Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


VII. Programm und Taktik der österreichischen Sozialdemokratie


§ 31. Das Nationalitätenprogramm der sozialdemokratischen Arbeiterpartei


Der moderne Sozialismus ist zuerst in den großen Nationalstaaten Westeuropas entstanden. Durch den sozialen Aufbau und die politische Stellung dieser Nationen ward daher auch zuerst seine Stellung zur Nationalitätenfrage bestimmt.

Die Arbeiterklasse dieser Nationen setzt zunächst der nationalen Wertungsweise der konservativen Klassen die rationalistische Wertungsweise, dem Ideal der Erhaltung der nationalen Eigenart das der Entwicklung des gesamten Volkes zur Nation entgegen. Die Politik der Arbeiterklasse ist also, positiv ausgedrückt, evolutionistisch-nationale Politik; negativ ausgedrückt, Ablehnung der konservativ-nationalen Politik, also kultureller Kosmopolitismus (§ 12). Aber da die Entwicklung des gesamten Volkes zur Nation nicht im Kampfe mit anderen Völkern, sondern im Klassenkampfe innerhalb der Nation erkämpft werden muss, so wird sich die Arbeiterklasse des nationalen Gehaltes ihrer Politik nicht bewusst. Desto schärfer wird sich die Arbeiterklasse der negativen Seite ihrer Politik, der Ablehnung der nationalen Wertungsweise, nationalen Geschichtsschreibung, der konservativ-nationalen Politik bewusst. Der kulturelle Kosmopolitismus ist also die Grundstimmung der kämpfenden Arbeiterklasse bei den Franzosen, Engländern, den Deutschen im Reiche.

Diese Nationen sind historische Nationen. Die Arbeiter dieser Nationen stehen im Kampfe gegen die besitzenden Klassen, die der eigenen Nation angehören. Im Kampfe mit diesen Klassen sehen die Arbeiter nicht, dass sie mit ihren Klassengegnern das Band der nationalen Kulturgemeinschaft verknüpft; desto deutlicher sehen sie, dass die Arbeiter der anderen Nationen ihre Arbeits-, Leidens- und Kampfgenossen sind. Die nationalen Verschiedenheiten verblassen daher vor ihren Augen. Sie erneuern daher den alten Gedanken der Humanität. So entsteht bei ihnen die Grundstimmung des naiven Kosmopolitismus (§ 20). Allmählich läutert sich diese Stimmung zum Gedanken des bewussten Internationalismus, das heißt zur Erkenntnis, dass der Fortschritt der Arbeiterklasse jeder Nation von dem Fortschritt des Proletariats aller Nationen bedingt ist. An die Stelle der Idee der Humanität tritt die Erkenntnis der Solidarität der Interessen der Arbeiter aller Nationen.

Diese Erkenntnis führt nun freilich auch zur Tat: die Arbeiter jeder Nation suchen, soweit dies möglich ist, den Kampf der Arbeiter der anderen Nationen – und das heißt hier: der anderen Staaten – zu unterstützen. Dagegen kann der Gedanke der Internationalität hier nicht zum Programm der Staatsbildung werden: hier besteht ja unbestritten der Nationalstaat. Die Arbeiter sehen hier nicht die positive Seite des Nationalstaates – sie erkennen ihn nicht als den „natürlichen“ Staat, als die äußere Machtorganisation einer inneren Gemeinschaft – sondern nur seine negative Seite – sie erkennen ihn als Klassenstaat, als Machtorganisation der besitzenden Klassen. Ebensowenig verdichtet sich hier der Gedanke der Internationalität zu einem Programm der Staatsverfassung. Hier besteht bereits der nationale Unterricht, er ist also nicht zu fordern. Die Arbeiter werden sich also nicht des positiven Elementes in ihm bewusst, sie erkennen den Unterricht nicht als Mittel der Herstellung einer nationalen Kulturgemeinschaft, vielmehr sehen sie nur seine negative Seite: sie erkennen den höheren Unterricht als das Sonderrecht, den Volksunterricht als ein Machtwerkzeug der besitzenden Klassen. Ebenso wenig kann hier die Frage auftauchen, ob die Arbeiterklasse den Gebrauch der nationalen Sprache im Amt und vor den Gerichten fordern muss, da die nationale Sprache in der Staatsverwaltung unbestritten herrscht. Auch hier wieder sehen die Arbeiter nur die negative Seite der Erscheinung: nicht die Amtssprache steht in Frage, sondern das Amt, das die besitzenden Klassen zum Werkzeug der Knechtung und Ausbeutung der Arbeiter gemacht haben.

