußerlich glänzenden Wachstum der Hauptstadt sich die wirtschaftliche Krankheit des Landes spiegelt: die Großstadt ist ja vor allem das Zentrum der Mehrwertskonsumtion! Der Glanz der Hauptstadt ist die äußere Erscheinungsform der niedrigen Akkumulationsrate! Nicht umsonst ist das genussfrohe Budapest die wichtigste Kundschaft aller österreichischen Luxusindustrien!

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die ungarische Volkswirtschaft seit 1867 gewaltige Fortschritte gemacht hat. Vergleicht man aber Ungarn mit irgend einem entwickelten Industrieland mit gleicher Bevölkerungszahl, so erscheint Ungarn arm, kulturell zurückgeblieben, seine Steuerkraft gering. Immer noch ist der größte Teil der ungarischen Staatsanlehen in den Händen ausländischer, insbesondere österreichischer Kapitalisten. Immer noch entsteht in Ungarn ein moderner Industriebetrieb kaum auf andere Weise als durch Ansiedlung österreichischen Kapitals im Lande.

Diese Tatsachen lassen Ungarn die industrielle Entwicklung als ein Interesse des ganzen Wirtschaftsgebietes erscheinen. Darum wendet Ungarn heute schon alle Mittel der merkantilistischen Politik an; sucht es durch Subventionen, durch Steuerbegünstigungen, durch seine Eisenbahntarifpolitik fremdes Kapital in das Land zu ziehen; darum strebt Ungarn auch nach dem getrennten Zollgebiet, um durch Erziehungszölle seine industrielle Entwicklung zu beschleunigen. Wohl ist die industrielle Entwicklung des Landes nur möglich, wenn fremdes Kapital nach Ungarn einwandert, und der erzielte industrielle Profit würde daher zunächst an die ausländischen Kapitalisten abfließen. Aber es ist eine alte Erfahrung, die die Wirtschaftsgeschichte aller Länder bestätigt, dass das fremde industrielle Kapital allmählich heimisch wird. So sind auch in Österreich die englischen, belgischen, reichsdeutschen Kapitalien, die hier industrielle Betriebe gegründet haben, entweder österreichisch geworden oder von österreichischen Kapitalien abgelöst worden. In großem Massstab haben wir diese Erscheinung der Nationalisierung des fremden Kapitals in den letzten Jahrzehnten in Italien, noch großartiger in den Vereinigten Staaten beobachten können. Auch in Ungarn wird das fremde Kapital, das dort industrielle Betriebe gründet, schließlich Heimatsrecht erwerben. Die Kohns und Pollaks, die heute in Böhmen Baumwollwebereien betreiben und morgen in Ungarn Baumwollwebereien betreiben werden, werden sich in Budapest nicht weniger wohl fühlen als in Wien.

Die Errichtung einer Zollgrenze zwischen Österreich und Ungarn erscheint also zunächst als ein Bedürfnis des Staates. Als solches empfinden sie jene sozialen Schichten, deren ganze soziale Stellung auf der öffentlichen Verwaltung beruht: die Berufspolitiker, die Zeitungsschreiber, die Bürokraten, die jüngeren Söhne des magyarischen Adels, die in den gesetzgebenden Körperschaften als die geborenen Führer der Nation erscheinen und die Sinekuren in der Komitatsverwaltung besetzen. Ebenso macht sich die gesamte Intelligenz zur Trägerin des Staatsinteresses; die Erkenntnis, dass die industrielle Entwicklung den Wohlstand des Landes heben wird, verbündet sich mit der überlieferten, historischen Ideologie der Klasse, die im Ausbau eines selbständigen ungarischen Staatswesens, in der völligen Trennung von Österreich einen Sieg über „Wien“, den Sieg der Freiheit sieht. [8] So wird auch die Intelligenz dem Gedanken des selbständigen Zollgebietes gewonnen. Dies ist um so bedeutsamer, als in Ungarn, wie in jedem wirtschaftlich rückständigen Lande, die politische Macht der Intelligenz sehr groß ist.

Mit diesen Schichten der Intelligenz verbündet sich im Kampfe um das selbständige ungarische Zollgebiet die ungarische Bourgeoisie. Sie erwartet von der Errichtung einer Zollgrenze reichliche Gelegenheit zu Extraprofiten und reichlicheren Absatz ihrer Waren, verlockende Anlagesphären für ihr Kapital, ein sicheres Absatzgebiet für ihre Produkte. Fabrikanten und Kaufleute sind die Kerntruppen des Heeres, das für den Schutzzoll gegen Österreich kämpft. Der Einfluss dieser sozialen Schichten ist sehr groß. Zunächst hat das bisherige Wahlrecht die Städte bevorzugt. Innerhalb der städtischen Bevölkerung hat aber die Bourgeoisie dank ihrer wirtschaftlichen Macht und ihrem sozialen Ansehen überall die Führung, solange der Kapitalismus noch nicht die kleinbürgerliche Rebellion hervorgerufen hat. Ungarn hat diese Entwicklungsstufe, auf der das Kleinbürgertum sich politisch von der Bourgeoisie zeitweilig trennt (die Österreich bereits zu Beginn der Achtzigerjahre erreicht hatte), auch heute noch nicht erreicht. Das Kleinbürgertum leistet daher der Bourgeoisie in ihrem Kampfe um die Zolltrennung Gefolgschaft.

So einflussreich Intelligenz und Bourgeoisie aber auch heute schon in Ungarn sind, sie könnten die wirtschaftliche Trennung von Österreich nicht durchsetzen, wenn sich ihnen die ganze Macht des grundbesitzenden Adels gegenüberstellte. Die Gentry ist ja auch heute noch Ungarns herrschende Klasse. Nun ist die Gentry freilich keine einheitliche Klasse mehr. [9] Ein Teil von ihr bildet die Intelligenz, die Bürokratie, die Politiker, Journalisten, Komitatspfründner, die wir schon als Anhänger der Zolltrennung kennen. Ein anderer Teil ist mit der Bourgeoisie versippt, sitzt in den Verwaltungs- und Aufsichtsräten der Banken und Industriegesellschaften. Aber die Masse des Kleinadels ist wie der Hochadel doch an der Getreide- und Fleischausfuhr interessiert. Wie gewaltig dieses Interesse ist, beweisen folgende Zahlen.

Es betrug im Jahre 1904 nach der ungarischen Statistik:

 

 

Menge der
Produktion

 

Ausfuhr
überhaupt

 

Ausfuhr nach
Österreich

 

Meterzentner

Weizen

39.984.951

 

3.944.680

 

3.932.307

Roggen

11.663.819

2.056.342

2.056.035

Gerste

11.365.234

2.583.398

1.821.749

Hafer

  9.823.997

2.064.834

2.052 820

Mais

17.974.937

2.243.104

2.097.986

Überdies führte Ungarn in demselben Jahre 7.193.653 Meterzentner Mehl aus, davon 6.121.834 Meterzentner nach Österreich. Die Getreideausfuhr nach Österreich nimmt nur in demselben Masse ab, in dem die Mehlausfuhr zunimmt. Auch die Viehausfuhr nach Österreich ist sehr groß. Es betrug im Jahre 1904:

 

 

Ausfuhr
überhaupt

 

Ausfuhr nach
Österreich

Stück

Ochsen

301.668

 

251.782

Schweine

372.975

372.635

Dazu kommt noch eine sehr beträchtliche Ausfuhr von tierischen Produkten, Fettwaren u.s.w. Diese Zahlen beweisen deutlich genug, welch ungeheure Interessen für die ungarische Landwirtschaft und Viehzucht bei der Zolltrennung auf dem Spiele stehen. Ein sehr großer Teil ihrer Erzeugnisse sucht seinen Absatz im Auslande und neben dem Riesenabsatz auf dem österreichischen Markte verschwinden die Mengen, die das Zollausland den ungarischen Landwirten und Viehzüchtern abgenommen hat.

Eine Zolltrennung bedroht den grundbesitzenden Adel in Ungarn mit der Gefahr, dass seine Grundrente sinkt. Aber noch mehr! Die Trennung des Zollgebietes wird auch bewirken, dass die Bodenpreise sinken. Da der Bodenpreis nichts anderes ist als die kapitalisierte Grundrente, so hängt er von zwei Faktoren ab: einmal von der Grundrente, dann vom Zinsfuß. Wenn die Grundrente sinkt, der Wertertrag des Bodens geringer ist, so wird der Bodenpreis sinken. Wenn der Zinsfuß steigt, so entspricht dieselbe Grundrente dem Zinsertrag eines geringeren Kapitals, es sinkt also wiederum der Bodenpreis. Nun wird die Zolltrennung nicht nur die Grundrente in Ungarn senken, sondern zweifellos auch den Zinsfuß steigern. Die Bodenpreise werden also aus doppeltem Grunde sinken, was für die Grundbesitzerklasse seiner Wirkung nach einem gewaltigen Kapitalsverlust gleichkommt! Überdies wird die schnellere Entwicklung der ungarischen Industrie mit ihrer großen Nachfrage nach Geldkapital auch den Hypothekenzinsfuss steigern. Trotz des fallenden Bodenpreises und der sinkenden Grundrente wird also die Schuldenlast der Landwirtschaft sich nicht verringern! Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung dieser Tatsache, so darf man billig zweifeln, ob es überhaupt denkbar ist, dass die herrschende Klasse Ungarns die Zolltrennung herbeiführt.

Nun lässt sich allerdings nicht leugnen, dass die Zolltrennung, wenn sie die Grundbesitzer einerseits schädigt, andererseits doch wieder gerade den Großen unter ihnen manchen Nutzen bringen kann. Insbesondere wird sie die Entwicklung landwirtschaftlicher Nebenindustrien erleichtern. Die Zuckerindustrie, die Bierbrauerei könnte sich hinter dem Schutze einer Zollgrenze wohl noch schneller entwickeln, als dies in den letzten Jahren der Fall war. An der Entwicklung dieser Industrien, die regelmäßig als landwirtschaftliche Nebenindustrien auftreten, haben gerade die großen Grundbesitzer ein Interesse. In der Tat hat die ungarische Regierung gerade diese Industrien zuerst gegen die österreichische Einfuhr schützen wollen und es wird wohl im Kampfe um die Maßregeln, die diesem Zwecke dienen, ein Teil der ungarischen Grundbesitzer sich auf das Programm der Zolltrennung festlegen. Indessen fällt dies doch sehr wenig in die Waagschale. Die österreichische Zuckerausfuhr nach Ungarn betrug im Jahre 1905 nur noch 329.727 Meterzentner, die Ausfuhr von Bier und Met nur 288.917 Meterzentner und ihr steht auch schon eine nicht unbeträchtliche Einfuhr dieser Waren aus Ungarn gegenüber. So kann denn auch die Hoffnung, durch Schutzzoll gegen Österreich die landwirtschaftlichen Nebenindustrien zu fördern, das Gewicht der Tatsache kaum wesentlich vermindern, dass die wirtschaftlichen Interessen des grundbesitzenden Adels der Zolltrennung widerstreiten.

Wer glaubt, dass Ungarn sich leichtsinnig entschließen wird, die wirtschaftliche Gemeinschaft mit Österreich aufzuheben, dass eines schönen Tages ein ungarisches Parlament ohne Widerstand die Errichtung einer Zollgrenze gegen Österreich beschließen wird, den mögen diese Zahlen eines Besseren belehren. Nicht ohne harte Kämpfe wird die Frage der Zolltrennung in Ungarn selbst entschieden werden. Aber trotz alledem ist es wahrscheinlich, dass Ungarn sich in diesen Kämpfen für die Zolltrennung entscheiden wird!

Gewiss, der Zolltrennung widerstreiten die Interessen der großen und mittleren Grundbesitzer in Ungarn. Aber für die Zolltrennung spricht die Klassenideologie dieser Klassen. Seit 380 Jahren führt der magyarische Adel seinen Klassenkampf gegen den österreichischen Absolutismus. Diese Jahrhunderte haben in der magyarischen Gentry eine Ideologie gezüchtet, der die völlige Selbstständigkeit des ungarischen Staates, die völlige Trennung von Österreich letztes Ziel alles politischen Strebens ist. Man unterschätze diese Ideologie nicht! Sie hat schon einmal den ständischen Kampf des Adels um seine Sonderrechte in sein völliges Gegenteil umschlagen lassen, in den revolutionären Kampf um die bürgerliche Rechtsgleichheit. Ihre Macht ist auch heute noch nicht erloschen. In dieser Gedankenwelt wird die Jugend der magyarischen Herrenklasse erzogen, von ihr ist alles gesellige Leben, alle geistige Kultur getränkt, sie allein hat seit Jahrhunderten dem politischen Kampfe des magyarischen Adels Form und Inhalt gegeben. Diese Ideologie entsprang gewiss dem Interesse der Klasse; aber einmal entstanden und stetig erstarkt in den fortwährenden Kämpfen von vier Jahrhunderten, hat sie das Bewusstsein des magyarischen Adels erfüllt und kann nun nicht aus ihm heute oder morgen verjagt werden, weil sie dem veränderten Klasseninteresse nicht mehr entspricht. Gewiss, ein großer Teil des magyarischen Adels wird sich der Zolltrennung mit aller Macht widersetzen. Nicht die Landwirte und Viehzüchter, sondern die Intelligenz, die Berufspolitiker und Journalisten, die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum der ungarischen Städte werden die Rufer im Streite um das selbständige Zollgebiet sein. Aber den Widerstand des Adels bricht seine eigene Ideologie; er ist gefangen in der Schlinge seines eigenen Schlagwortes! Das Klasseninteresse der Bourgeoisie wird das Klasseninteresse des Adels besiegen, indem es sich mit der eigenen Klassenideologie des Adels verbündet.

Rechtlich besteht das selbständige Zollgebiet schon und man wird sich wohl zunächst mit der leeren Rechtsform, mit der Ersetzung des Handelsbündnisses durch einen Handelsvertrag, in dem beide Staaten einander Freihandel zusichern, begnügen. Dann wird man wohl für einzelne Waren – landwirtschaftliche Nebenindustrien! – Zölle einheben! Aber man mache mit der Zolltrennung nur den Anfang; eine innere Logik treibt dann die handelspolitischen Maßnahmen über sich selbst hinaus! Irgend ein nichtiger Anlass bestimmt einen Staat, einen Zoll zu erheben, um einer wirtschaftlichen Forderung an die andere Reichshälfte Nachdruck zu verleihen; der andere Staat antwortet mit Gegenmaßregeln; die erregte öffentliche Meinung fordert beiderseits Anwendung starker Mittel, um den Nachbarstaat zur Nachgiebigkeit zu zwingen, „los von Ungarn“ heißt es hier, „los von Österreich“ hallt es drüben. Die Klassen, die an der Flamme des Kampfes ihr Süppchen zu kochen hoffen – die Agrarier in Österreich. das Handels- und Industriekapital in Ungarn – schüren den Streit. So führt der Weg von „Reziprozität“ und „Retorsion“ zur völligen Trennung der Wirtschaftsgebiete. Ist es wirklich denkbar, dass Österreich und Ungarn friedlich von Jahr zu Jahr ihren Handelsvertrag miteinander erneuern, in dem sie sich immer wieder vollen Freihandel zusichern, und immer wieder übereinstimmende Handelsverträge mit dem Zollausland schließen (denn auch dies ist eine Voraussetzung des freien Warenaustausches zwischen beiden Ländern ) – obwohl alle Staaten des Festlandes ihre Grenzen durch Zölle absperren, obwohl in beiden Reichshälften einflussreiche Klassen die Zolltrennung fordern, obwohl die einzige Klasse Ungarns, deren Interesse sie auf die Einheit des Zollgebietes weist, seit Jahrhunderten von keinem anderen Gedanken beherrscht wird als dem des Kampfes gegen Österreich, der Trennung von Österreich?