Erst im Gegensatz gegen den Imperialismus erhält der Internationalismus der Arbeiter der großen Nationalstaaten einige Bestimmtheit. Freilich handelt es sich hier unmittelbar nicht um das Verhältnis der eigenen Nation zu den fremden Völkern, sondern um das Verhältnis des eigenen Staates zu den anderen Staaten. Aber wenn der Imperialismus die nationalistische Herrschaftsidee verwirklichen will, so stellen ihm die Arbeiter die nationale Freiheitsidee gegenüber. Das politische Nationalitätsprinzip wird zur Ideologie der Arbeiterklasse, weil das nationalistische Prinzip zum Kampfmittel der kapitalistischen Expansionspolitik geworden ist. So haben die europäischen Arbeiter während des südafrikanischen Krieges sich für die Freiheit und politische Selbstständigkeit der Buren begeistert, haben die Unterdrückung der Inder verurteilt, sind selbst dem Aufstande der Boxer gerecht geworden. Wenn die Kapitalistenklasse den großen, von einer Nation beherrschten Nationalitätenstaat erstrebt, so nimmt die Arbeiterklasse den alten bürgerlichen Gedanken des freien Nationalstaates auf.

Das sind also die Elemente des proletarischen Internationalismus in den großen Nationalstaaten: seine Grundstimmung ist der kulturelle Kosmopolitismus; sein Inhalt ist die Erkenntnis der Solidarität der Arbeiter aller Nationen; er erhält wachsende Bestimmtheit durch den Kampf gegen den Imperialismus, wodurch die Freiheit und Selbstbestimmung jeder Nation zur Forderung der Arbeiter aller Nationen wird. Alle diese Elemente finden sich schon in der Nationalitätenpolitik der alten „Internationale“. Die Probleme der Staatsverfassung, der nationalen Schule, des Gebrauchs der nationalen Sprache im öffentlichen Leben konnten hier gar nicht auftauchen. Vor diese Fragen sieht sich die Arbeiterklasse erst gestellt, sobald der Sozialismus von den Nationalstaaten aus in die Nationalitätenstaaten, von den historischen zu den geschichtslosen Nationen dringt. Die Arbeiterklasse muss auf diese Fragen eine Antwort wissen. Die sozialistische Theorie muss die Kräfte erforschen, die, auf Millionen einzelner Arbeiter, auf Tausende einzelner Vertrauensmänner wirkend, diese Antwort schließlich bestimmen werden. Wenn uns heute die alten Formulierungen des Internationalismus nicht mehr genügen, wenn wir das Verhältnis der Arbeiterklasse zu den nationalen Problemen umfassender und gründlicher zu erforschen, aus dem allgemeinen Gedanken des Internationalismus ein bestimmtes Nationalitätenprogramm abzuleiten streben, so ist dies in letztem Grunde eine Wirkung der Tatsache, dass die kapitalistische Produktionsweise und dadurch auch die sozialistische Gesinnung der Arbeiterschaft von einem Lande auf das andere übertragen wird. Zuerst suchte die österreichische Sozialdemokratie nach der spezifisch proletarischen Stellungnahme zu den konkreten nationalen Fragen. Heute ringt auch schon im russischen Reiche der Internationalismus nach konkreter inhaltlicher Bestimmung.

Wir haben bereits davon gesprochen, wie in Österreich der naive Kosmopolitismus der einen, der naive Nationalismus der anderen sich allmählich in den bewussten Internationalismus verwandelt. Es ist nicht uninteressant, zu sehen, wie dieser Prozess zunächst in unklaren Redewendungen in der Parteipresse und in Arbeiterversammlungen seinen Ausdruck findet.