So treibt die Entwicklung zur völligen Trennung der Reichshälften. Denken wir uns die Trennung des Zollgebietes verwirklicht, so ist auch die Gemeinschaft der „pragmatischen“ Angelegenheiten, das gemeinsame Heer und die gemeinsame auswärtige Politik nicht haltbar. Dann erst wird die Unmöglichkeit des Dualismus auch dem blödesten Auge offenbar werden, dann erst wird sich zeigen, dass, wie Rudolf Springer so glänzend nachgewiesen hat, eine Organgemeinschaft ohne Willenseinheit nicht möglich ist. [10] Österreich und Ungarn sind verschiedene Staaten mit verschiedenen, einander oft entgegengesetzten Interessen, verschiedenem Willen. Aber diese verschiedenen Willen soll ein Minister des Auswärtigen, ein Botschafter, ein Konsul vertreten; diese verschiedenen Interessen soll ein Heer verfechten! Wie können sich zwei verschiedene, einander entgegengesetzte Willen in derselben Sache eines Organes bedienen, ohne um dieses Organ zu kämpfen, ohne dieses Organ schließlich zu zerreißen? Man denke sich Österreich und Ungarn als selbstständige durch eine Zolllinie getrennte Wirtschaftsgebiete, und frage, wie dann eine gemeinsame auswärtige Politik möglich sein soll, da doch die auswärtige Politik nichts anderes sein kann als ein Mittel der Wirtschaftspolitik! An dem Tage, da die dualistischen Angelegenheiten (Zollgebiet. Verzehrungssteuergemeinschaft u.s.w.) fallen, ist auch die Einheit der pragmatischen Angelegenheiten (Heerwesen, auswärtige Politik) zum Tode verurteilt. Dann bleibt nichts mehr gemeinsam als die Person des Herrschers. Aber auch er ist nichts als ein Staatsorgan und auch er wird es fühlen, dass Organgemeinschaft unmöglich ist ohne Willensgemeinschaft. Österreich und Ungarn als selbstständige Wirtschaftsgebiete brauchen verschiedene auswärtige Politik, verschiedene Bündnisse, haben andere Freunde und andere Feinde. Soll der König von Ungarn den Bundesgenossen des Kaisers von Österreich bekämpfen? Wird der Kaiser von Österreich mit einem Staate ein Bündnis schließen, der mit Ungarn in Feindschaft lebt? Welcher Staat wird seinen Willen beim gemeinsamen Herrscher durchsetzen? Wird in der einen Person der Wille des Kaisers von Österreich oder der des Königs von Ungarn entscheiden? Die Fragen der auswärtigen Politik, der Wirtschaftspolitik sind für beide Reichshälften unvergleichlich schwieriger, verwickelter, als sie für Schweden und Norwegen waren. Und doch hat es sich dort gezeigt, dass die Personalunion zweier selbständiger Staaten mit verschiedenartigen Interessen kein dauerhaftes Gebilde sein kann. Steht das Haus Habsburg wirklich vor dem Schicksal des Hauses Bernadotte?

Wer überzeugt ist. dass der Dualismus die beiden Reichshälften zu völliger Trennung treibt, der muss damit rechnen, dass auch die Krone diese Tatsachen erkennen und dass sie nicht ohne Widerstand den Pakt zerreißen lassen wird, der ihre Siegesbeute in dem großen Türkenkriege war. Je stärker die Kräfte sind, die Österreich und Ungarn auseinanderreißen wollen, desto lebhafter wird der Wunsch werden. Ungarn „wiederzuerobern“. Wird die Krone dies können?

Die erste Wirkung der Zolltrennung wird die Verschärfung der Klassengegensätze in Ungarn sein. Zunächst wird ja, wie wir wissen, die Errichtung der Zolllinie nicht ohne erbitterte Klassenkämpfe durchzusetzen sein; bei jedem Schritt zum getrennten Zollgebiet, bei der Feststellung jedes Zolles, beim Abschluss jedes Handelsvertrages wird wenigstens ein Teil der großen und mittleren Grundbesitzer in Ungarn seine schwer gefährdeten Klasseninteressen verfechten. Im Kampfe gegen sie werden die Bourgeoisie, die Intelligenz. Ideologen aus allen Klassen stehen. Die Einheit der herrschenden Klassen wird zerrissen. Viel bedeutsamer ist noch. dass der Widerstand der unteren Klassen gegen die herrschenden sehr schnell neue Kraft und neue Formen annehmen wird. Das Zeitalter schnellerer Industrialisierung Ungarns wird durch eine „Gründerperiode“ eingeleitet werden, die, wie überall, auch in Ungarn den Neid und die moralische Entrüstung des Kleinbürgertums erregen wird; die schnellere Industrialisierung wird vielen kleinbürgerlichen Existenzen den Boden unter ihren Füßen wegziehen, zahlreiche Bankrotte verfehlter oder übereilter Neugründungen werden auch viele Kleinbürger zugrunde richten, die Verteuerung der Industrieerzeugnisse infolge des Schutzzolles, das Steigen der Mietzinse in den Städten und Industriezentren wird die Unzufriedenheit des Kleinbürgertums erregen. Spätestens ein paar Jahre nach der Verwirklichung der Zolltrennung – wahrscheinlich noch früher! – hat Ungarn seine Mittelstandspolitik, seine Revolte der Kleinbürger gegen die Bourgeoisie, seine Schneider und Lueger. Gleichzeitig erstarkt auch die industrielle Arbeiterschaft. Die wachsende Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt steigert ihre Macht, es wachsen ihre Organisationen, sie verlangt Anteil an den Früchten des industriellen Aufschwungs. Die Herrschenden aber fürchten, die Verkürzung der Arbeitszeit und die Steigerung der Löhne könnte die junge ungarische Industrie schädigen; sie werden daher den Kampf der Arbeiter mit allen Mitteln der Staatsgewalt zu erschweren suchen. Noch schneller aber als in der Stadt werden die Klassengegensätze auf dem Lande wachsen. Die Zolltrennung bedeutet für die ungarischen Landwirte und Viehzüchter schweren wirtschaftlichen Schaden; sie werden es versuchen, die Kosten der Zolltrennung auf die lastgewohnten Schultern der Landarbeiter abzuwälzen, werden die schmählichen Ausnahmsgesetze gegen die Landarbeiter als kostbarstes nationales Besitztum wahren, werden nicht nur jede Lohnerhöhung verweigern, sondern die Löhne noch zu senken versuchen. Dies trifft die Landarbeiter um so schwerer, als gleichzeitig der Schutzzoll und die Hochkonjunktur der Gründerperiode alle Industrieprodukte, die sie kaufen, verteuern.

So wird der einziehende industrielle Kapitalismus, wie er es überall getan hat, auch in Ungarn erbitterte Klassenkämpfe auslösen, dies um so mehr, als endlich, sobald die Nation im Kampfe um staatliche Selbständigkeit einen entscheidenden Sieg erfochten, die Spannung gelöst ist, in der der Kampf gegen „Wien“ die Gemüter gehalten; nun ist die Bahn frei für den Klassenkampf, nun haben die politischen Kämpfern Ungarn ihren überlieferten Inhalt verloren, nun wird die Tribüne widerhallen vom Lärm der einander bekämpfenden Klassen. Und es versteht sich, dass die höchst entwickelte Nation in Ungarn, die magyarische, am schnellsten die Wirkungen dieses sozialen Differenzierungsprozesses zu fühlen bekommen wird.

Gleichzeitig wird aber durch die schnellere Entwicklung des industriellen Kapitalismus noch ein anderer Prozess beschleunigt werden: das Erwachen der geschichtslosen Nationen. Ungarn ist so wenig wie Österreich ein national einheitliches Land. Über die Stärke der Nationen Ungarns macht die offizielle Volkszählung des Jahres 1900 folgende Angaben:

Muttersprache

 

Absolut

In Prozenten der
Gesamtbevölkerung

Magyarisch

  8.742.301

  45,4

Deutsch

  2,135.181

  11,1

Slovakisch

  2,019.641

  10,5

Rumänisch

  2,799.479

  14,5

Ruthenisch

     429.447

    2,2

Kroatisch

  1.682.104

    8,7

Serbisch

  1.048.645

    5,5

Sonstige

     397.761

    2,1

Summe

19,254.559

100,0

Es stehen also im Königreich Ungarn nach diesen Angaben 8.742.301 Magyaren zusammen 10.512.258 Zugehörige anderer Nationen gegenüber. Die Magyaren sind eine Minderheit im Lande. Dabei zweifelt niemand daran, dass diese Statistik gefälscht ist, dass die Magyaren in ihr stärker erscheinen, als sie sind! Überdies haben sich zur magyarischen Muttersprache zweifellos nicht wenige bekannt, die die magyarische Nation ebenso schnell wieder verlieren könnten, wie sie sie gewonnen haben. Dies gilt zunächst von den sehr zahlreichen Überläufern, die Magyaren wurden um des lieben Brotes willen, um eine Anstellung im Staatsdienste. Was solche Überläufer wert sind, davon wissen die Deutschen Österreichs ein Lied zu singen. Dasselbe gilt auch von den Juden. 70,32 Prozent der Juden des Königreiches haben die magyarische, 25,45 Prozent die deutsche Sprache als Muttersprache angegeben; nur der kleine Rest bekannte sich zu den anderen Nationen. Erinnern wir uns, dass die Juden in dem langsam entwickelten Lande kaum eine besonders hohe Stufe der Assimilation erreicht haben dürften, so werden wir wohl erwarten können, dass, wenn die geschichtslosen Nationen Ungarns zu selbständigem Kulturleben erwachen, die Juden in Siebenbürgen ebenso Rumänen, die Juden in Oberungarn ebenso Slovaken werden könnten, wie die Juden in Böhmen Tschechen zu werden beginnen. Die Volkszahl, auf die die Magyaren in jedem Falle rechnen können, ist also noch beträchtlich kleiner, als die amtlichen Zahlen sie erscheinen lassen.

In Ungarn selbst – ohne Kroatien und Slavonien – stehen allerdings 8.588.834 Magyaren nur 8.132.740 Angehörige anderer Nationen gegenüber, hier bilden die Magyaren 51,4 Prozent der Bevölkerung, also eine, freilich sehr kleine Mehrheit. Ziehen wir von der Volkszahl aller Nationen die Juden ab (wozu wir wohl berechtigt sind, da gewiss nur ein kleiner Teil der ungarischen Juden als völlig assimiliert gelten kann), so stehen 7.094.383 Magyaren zusammen 7,896.029 Deutsche, Slovaken, Rumänen, Ruthenen und Serbokroaten gegenüber; die Mehrheit der Magyaren wird dadurch verschwindend gering. Erinnern wir uns der Vergewaltigung der Nationalitäten durch die magyarischen Verwaltungsbehörden bei der Volkszählung, erinnern wir uns der vielen Personen, die sich nur unter wirtschaftlichem Druck oder doch um wirtschaftlichen Vorteiles willen zur herrschenden Nation bekennen, so dürfen wir wohl sagen, dass auch im eigentlichen Ungarn – ohne Kroatien und Slavonien – die Magyaren eine Minderheit bilden.

Trotz alledem haben in Ungarn nur Magyaren und Kroaten nationale Rechte. Alle anderen Nationen sind unterdrückt. Ihre Sprachen haben in den Ämtern und Gerichten kein Recht: selbst ihren alten Städten hat der Staat ihre Namen genommen. Man verweigert ihnen nicht nur Hoch- und Mittelschulen, sondern sucht, selbst gegen das Gesetz, ihre Kinder zum Besuche magyarischer Volksschulen zu zwingen. Im Parlament sind sie kaum vertreten, am Beamtenkörper haben sie keinen Teil, in den Gemeinden und Komitaten werden sie überall von den Magyaren und ihrem aus nationalen Überläufern und .luden bestehenden .Anhang beherrscht. Auf die Hilfe des Staates hat nur der Magyar ein Recht, nur ihm sind alle staatlichen Ämter zugänglich. Jede nationale und politische Bewegung der Nationalitäten wird als Hochverrat behandelt. Was das völkermordende Russland an seinen Nationalitäten verbrochen hat, was Preußen an seinen Polen verbricht, und Schlimmeres vielleicht, begeht hier eine Minderheit an der großen Mehrheit des Landes. Die herrschenden Klassen der Magyaren können sich dies erlauben: die unterjochten Nationen gehören eben nur den beherrschten und ausgebeuteten Klassen an; es sind geschichtslose Nationen.

Aber der Prozess des Erwachens der geschichtslosen Nationen hat auch hier begonnen. Jeder Fortschritt der kapitalistischen Entwicklung wird ihn beschleunigen. Keine politische Verfolgung kann diesen Prozess aufhalten. Wenn es den Magyaren in Ungarn bisher gelungen ist, die Nationalitäten niederzuhalten, während die Deutschen in Österreich ihre Alleinherrschaft nicht zu behaupten vermochten. so danken die Magyaren dies bloß der Rückständigkeit des Landes. Der Kapitalismus und der moderne Staat haben die Nationen überall erweckt. Sobald die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns durch seine Industriepolitik, dereinst durch die. Selbständigkeit seines Zollgebietes beschleunigt wird, werden die Magyaren an ihren Rumänen und Slovaken erleben, was die Deutschen in Österreich an den Tschechen und Slovenen erlebt haben. Der Tag, an dem die Zolllinie zwischen Österreich und Ungarn errichtet wird, ist der Todestag der magyarischen Alleinherrschaft im Lande!

Das ist das Bild Ungarns nach der Zolltrennung: im Parlament ein leidenschaftlicher, von den stärksten Klasseninteressen aufgepeitschter Kampf zwischen den herrschenden Klassen im Lande; in den Werkstätten Streiks, auf den Straßen Demonstrationen der Industriearbeiter, deren Lohnkämpfe die Regierung zu erschweren sucht; im Kleinbürgertum eine lebhafte, gehässige Agitation gegen die herrschenden Parteien; auf dem Lande fortwährend blutig niedergeworfene Ausstände der Landarbeiter. Und rings im ganzen Lande der nationale Kampf; die erwachenden Nationen erbittert über das Unrecht, das die Herrschenden an ihnen begangen, die herrschenden Klassen der Magyaren durch die Angst zu einer Politik rücksichtsloser Gewalt, grausamster Unterdrückung der nationalen Bewegungen getrieben, die dann wieder die Leidenschaft, die Empörung und den Hass der unterdrückten Völker steigert – das ist das Bild jenes Ungarn, das den Kampf mit der Krone auszufechten haben wird! So wird das Ungarn aussehen, das die durch den Zerfall des Dualismus in ihrer Herrschaft bedrohte Krone wird unterwerfen wollen!