So haben wir beispielsweise in den letzten Jahren unzählige Male von deutschen Sozialdemokraten in Österreich die Äußerung vernommen, auch die Arbeiter seien „gute Deutsche“. Indessen, wenn ich von jemandem sage, er sei ein guter Deutscher, so heißt dies zunächst nichts anderes, als dass er zur deutschen Kulturgemeinschaft gehört, von der deutschen Kultur bestimmt und dadurch mit den deutschen Volksgenossen zu einer Charaktergemeinschaft verknüpft ist. In diesem Sinne sind die Arbeiter keine guten Deutschen. Denn darin besteht ja das nationale Elend in der Klassengesellschaft, dass die breiten Massen des arbeitenden Volkes von der nationalen Kulturgemeinschaft fast vollständig ausgeschlossen sind; dass die besitzenden Klassen nicht nur die Sachgüter, die die Arbeiterklasse erzeugt, sondern auch die nationale Kultur, die auf der Arbeit des Proletariats beruht, sich aneignen und der Arbeiterklasse vorenthalten. Man verschleiert den Klassengegensatz, man verhüllt die Ausbeutung der Arbeiter, man beschönigt das Elend der Arbeiterklasse, wenn man den Arbeitern einreden will, sie seien heute schon gute Deutsche. Umgekehrt! Weil die Arbeiter heute gar nicht gute Deutsche sein können, deshalb streben wir nach einer Gesellschaftsverfassung, in der alle Arbeitenden an der nationalen Kultur Anteil haben und dadurch zu einer nationalen Kulturgemeinschaft zusammengeschlossen werden. Die Arbeiter sind nicht gute Deutsche, aber wir kämpfen darum, sie zu guten Deutschen zu machen!

Nun wird man uns erwidern, so sei jene Äußerung gar nicht gemeint gewesen. Man wolle nicht behaupten, dass die Arbeiterklasse heute schon an der nationalen Kulturgemeinschaft vollen Teil habe. Man wolle damit nur die politische Stellungnahme der Arbeiterklasse zur nationalen Frage kennzeichnen, wolle damit ausdrücken, dass die Arbeiter auch „national“ sind. Nun denn: die Politik der besitzenden Klassen ist konservativ nationale Politik; die Politik der Arbeiterklasse ist evolutionistisch-nationale Politik. In Österreich ist die Politik der besitzenden Klassen nationale Machtpolitik; die Politik der Arbeiterklasse dagegen ist die Politik der nationalen Autonomie. Die endliche Lösung der nationalen Frage erwarten die besitzenden Klassen vom kapitalistischen Imperialismus, der ihnen einen Nationalitätenstaat errichten soll, in dem ihre eigene Nation die fremden Völker beherrscht; die Arbeiterklasse dagegen erwartet das Ende der nationalen Kämpfe vom proletarischen Sozialismus, der jede Nation in einem autonomen Gemeinwesen vereinigt, aber auch der als obersten sozialen Körperschaft organisierten Völkerrechtsgemeinschaft eingliedert. Wir sehen, wie in jedem Punkte die Nationalitätenpolitik der Arbeiterklasse der nationalen Politik der herrschenden und besitzenden Klassen entgegengesetzt ist. Hat es dann einen Sinn, zu sagen, die Arbeiter seien „auch national“? Ist es zweckmäßig, zwei einander in jedem Punkte widerstreitende Willensrichtungen mit demselben Worte zu bezeichnen? Ist das, was man jetzt die nationale Politik der Arbeiterklasse nennen möchte, etwas anderes als die konkrete Ausgestaltung ihrer alten internationalen Politik?