Das durch Klassengegensätze und nationale Gegensätze zerrissene Land mit bloßer Waffengewalt unterwerfen zu wollen, wird im Zeitalter der russischen Revolution niemand wagen. Aber die inneren Gegensätze des Landes werden der Krone andere Machtmittel geben, die sie wird ausnützen müssen, wenn sie nicht das Schicksal des Hauses Bernadotte erleben will: sie kann nicht Organ zweier Willen sein und will doch über Österreich und über Ungarn herrschen; so muss sie dafür sorgen, dass Ungarn und Österreich einen Gesamtwillen haben, dass sie ein Reich bilden; dazu bietet ihr Ungarns innere Zerrissenheit die Möglichkeit. Sie wird ihre Armee nach Ungarn schicken, um es dem Reiche wieder zu erobern, aber sie wird auf ihre Fahnen schreiben: Unverfälschtes allgemeines und gleiches Wahlrecht! Koalitionsrecht für die Landarbeiter! Nationale Autonomie! Sie wird dem Gedanken des selbständigen ungarischen Nationalstaates entgegensetzen den Gedanken der vereinigten Staaten von Groß-Österreich, den Gedanken eines Bundesstaates, in dem jede Nation ihre nationalen Angelegenheiten selbständig besorgt und alle Nationen sich zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen zu einem Staate vereinen. Notwendig, unvermeidlich wird die Idee des Nationalitätenbundesstaates zum Werkzeug der Krone, der der Zerfall des Dualismus ihr Reich zerstört.


Es ist bereits eine lange Reihe von Jahren verstrichen, seit Rudolf Springer zum ersten Mal in einem Vortrage inmitten Wiener Studenten diese Erwartung äußerte. Damals herrschte in Ungarn noch die liberale Partei und man wurde in Österreich ausgelacht, wenn man die Möglichkeit erwähnte, dass die Unabhängigkeitspartei die Mehrheit des ungarischen Reichstages werden könnte. Von der Krise des Dualismus sahen die Tagespolitiker damals noch nichts. Springer aber sah damals schon die „säkularen Tatsachen“: der Dualismus, die Organgemeinschaft ohne Willensgemeinschaft, treibt notwendig zur Zersetzung des Reiches, ballt die Deaksche Reichsverfassung, so muss die Krone sich nach Bundesgenossen umsehen, die ihre Herrschaft retten können; dies kann der magyarische Adel nicht sein, sondern nur die Nationalitäten. Der Dualismus kann nicht bestehen, die absolutistische Reichseinheit ist unmöglich, so wird die Krone um ihrer Interessen willen die freie Selbstbestimmung der Nationen verwirklichen müssen, wenn sie nicht selbst die Herrschaft im Reiche verlieren will. Die Wiener Studenten hörten mit neugierigem Interesse die klaren Gedankenfolgen. Aber das alles lag so weit, so weit, die alte Monarchie schien leidlich festzustehen. War, was man gehört, mehr als die Phantasterei eines unterrichteten Mannes?

Einige Zeit später weilte Friedrich Naumann in Wien. Auch er ahnte, dass es für die Habsburger in der eigentümlichen Lage der Monarchie keine andere Hilfe gäbe als die Demokratie. Der Cäsarismus, das Bündnis der alten, auf die Waffengewalt gestützten Kaisermacht, mit der Kraft der Ideen des gleichen Stimmrechtes und der nationalen Freiheit, erschien auch ihm als der einzige Ausweg. Aber er zweifelte, ob die Habsburger diesen Weg betreten würden.

„Ich bin in Österreich im politischen Gespräch den Gedanken nicht los geworden: Hierher gehört ein Napoleon! Es braucht kein Napoleon I. zu sein, ein Napoleon III. genügt. Ein solcher österreichischer Napoleon müsste zuerst das jetzige Abgeordnetenhaus nach Hause gehen lassen, dann dem Volke mitteilen, er habe dem Unfug eines falsch zusammengesetzten Parlaments ein wohlverdientes Ende bereitet, wolle sich durch Plebiszit für diesen segensreichen Schritt die Zustimmung der Bevölkerung aussprechen lassen und wolle dann mit einer nicht ständisch zusammengesetzten, sondern aus gleichem Wahlrecht hervorgegangenen Volksvertretung regieren; da er die Armee für sich habe, so bitte er, von unnötigen Weiterungen abzusehen. Das wäre Revolution zugunsten des Staates. Sie würde auf diesem Boden heilsam sein, aber sie kommt nicht, denn – die Habsburger sind nicht revolutionär.“ [11]

Dann kam die Krise des Dualismus. Springer trat jetzt erst mit seinen Gedanken vor einen weiteren Kreis. Aber man antwortete ihm, wie Naumann geantwortet: Welcher Unsinn, von den Habsburgern, den alten Trägern des Prinzips der Legitimität, eine revolutionäre Politik zu erwarten! Cäsarismus, wo die Cäsaren fehlen! Und welche Torheit, im ungarischen Parlament, der einflussreichsten Körperschaft der ganzen Monarchie, keine wirkliche Macht zu sehen!

Da brach der Militärkonflikt herein. Die Koalition, die Mehrheit des ungarischen Parlaments, verlangt die magyarische Armeesprache. Die Krone weigert sich, ihr sie zuzugestehen. Die Parlamentsmehrheit versucht es, den Widerstand der Krone zu brechen, indem sie die Gesetzgebung lahmlegt und gegen das Ministerium des Königs mit den alten Mitteln des ständischen Kampfes kämpft, Da wirft der Minister Kristoffy das Schlagwort des allgemeinen Wahlrechtes unter die Massen. Und das Ministerium Fejérváry lässt gleichzeitig das stolze ungarische Parlament durch den Honvedoberst Fabrizius mit einer Kompagnie ungarischer Soldaten auseinanderjagen! Und keine Hand rührt sich im ganzen Lande, nicht mit der kleinsten Straßendemonstration verteidigt die Bevölkerung das einst so machtvolle Parlament. Hier haben wir ihn zum ersten Mal, den ungleichen Bund der Krone, der Waffengewalt und der Demokratie. Sind die Habsburger wirklich nicht revolutionär? Fehlen uns zum Cäsarismus die Cäsaren?

Freilich, die Krone schließt endlich mit der Koalition, wenn nicht Frieden, so doch einen Waffenstillstand. Aber sie beharrt darauf, dass in Ungarn das allgemeine Stimmrecht eingeführt wird. Und um seine Durchführung zu sichern, gibt man in Österreich dem Drucke der Arbeiterschaft nach’, man weiß, die herrschenden Klassen Ungarns können den Massen das Wahlrecht nicht verweigern, sobald es in Österreich besteht. So wirft denn die Krone selbst ihre Macht in die Waagschale, um den Widerstand der Privilegierten im österreichischen Abgeordnetenhause zu brechen.

Wer Individualpsychologie treibt, der wird dies nie verstehen. Der 76jährige Mann, der in Österreich erklärte, es dürfe nicht nochmals nach dem alten Wahlgesetz gewählt werden und der in Ungarn die Kossuth und Apponyi auf das gleiche Stimmrecht verpflichtete, ist wirklich kein Revolutionär. Aber die Verhältnisse sind stärker als Wünsche und Stimmungen der Menschen. Die Ereignisse des letzten Jahres sind der erste Ansatz zu einer cäsaristischen Politik. Ich kenne wenig Beispiele dafür, dass eine politische Prognose so vollständig wahr geworden wie die Rudolf Springers. Die wirtschaftlichen Kräfte, die die Entwicklung der Nationen und die Geschicke der Staaten bestimmen, machen sich jeden Menschen, jede Familie, wie immer sie sein mag, zu ihrem gefügigen Werkzeug.