Der innere Wert dieser in den letzten Jahren so beliebt gewordenen Redewendungen ist also sehr gering. Trotzdem bezeichnet ihr Auftauchen, wenn wir es nur recht zu deuten verstehen, einen großen Fortschritt in der Entwicklung der Arbeiterklasse, nämlich die Entwicklung vom naiven Kosmopolitismus zum bewussten Internationalismus. Man hat einst den Arbeitern gesagt, es komme nicht darauf an, ob wir Deutsche oder Tschechen sind, wir seien Ja alle Menschen; man hat sie später gelehrt, es sei gleichgültig, w^elche Sprache wir sprechen, wir seien ja alle ausgebeutete und kämpfende Arbeiter. Allmählich wird man inne, dass man die Forderungen einer Interessengruppe nicht dadurch zum Schweigen bringen kann, wenn man sie in einer größeren Gesamtheit verschwinden, wenn man ihren Begriff in einem weiteren Begriff untergehen lässt. Heute wissen wir, dass wir die internationale Politik der deutschen Arbeiter nicht anders ableiten können, als wenn wir zeigen, dass der deutsche Arbeiter für seine Interessen nicht kämpfen kann, ohne die Interessen der Arbeiter aller anderen Nationen zu fördern. Wir sehen von der nationalen Verschiedenheit der Arbeiter nicht ab, vielmehr zeigen wir, wie die Arbeiter jeder Nation daran ein eigenes Interesse haben, dass die nationalen Kulturbedürfnisse der Arbeiter der anderen Nationen befriedigt werden. Diese Entwicklung vom Kosmopolitismus zum Internationalismus ist aber nicht vollendet, wenn es gelungen ist, den Internationalismus theoretisch zu formulieren und zu begründen; vielmehr muss der neue Gedanke sich allmählich das Bewusstsein vieler Tausende einzelner Menschen erobern, die alten Vorstellungen in ihrem Bewusstsein niederringen. Im Kampfe des Neuen mit dem Alten in Hunderttausenden Köpfen entstehen mannigfache, verworrene Situationen, entstehen häufige Unklarheiten Einzelner und der Partei, deren Gesamtwille durch den Willen solcher Einzelner bestimmt wird. Eine solche Übergangszeit drückt ihre innere Unklarheit gern in mancher inhaltsleeren Redensart, mancher widerspruchsvollen Redewendung aus. Wenn man sagt, auch die Sozialdemokraten seien „gute Deutsche“, sie seien „auch national“, so will man damit sagen, die Sozialdemokratie wolle von der Erfahrungstatsache der nationalen Verschiedenheit und der nationalen Kämpfe nicht absehen, auch sie habe vielmehr auf die nationale Frage eine bestimmte Antwort. So kann uns die Vorliebe mancher Parteigenossen für solche Redewendungen einen großen historischen Prozess verstehen lehren.

Während aber der bewusste Internationalismus erst allmählich im Bewusstsein der einzelnen Parteigenossen den naiven Kosmopolitismus überwindet, hat er theoretisch seinen Sieg schon längst erfochten. Es geschah dies auf dem Brünner Gesamtparteitage im Jahre 1899, der folgendes Nationalitätenprogramm angenommen hat:

„Da die nationalen Wirren in Österreich jeden politischen Fortschritt und jede kulturelle Entwicklung der Völker lähmen, da diese Wirren in erster Linie auf die politische Rückstandigkeit unserer öffentlichen Einrichtungen zurückzuführen sind und da insbesondere die Fortführung des nationalen Streites eines jener Mittel ist, durch die die herrschenden Klassen sich ihre Herrschaft sichern und die wirklichen Volksinteressen an jeder kräftigen Äußerung hindern,

erklärt der Parteitag:

Unter diesen Voraussetzungen, aber auch nur unter diesen, wird es möglich sein, in Österreich an Stelle des nationalen Haders nationale Ordnung zu setzen, und zwar unter Anerkennung folgender leitender Grundsätze:

  1. Österreich ist umzubilden in einen demokratischen Nationalitätenbundesstaat.
  2. An Stelle der historischen Kronländer werden national abgegrenzte Selbstverwaltungskörper gebildet, deren Gesetzgebung und Verwaltung durch Nationalkammern, gewählt auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes, besorgt wird.
  3. Sämtliche Selbstverwaltungsgebiete einer und derselben Nation bilden zusammen einen national einheitlichen Verband, der seine nationalen Angelegenheiten völlig autonom besorgt.
  4. Das Recht der nationalen Minderheiten wird durch ein eigenes, vom Reichsparlament zu beschließendes Gesetz gewahrt.
  5. Wir erkennen kein nationales Vorrecht an, verwerfen daher die Forderung einer Staatssprache; wie weit eine Vermittlungssprache nötig ist, wird das Reichsparlament bestimmen.

Der Parteitag als das Organ der internationalen Sozialdemokratie in Österreich spricht die Überzeugung aus, dass auf Grundlage dieser leitenden Sätze eine Verständigung der Völker möglich ist;

er erklärt feierlich,

Der empfindlichste Mangel dieses Programms ist der, dass es darauf verzichtet, die Nationalitätenfrage in Österreich in einem umfassenden Zusammenhang zu begreifen. Ein sozialdemokratisches Nationalitätenprogramm muss seine konkreten Forderungen aus der Stellung der Arbeiterklasse in der Gesellschaft ableiten, muss die bestimmten nationalen Probleme in Österreich der großen sozialen Frage eingliedern. Versucht man dies, so gelangt man unvermeidlich dazu, die sozialistische Politik der Arbeiterklasse als ihre eigentliche nationale Politik zu formulieren, der ihre Verfassungs- und Verwaltungspolitik in Österreich als bloßes Mittel dient. Dadurch empfängt auch das politische Nationalitätenprogramm breiteren Inhalt; denn die Arbeiterklasse kann sich nicht damit begnügen, auf dem historisch gegebenen Boden ihres Kampfes Jene Verfassung zu fordern, die ihrem Klassenkampfe freie Bahn schafft, sie muss den Völkern auch sagen, welche politische Gliederung ihr Sieg in diesem Klassenkampfe den Nationen verheißt. Dass das sozialdemokratische Nationalitätenprogramm die Stellung der Arbeiterklasse zum Nationalitätsprinzip kennzeichnen muss, der Frage des Nationalitätsprinzips nicht ausweichen kann, zeigte sich auch auf dem Brünner Parteitage, wo die Delegierten der polnischen und ruthenischen Arbeiter die programmatische Erklärung abgaben, dass die politische Einheit und Selbständigkeit ihrer Nation ein Ziel ihres Kampfes ist und bleibt.

Die Resolution stellt also wesentlich nur ein nationales Gegenwartsprogramm dar. In ihren ersten drei Grundsätzen wird der Gedanke der nationalen Autonomie glücklich umschrieben. Bedenklicher ist der vierte Grundsatz, der vom Rechte der nationalen Minderheiten handelt. Der erste Entwurf sprach nur vom Schutze, nicht vom Rechte der nationalen Minderheiten. Die Delegierten empfanden auf dem Parteitage deutlich, dass ein solcher Schutz doch nur der zentralistisch-atomistischen Regelung der nationalen Verhältnisse, und zwar ihrer liberalen Spielart, entspricht, die den Staatsbürger gegen die Eingriffe der Gesetzgebung und Verwaltung durch staatsgrundgesetzlich gewährleistete Rechte „schützt“. Man ersetze daher den „Schutz“ durch das „Recht“ der nationalen Minderheiten. Das Schlusswort des Referenten Seliger beweist recht deutlich, dass man hierbei wohl an die Konstituierung der Minderheit als einer Körperschaft denken musste [1], wenn man dies auch nicht ausdrücklich ausgesprochen hat. So klafft eine Lücke in unserem Nationalitätenprogramm. Wir haben die Frage der nationalen Minderheiten nicht beantwortet, sondern nur erklärt, wer zuständig sein soll, über sie zu entscheiden. Die Ängstlichkeit, mit der man dieser Frage auswich, ist wohl begreiflich; trotzdem kann die Partei ein Minoritätenprogramm nicht entbehren, sind doch gerade die nationalen Minderheiten fortwährend der Gegenstand der heftigsten nationalen Kämpfe. Wir glauben, gezeigt zu haben, dass die Arbeiterklasse diese Frage nicht anders beantworten kann als mit der Forderung der Konstituierung der Minderheiten als öffentlich-rechtlicher Körperschaften auf Grund des Personalitätsprinzips. Wenn man sich in Brunn zu dieser Forderung nicht entschließen konnte, so lag das nicht nur an der besonderen Gefährlichkeit der Frage der nationalen Minderheiten, sondern wohl auch daran, dass man nur das reine, von der staatlichen Verwaltung völlig losgelöste Personalitätsprinzip kannte. Die Anhänger des Personalitätsprinzips dachten sich die Nationen ganz abseits der öffentlichen Verwaltung konstituiert, wie etwa die Religionsgemeinschaften. Ganz ausdrücklich erklärte die slovenische Sozialdemokratie in ihrem Programmentwurf: „Territorialgebiete haben nur einen rein administrativen Charakter und sind ohne jeden Einfluss auf die nationalen Verhältnisse.“ Erst nach dem Brünner Parteitag ist Rudolf Springers Kampf der österreichischen Nationen um den Staat erschienen, worin zum ersten Mal gezeigt wurde, wie die öffentliche Lokalverwaltung unmittelbar in die Hände der Nationen gelegt werden kann, ohne dass man darum auf die Autonomie der nationalen Minderheiten verzichten müsste.

Minder wichtig erscheint uns der fünfte Grundsatz des Programmes. Die Vermittlungssprache ist ein staatliches Bedürfnis, dessen Befriedigung die Arbeiterklasse dem Staate wohl wird gewähren müssen, aber kein proletarisches Bedürfnis, dessen Erfüllung das Programm der Sozialdemokratie verlangen müsste.