Springer hat seinen Gedankengang seither in der von uns schon mehrfach erwähnten Schrift über die Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie niedergelegt. Wir haben gegen manche Einzelheit dieser Schrift viel einzuwenden. Es scheint uns, dass Springer einerseits die Kräfte unterschätzt, die zur völligen Trennung der beiden Reichshälften treiben – ins Besondere ist seine Meinung, dass keine starken wirklichen Interessen die Trennung des Zollgebietes fordern, zweifellos unrichtig – und dass er andererseits die Schnelligkeit der Entwicklung in Ungarn selbst überschätzt: die Magyaren sind sozial weniger differenziert, als er annimmt, die Zersetzung der Gentry als Klasse weniger vorgeschritten; vor allem aber ist der Prozess des Erwachens der geschichtslosen Nationen noch nicht so weit gediehen, wie Springer glaubt. Es scheint uns daher wahrscheinlich, dass zunächst die zur Trennung treibenden Kräfte noch stärker sein werden als die „Reichsidee“, dass wir wenigstens die ersten Versuche mit der Trennung der Wirtschaftsgebiete sehen werden, ehe noch die cäsaristische Politik wirksam werden kann. Aber an dem Endergebnis ändert sich dadurch nichts: gerade die durch die Zolltrennung beschleunigte Entwicklung des industriellen Kapitalismus in Ungarn wird die Klassengegensätze und nationalen Gegensätze verschärfen und hierdurch die cäsaristische Politik erst möglich machen •, und gerade die Zolltrennung wird die Organgemeinschaft völlig unmöglich machen, den Dualismus vollständig aufheben und die Krone daher unvermeidlich zur cäsaristischen Politik zwingen, wenn sie nicht ihre Herrschaft über Ungarn verlieren will. Wenn der Verband der Monarchie überhaupt erhalten bleibt, wenn nicht eine äußere Macht den inneren Kämpfen in der Monarchie ein Ende bereitet, so kommt gewiss der Tag, an dem die Krone den Nationen Ungarns die Autonomie, die Verwandlung des ganzen Reiches in einen Nationalitätenbundesstaat anbieten muss. Aber die Entwicklung zur nationalen Autonomie wird lange dauern und sie führt durch harte Kämpfe zwischen den beiden Reichshälften – erst die völlige Trennung zur völligen Wiedervereinigung. Wir werden noch sehen, dass diese Erkenntnis nicht unwichtig ist.


Die Zersetzung des Dualismus durch die Interessengegensätze zwischen Österreich und Ungarn wird die Krone zur cäsaristischen Politik zwingen, die Zersetzung der ungarischen Gesellschaft durch den industriellen Kapitalismus in eine Reihe einander leidenschaftlich bekämpfender sozialer und nationaler Parteien wird die Möglichkeit dieser Politik schaffen. Gleichzeitig aber werden auch diesseits der Leitha starke Mächte die Krone zu dieser Politik drängen.

Der österreichischen Bourgeoisie wird es sich bei der Frage der Reichseinheit um die Einheit des Wirtschaftsgebietes handeln. Für viele österreichische Industrien, insbesondere für die Textilindustrie, die Kleider- und Wäschekonfektion, die Erzeugung von Lederwaren. Instrumenten, Uhren, Kurzwaren, von Maschinen, Glas- und Tonwaren bedeutet die Zolltrennung eine schwere Katastrophe. Ungarn ist der weitaus wichtigste Abnehmer aller österreichischen Industrieerzeugnisse. Wenn die österreichischen Industriellen schon heute über die Wirkungen der merkantilistischen Politik in Ungarn jammern, wie laut wird erst ihre Klage werden, wenn mit der Zolltrennung der ungarischen Regierung die wirksamsten Werkzeuge der Industrieförderung in die Hand gelegt sind. Sobald der Gedanke, den Dualismus durch eine Reichsverfassung auf der Grundlage der nationalen Autonomie zu ersetzen, greifbare Gestalt annimmt, wird er zum Programm der österreichischen Kapitalistenklasse: für sie bedeutet die nationale Autonomie im Reiche die Einheit des Wirtschaftsgebietes!

Wohin die österreichische Bourgeoisie von ihrem Klasseninteresse gedrängt wird, dorthin treibt die Bauern der Alpenländer, die Kleinbürger Wiens ihre Klassenideologie. Die von allen überlieferten Werten beherrschten Bauern, die schaulustigen Spießbürger der Residenzstadt, sind ja österreichische „Patrioten“, die Träger der alten Kaiseridee. Für sie sind die Magyaren auch heute noch Rebellen und der Bund der „Schwarz-gelben“ mit den ungarischen Nationalitäten erscheint ihnen als die Fortsetzung der alten Jellačič-Politik von 1848. Aber nicht nur als Österreicher. sondern auch als Klerikale hassen sie das selbstständige Ungarn, das von einem kalvinischen Adel und einer jüdischen Bourgeoisie beherrscht wird. Die Hetze gegen Ungarn entspricht auch so recht den Bedürfnissen des Kleinbürgertums, das seiner Verbitterung niemals in einem zielbewussten Klassenkampfe Luft machen kann, das immer einen Sündenbock für seine Leiden braucht, deren Ursachen es nicht versteht.

Endlich wird die Reichsidee auch die nationalen Parteien gewinnen. Die Verschärfung der nationalen Gegensätze in Ungarn kann nicht ohne Einfluss auf die österreichischen Nationen bleiben. Die Verfolgung der Deutschen, der Slovaken, der Ruthenen und Rumänen, der Serben in Ungarn wird bei ihren Nationsgenossen in Österreich leidenschaftliche Erbitterung gegen Ungarn erwecken. Alle unterdrückten Nationen Ungarns haben Brüder diesseits der Leitha, während die Magyaren hier – außer einer kleinen Minderheit in der Bukowina – keine Volksgenossen haben. Die nationale Autonomie im ganzen Reiche bedeutet für jede österreichische Nation (mit Ausnahme der Polen) die Befreiung von Hunderttausenden von Volksgenossen von magyarischer Fremdherrschaft. Können die Deutschen Österreichs, die wegen einer tschechischen Schule im elendesten Dorf den ganzen Staat zerreißen möchten, gleichgültig bleiben, wenn in Ungarn zwei Millionen Deutsche gegen magyarische Unterdrückung kämpfen? Kann den Tschechen. die die kleinste Minderheit im deutschen Sprachgebiete nicht preisgeben wollen, das Schicksal der zwei Millionen Slovaken in Ungarn gleichgültig sein? Werden die österreichischen Ruthenen ihre halbe Million Volksgenossen in Ungarn preisgeben? Und was könnte sonst das politische Ziel der Kroaten, Serben, Rumänen in Österreich sein als die Vereinigung mit ihren Volkgenossen jenseits der Leitha? Sobald erst einmal der Nationalitätenkampf in Ungarn heftiger entbrennt, werden alle nationalen Parteien in Österreich gezwungen, sich ihrer Volksgenossen jenseits der Staatsgrenze anzunehmen. Und wie könnten sie ihnen anders Hilfe bringen als durch den Gedanken der einheitlichen Reichsverfassung auf Grund der nationalen Autonomie?

Die Krone zur Politik der nationalen Autonomie durch den Zerfall des Dualismus gezwungen, in Österreich selbst durch die Bourgeoisie, den Klerikalismus, schließlich alle nationalen Parteien gedrängt, in Ungarn die nationale Autonomie von den unterdrückten Nationalitäten gefordert, der Widerstand der Magyaren durch die Klassengegensätze innerhalb der Nation gebrochen – ist die Reichsidee, der Nationalitätenbundesstaat vom Bodensee bis nach Orsova, wirklich eine Utopie?