Wenn die Partei in nicht allzu ferner Zeit sich gezwungen sehen sollte, ihr Nationalitätenprogramm nachzuprüfen, so wird sie also einmal ihr österreichisches Verfassungsprogramm dem allgemeinen sozialen Programm der Arbeiterklasse einordnen und den nationalen Gehalt ihres Klassenkampfes und seines Zieles aussprechen müssen; sie wird weiter das Verfassungsprogramm selbst durch die Forderung der Autonomie der nationalen Minderheiten ergänzen müssen. Sollten wir die Ergebnisse unserer Untersuchung kurz, in Gestalt eines Programmes zusammenfassen, so würden wir sie etwa folgendermassen formulieren:

„I. In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeiterklasse von der nationalen Kulturgemeinschaft ausgeschlossen. Die herrschenden und besitzenden Klassen allein eignen sich die nationalen Kulturgüter an. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei strebt darnach, die nationale Kultur, das Erzeugnis der Arbeit des ganzen Volkes, auch zum Besitztum des ganzen Volkes zu machen und dadurch alle Volksgenossen zu einer nationalen Kulturgemeinschaft zusammenzuschließen, die Nation als Kulturgemeinschaft erst zu verwirklichen.

Wenn die Arbeiterklasse für höhere Arbeitslöhne und kürzere Arbeitszeit kämpft, wenn sie das Schulwesen so ausbauen will, dass die Schule auch den Kindern des Proletariats den Zugang zu den Schätzen ihrer nationalen Kultur erschließt, wenn sie volle Pressfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit verlangt, so kämpft sie für die Bedingungen der Verbreiterung der nationalen Kulturgemeinschaft.

Aber die Arbeiterklasse weiß, dass die Arbeitenden innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft niemals den Vollgenuss der nationalen Kultur erringen können. Darum wird sie die politische Macht erobern und die Arbeitsmittel aus dem Sondereigentum in das gesellschaftliche Eigentum überführen. Erst in der auf dem gesellschaftlichen Eigentum und der genossenschaftlichen Produktion beruhenden Gesellschaft wird das gesamte Volk zum Mitgenuss der nationalen Kulturgüter, zur werktätigen Mitarbeit an der nationalen Kultur berufen. Erst muss die Nation Arbeitsgemeinschaft werden, ehe sie volle und wahre, sich selbst bestimmende Kulturgemeinschaft werden kann.

Daher ist die Vergesellschaftlichung der Arbeitsmittel das Ziel, der Klassenkampf das Mittel der nationalen Politik der Arbeiterklasse.

II. In diesem Kampfe stehen den Arbeitern jeder Nation die besitzenden Klassen ihres eigenen Volkes als unversöhnliche Gegner gegenüber. Dagegen ist der wirtschaftliche, politische und kulturelle Fortschritt der Arbeiter Jeder Nation bedingt durch den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Fortschritt des Proletariats aller anderen Nationen. Die Arbeiterklasse jeder Nation kann daher ihre wirtschaftliche und politische Befreiung und ihre Eingliederung in ihre nationale Kulturgemeinschaft nur im Kampfe gegen die besitzenden Klassen aller Nationen und im engen Bunde mit der Arbeiterklasse aller Völker erringen.

III. In Österreich wird dieser Klassenkampf durch die zentralistisch-atomistische Verfassung gehemmt. Diese Verfassung zwingt alle Nationen zum Kampfe um die Macht im Staate. Die besitzenden Klassen missbrauchen diese Machtkämpfe, indem sie ihre Klassenkämpfe und Konkurrenzkämpfe in die Gestalt nationaler Kämpfe kleiden; dadurch verhüllen sie die Klassengegensätze und stellen die breiten Massen der ausgebeuteten und geknechteten Völker in den Dienst ihrer Herrschaftsinteressen. Die zentralistisch-atomistische Verfassung, mag sie nun in der Gestalt des Staatszentralismus oder des Kronländerföderalismus erscheinen, ist daher für die Arbeiter aller Nationen unerträglich. Die Arbeiterklasse aller Nationen fordert eine Verfassung, die den Machtkämpfen der Nationen ein Ende bereitet, indem sie jeder Nation eine rechtlich gesicherte Machtsphäre zuweist, eine Verfassung, die jeder Nation die Möglichkeit freier Weiterentwicklung ihrer Kultur gewährt und den Arbeitern aller Nationen es möglich macht, sich Anteil an ihrer nationalen Kultur zu erkämpfen. Daher fordert die sozialdemokratische Arbeiterpartei die völlige Umgestaltung Österreichs nach folgenden Grundsätzen:

  1. Österreich ist umzubilden in einen demokratischen Nationalitätenbundesstaat. 
  2. An Stelle der historischen Kronländer werden national abgegrenzte Selbstverwaltungskörper gebildet, deren Gesetzgebung und Verwaltung durch Nationalkammern, gewählt auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes, besorgt wird.
  3. Sämtliche Selbstverwaltungsgebiete einer und derselben Nation bilden zusammen einen national einheitlichen Verband, der seine nationalen Angelegenheiten völlig autonom besorgt.
  4. Die nationalen Minderheiten innerhalb jedes Selbstverwaltungsgebietes sind als öffentlich-rechtliche Körperschaften zu konstituieren, die völlig autonom für das Schulwesen der nationalen Minderheit sorgen und ihren Volksgenossen vor den Ämtern und Gerichten Rechtshilfe gewähren.

IV. Die Arbeiterklasse kann ihren Klassenkampf nur innerhalb des historisch gegebenen staatlichen Rahmens führen. Sie lehnt es ab, die Lösung der nationalen Fragen vom ungewissen Siege einer imperialistischen Weltumwälzung zu erhoffen, da der Sieg des Imperialismus die Niederlage der Arbeiterklasse in den großen kapitalistischen Nachbarstaaten voraussetzt und da er in Österreich selbst heftige nationale Kämpfe entfesseln würde, die den Klassenkampf und dadurch auch die kulturelle Entwicklung aller Nationen verlangsamen müssten.

Nicht vom kapitalistischen Imperialismus, sondern vom proletarischen Sozialismus erwartet die Arbeiterklasse die Verwirklichung der politischen Einheit und Freiheit aller Nationen. Wie jede neue Gesellschaftsverfassung vor ihr, wird auch die sozialistische Gesellschaftsordnung die Grundsätze der Bildung und Abgrenzung der Gemeinwesen völlig verändern. Sie wird die Kräfte, die heute noch die aus dem Zeitalter des Feudalismus und Frühkapitalismus überlieferten Nationalitätenstaaten zusammenhalten, vernichten. Sie wird die Menschheit in national abgegrenzte Gemeinwesen gliedern, die, im Besitze ihrer Arbeitsmittel, die Fortentwicklung ihrer nationalen Kultur frei und bewusst regeln.

Die sozialistische Gesellschaft wird aber gleichzeitig auch die internationale Arbeitsteilung durchführen, sie wird daher auch die selbständigen nationalen Gemeinwesen zu zahlreichen internationalen Verwaltungsgemeinschaften verknüpfen, die schließlich zu Organen der als Körperschaft konstituierten Völkerrechtsgemeinschaft werden. So wird sie die nationalen Gemeinwesen allmählich als autonome Glieder einem großen, neuartigen, internationalen Gemeinwesen einordnen. Die Vereinigung der gesamten Kulturmenschheit zu gemeinsamer Beherrschung der Natur und die Gliederung der Menschheit in autonome nationale Gemeinwesen, die ihre nationalen Kulturgüter genießen und die Fortentwicklung ihrer nationalen Kultur bewusst regeln, ist das nationale Endziel der internationalen Sozialdemokratie.“


Fußnote

1. „Es ist gestern schon gesagt worden, dass das Wort „Schutz“ nicht so ganz das zusammenfasst, was den nationalen Minderheiten eingeräumt werden muss. Es handelt sich nicht bloß darum, der nationalen Minderheit gegenüber der Majorität in ihrer nationalen Betätigung und kulturellen Entwicklung Schutz zu gewähren, sondern auch dafür zu sorgen, dass dieser nationalen Mlinderheit gewisse Rechte eingeräumt werden müssen. Denn wir zerschlagen ja nicht die bisher bestehenden Gemeinden. Diese Minderheit hat wohl auch ein besonderes Interesse an der kommunalen Verwaltung und hier muss festgelegt werden, welche Rechte sie in diesem engsten Kreise in Bezug auf die Regelung ihrer nächstliegenden öffentlichen Interessen genießt.“ Verhandlungen des Gesamtparteitages der Sozialdemokratie in Österreich, abgehalten zu Brünn, Wien 1899. S.105.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008