Aber alle diese Kräfte, die zur organischen Regelung der Nationalitätenfrage im ganzen Reiche treiben, gewinnen noch einen starken Bundesgenossen an den Bedürfnissen der auswärtigen Politik. Die Verfassung jedes Staates ist durch seine äußere Politik bedingt. Auch der Dualismus sollte, wie wir gesehen haben, der äußeren Politik der Monarchie, die damals großdeutsche Politik war, dienen. Seit Sedan stützt ihn keine Notwendigkeit der äußeren Politik mehr. Vielmehr ist er längst zu einem schweren Hindernis jener auswärtigen Politik geworden, die die österreichische Bourgeoisie braucht. Der Kapitalismus strebt überall nach Ausdehnung seines Herrschaftsgebietes, nach neuen Anlagesphären und neuen Absatzmärkten. Die geographische Lage Österreichs und die historische Überlieferung uralter Handelsbeziehungen weisen dem österreichischen Kapitalismus die Balkanhalbinsel als das natürliche Ziel seiner Ausdehnungsbestrebungen zu. Diese Expansionsbestrebungen, die die äußere Politik aller kapitalistischen Staaten bestimmen, werden in Österreich durch die Zolltrennung nicht schwächer, sondern stärker werden. Für die Verluste auf dem ungarischen Markt wird die österreichische Industrie auf dem Balkan Entschädigung suchen. Diese Bestrebungen werden nun durch die Unterdrückung der Rumänen und Serben in Ungarn wesentlich erschwert. Je heftiger der nationale Streit in Ungarn entbrennen wird, desto mehr werden die Nachrichten über die Gewaltherrschaft der magyarischen Herrenklasse in Rumänien und Serbien leidenschaftlichen Hass gegen die Monarchie erwecken – eine Stimmung, die die Konkurrenten unserer Industrie, unseres Handels, unserer Banken auf dem Balkan sehr wohl ausnützen werden. Der Kapitalismus, der Österreichs wirtschaftliche Vorherrschaft auf dem Balkan braucht, wird schon darum eine Befreiung der Rumänen und Serben in Ungarn anstreben müssen. Ganz anders, sobald Rumänen und Serben in der Monarchie als Nationen konstituiert sind. Wenn im Reiche bessere rumänische und serbische Schulen bestehen als in Serbien und Rumänien. dann blickt nicht mehr unsere Jugend nach Bukarest und Belgrad, sondern die Jugend dieser armen, nur langsam fortschreitenden Länder kommt zu uns, lernt uns kennen und achten. Wenn den Rumänen und Serben in Österreich die Entwicklung ihrer nationalen Kultur ebenso gesichert ist wie in den Königreichen Rumänien und Serbien, dann unterscheidet sich die Monarchie von diesen Staaten nur dadurch, dass sie den Nationen die gewaltigen Vorteile eines großen Wirtschaftsgebietes bietet. Dann wird das Reich eine starke Anziehungskraft auf diese Nationen üben: das Bedürfnis nach einem großen Wirtschaftsgebiet, das in West- und Mitteleuropa eine der treibenden Kräfte war, die zur Errichtung der modernen Nationalstaaten führten, könnte hier gerade zur Ausdehnung eines Nationalitätenstaates, zur engen Angliederung der Balkanstaaten an den österreichischen Nationalitätenbundesstaat führen. Der nationale Friede im Reiche ist ein Mittel kapitalistischer Eroberung auf dem Balkan. [12]

Die inneren Kräfte im Reiche treiben zum Cäsarismus, der den Gedanken demokratischer Gleichheit und nationaler Freiheit zum Machtwerkzeug der Krone macht. Die Ausdehnungsbedürfnisse des Kapitalismus treiben überall zum Imperialismus, zum Bündnis der Krone, die „Mehrerin des Reiches“ sein will, der nach Kriegsruhm lüsternen Armee mit dem Kapitalismus, der neue Anlagesphären und sichere Absatzmärkte braucht. In Österreich wird der Cäsarismus zum Mittel des Imperialismus werden. Die Krone wird die Nationalitäten Ungarns befreien, weil sie die Nationen der Balkanhalbinsel beherrschen will; die Kapitalisten werden für die Selbstbestimmung der Nationen kämpfen, weil sie die Völker des Balkans in ihre Ausbeutungssphäre einbeziehen wollen.

Utopien. Utopien, nicht wahr? Die Habsburger, versichert uns Naumann, sind ja nicht revolutionär, und der Spießbürger, der alles für ewig hält, was 30 Jahre lang besteht, kann es gar nicht mehr glauben, dass an der Landkarte Europas noch etwas geändert werden könnte. Nun denn, an dem Tage, an dem das Zollgebiet getrennt ist, der Zerfall des Dualismus die Herrschaft der Krone in Frage stellt, die österreichische Kapitalistenklasse ihren wichtigsten Absatzmarkt verliert, die ungarischen Nationalitäten zum Kampfe gegen die herrschende Minderheit rufen, die Auflösung der Türkei Europa vor die Notwendigkeit stellt, die nationalen Fragen auf dem Balkan zu lösen – an diesem Tage ist die Verfassung des ungarischen „Nationalstaates“ nichts als ein wertloses Stück Papier.

Gewiss wirken dieser Entwicklung machtvolle Gegentendenzen entgegen. Die Trägheit des Bestehenden ist ja eine gewaltige historische Macht. Aber wie immer der Kampf des Cäsarismus gegen den ungarischen Staat enden mag, schon das Entstehen cäsaristischer Tendenzen wird gewiss die Entwicklung der nationalen Verhältnisse in der westlichen Reichshälfte sehr wirksam beeinflussen. Die Mächte, die die nationale Autonomie im Reiche verwirklichen wollen, müssen sie erst diesseits der Leitha durchsetzen. Das gleiche Wahlrecht ist in Österreich Regierungsprogramm geworden, als die Krone es in Ungarn brauchte. Die Krone, alle Klassen, alle Nationen, die die herrschenden Klassen Ungarns niederwerfen wollen, werden die nationale Autonomie in Österreich fordern müssen. Die nationale Autonomie in Österreich wird daher das Programm der Krone werden, die um ihre Herrschaft über Ungarn fürchtet; das Programm der klerikalen Bauern und christlich-sozialen Kleinbürger, die das Reich vor den ketzerischen Rebellen retten wollen; der Bourgeoisie, die um ihren Absatzmarkt in Ungarn zittert und die Balkanstaaten wirtschaftlich erobern will; der Nationen, die den geknechteten Volksgenossen in der anderen Reichshälfte beistehen wollen.

Die Entwicklung Österreichs zur nationalen Autonomie hängt nicht ausschließlich von den ungarischen Verhältnissen ab. Wir wissen, im Innern des Staates sind Kräfte genug wirksam, die ihn nach dieser Richtung treiben. Aber die Wucht dieser Kräfte wird durch die ungarische Frage ungeheuer gestärkt werden. In Österreich müsste erst in einem langen historischen Prozess der Wille zum nationalen Frieden den nationalen Hass überwinden und in der Forderung der nationalen Autonomie sich verkörpern; die Rücksicht auf die ungarische Frage wird diesen Prozess gewaltig beschleunigen. Was die Völker Österreichs noch trennt, wird lächerlich klein erscheinen, sobald das Dasein eines großen Reiches, die Zukunft der österreichischen Industrie, das Schicksal von Hunderttausenden von Volksgenossen jenseits der Leitha auf dem Spiele steht.

Die Entwicklung wird die besitzenden Klassen zwingen. Österreich die Verfassung zu geben, die die Arbeiterklasse um ihrer Interessen, um ihres Klassenkampfes willen braucht. Dieses Zusammentreffen ist kein wunderbarer Zufall, sondern leicht zu erklären. Eis sind ja dieselben Kräfte, die sowohl das Verfassungsprogramm der Arbeiterklasse als auch die Entwicklungstendenzen dieses alten Reiches bestimmen. Die kapitalistische Entwicklung hat Österreich vor die nationale wie vor die soziale Frage gestellt. Während einst die herrschenden Klassen der alten historischen Nationen die geschichtslosen Nationen unterworfen hatten, hat der Kapitalismus und der moderne Staat alle Nationen zu neuem Kulturleben erweckt und sie auf die Bühne der Geschichte geführt. Der Dualismus war die letzte Verfassungsform, die die Herrschaft der alten historischen Nationen über die geschichtslosen Nationen erhalten sollte: Deutsche und Magyaren teilten das Reich untereinander, die Deutschen gewährten den Polen, die Magyaren den Kroaten einen kleinen Anteil an der Herrschaft, die anderen Völker gingen leer aus. Sobald alle Nationen erwacht sind, sobald keine Nation mehr die nationale Unterdrückung erträgt, fällt dieser Pakt in Brüche. Sobald es keine geschichtslosen Nationen mehr gibt, gibt es auch keine nationale Herrschaft und keine nationale Unterdrückung mehr. Im Nationalitätenbundesstaat vereinigen sich die autonomen Nationen. Die Verwandlung der Monarchie in einen Nationalitätenbundesstaat ist eine Wirkung der kapitalistischen Entwicklung, die bei allen Nationen die nationale Kulturgemeinschaft verbreitert und dadurch auch die geschichtslosen Nationen zu neuem kulturellen Leben, zu selbständigem politischen Wollen erweckt.


Wir haben die ungarische Frage hier nur so weit behandelt, als sie uns für die Erkenntnis der Entwicklungstendenzen der nationalen Kämpfe in Österreich wichtig erschien. Die Stellungnahme der österreichischen Arbeiterklasse zur ungarischen Frage ist ein ganz selbstständiges, von der Analyse der staatlichen Entwicklungstendenzen scharf zu unterscheidendes Problem.

Die österreichischen Arbeiter haben die ungarische Frage zunächst als ein Problem ihrer Verfassungspolitik begriffen. Der Dualismus, der dem Reichsrat die Macht über die auswärtige Politik und über die militärischen Machtmittel entzieht, ist für jede demokratische Partei unerträglich. Daher müssen die österreichischen Arbeiter die Aufhebung der Gemeinsamkeit der „pragmatischen“ Angelegenheiten, die vollständige staatsrechtliche Trennung von Ungarn fordern.

Allmählich lernen wir es aber, die ungarische Frage auch als wirtschaftspolitisches Problem zu begreifen. Die Trennung des Zollgebiets bedroht die österreichische Arbeiterklasse mit großer, in der Parteipresse bisher unterschätzter Gefahr. Sie bedeutet für uns verminderte Arbeitsgelegenheit, teueres Brot und Fleisch, Verlangsamung der industriellen Entwicklung Österreichs. Die österreichische Arbeiterklasse fordert daher die Erhaltung der Einheit des Zollgebiets.

Österreich und Ungarn staatsrechtlich vollkommen selbstständige Staaten, aber dauernd zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet verbunden: das ist das Programm, das sich aus den Interessen der österreichischen Arbeiterklasse ergibt.

Die Wiedervereinigung Österreichs und Ungarns zu einem einheitlichen, national-föderativen Staate ist nicht das Programm der Arbeiterklasse. Sobald sie aber zum Programm der Herrschenden in der Monarchie wird, wird es unsere Aufgabe sein, die günstige Situation zu nutzen, um die Gegenwartsinteressen der österreichischen Arbeiter zu fördern: dann ist der Augenblick gekommen, die nationale Autonomie auf der Grundlage der demokratischen Lokalverwaltung zu erobern, die dauernde Sicherung des einheitlichen Wirtschaftsgebiets zu erkämpfen. Nicht minder wird es dann aber auch unsere Aufgabe sein, die Gefahren, die der Cäsarismus für die demokratische Verfassung des Staates und die demokratische Gesinnung der Massen herbeiführt, zu bekämpfen. Die Erörterung dieser schwierigen taktischen Aufgabe liegt außerhalb des Rahmens dieser Schrift, denn hier handelt es sich nicht mehr um ein nationales Problem, sondern um das allgemeine Problem der Taktik des Proletariats gegenüber dem Cäsarismus. Das Wichtigste, was hierüber zu sagen ist, hat schon Ferdinand Lassalle gesagt, als er im Jahre 1859 schrieb:

„Wenn Louis Napoleon eine große und durch und durch volksmäßige Sache in die Hand nimmt, gerade um sich durch den Widerhall, den dieselbe im Herzen der Völker findet, einige Pfennige Popularität zu erschleichen, so verweigere man ihm diese Pfennige und mache so die Leistung, zu der er sich aus persönlichen Zwecken entschließt, unnütz für diese persönlichen Zwecke. Aber wie kann man nach dem gewöhnlichsten gesunden Menschenverstände jetzt selbst das Schwert ziehen wollen gegen jene Sache? Wie kann man jetzt kämpfen wollen gegen das, was man bisher wollte, wünschte, erstrebte?“

Fußnoten

1. Sehr anschaulich schildert Eisenmann den nationalen Charakter der ungarischen Kultur:

„Magyar und Edelmann waren nahezu gleichbedeutende Begriffe; der Staat sprach lateinisch, die Gesellschaft sprach deutsch, lateinisch, slavisch, magyarisch; aber der Staat und die Gesellschaft hatten nichtsdestoweniger einen ausgesprochen national-magyarischen Charakter. Aus der Pflege der nationalen Überlieferung und des nationalen Rechtes, aus der Praxis des öffentlichen Lebens auf den Reichstagen und mehr noch aus der täglichen Verwaltung der Komitate, aus dem Studium der ungarischen Gesetze schöpfte diese Nation die Jugendfrische und Kraft, die sie fremden Einflüssen unzugänglich machten.“ Eisenmann, Le compromis austro-hongrois, Paris 1904, S.547.

2. Verböczy erklärt:

„Nomine autem et appellacione populi hoc in loco intellige solummodo dominos praelatos, barones et alios magnates atque quodlibet nobiles, sed non ignobiles l’lebis autem nomine soll ignobiles intelliguntur.“

Das heißt: Die „Nation“ bilden die Herren Prälaten, Barone und die anderen Magnaten und sonst die Edelleute, die übrigen gehören nicht zur Nation, sondern bilden die Plebs, den Pöbel.

3. Grünberg, Die Bauernbefreiung in Österreich-Ungarn, Handwörterbuch der Staatswissenschaften.

4. Beer, Die Zollpolitik und die Schaffung eines einheitlichen Zollgebietes unter Maria Theresia, Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Bd.XIV, S.50.

5. Ludwig Lang, 100 Jahre Zollpolitik, Wien 1906, S.172.

6. Lang, a.a.O., Seite 171.

7. Springer, Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie, S.219.

8. Unter dem Absolutismus haben freilich gerade die ungarischen Stände die Gemeinschaft des Zollgebietes angestrebt. Sie wurde ihnen mit Berufung darauf, dass der Adel auf seine -Steuerfreiheit nicht verzichten wolle, verweigert. Erst das Ministerium Schwarzenberg hat nach der Revolution die Zollgrenze beseitigt. Indessen sind die einzelnen Forderungen des ständischen Kampfes vergessen; geblieben ist nur die allgemeine Stimmung, die in der vollständigen Trennung von Österreich das Ziel des nationalen Kampfes erblickt.

9. Vergleiche Springer, a.a.O., S.64.

10. Springer, a.a.O., Seite 153.

11. Naumann, Deutschland und Österreich, Berlin 1900.

12. Dieser Gedanke findet sich schon bei Fischhof, Österreich und die Bürgschaften seines Bestandes, Wien 1869, S.33. – Man lese auch folgende Sätze, deren Verfasser ein Rumäne ist:

„Die nordamerikanische Union bestand zu Anfang bloß aus 13 Einzelstaaten. Heute besteht sie aus 45! Und alle diese später hinzugekommenen Staaten, alle diese 32 Einzelstaaten kamen aus freien Stücken, von selbst. Warum denn? Weil die natürliche Anziehungskraft, die die Freiheit, die Autonomie und die Entwicklungsmöglichkeit der Vereinigten Staaten ringsum ausübte, eine geradezu unwiderstehliche ward ... Wir müssen den in unserem Reiche lebenden Nationen alle Bedingungen ihrer gedeihlichen politisch-nationalen und wirtschaftlichen Entwicklung gewähren und sichern. Wir müssen alles tun, um ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich im Rahmen der Großmacht Österreich tatsächlich wohler zu fühlen als in irgend einem anderen Staatswesen ... Dann ist auch sicher zu gewärtigen, dass bei allen kleinen östlichen außerösterreichischen Nationen das Vertrauen in unsere Politik und die Sympathien für unsere Monarchie zunehmen werden.“ Popovici, Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich, Leipzig 1906, S.407ff.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008