Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


VII. Programm und Taktik der österreichischen Sozialdemokratie


§ 33. Die nationale Frage in den Gewerkschaften


Die Geschichte der gewerkschaftlichen Bewegung spiegelt die Geschichte der kapitalistischen Entwicklung wieder. Solange jede Stadt ein selbstständiges soziales Gebilde mit eigenem Waren- und Arbeitsmarkt ist, solange der Blick des kleingewerblichen Arbeiters über die Grenzen seines Stadtgebietes nicht hinausreicht, organisieren sich die Arbeiter in lokalen Gewerkvereinen. Solchen Charakter tragen die englischen trade clubs des 18. Jahrhunderts. Je enger aber jede einzelne Stadt in das Wirtschaftsgetriebe eines ganzen großen kapitalistischen Wirtschaftsgebietes verflochten wird, je mehr durch die Wanderungen des Kapitals und der Arbeitskräfte das ganze Wirtschaftsgebiet auch zu einem einheitlichen Arbeitsmarkt wird, je mehr endlich der großindustrielle Arbeiter, durch das Spiel der Konjunktur bald dahin, bald dorthin geworfen, durch die Entwicklung der Verkehrsmittel und des Zeitungswesens seinen Berufsgenossen im ganzen Lande näher gerückt, verstehen lernt, dass sein Fortschritt durch den Fortschritt seiner Berufsgenossen im ganzen Wirtschaftsgebiet bedingt ist, desto weniger können ihm die lokalen Organisationen genügen. Zunächst entstanden lose Föderationen lokaler Gewerkvereine, Verbände örtlicher Vereine, die zunächst noch keine Vertretung und keine Beamtenschaft der Gesamtheit kannten, sondern in jedem Jahre ihre gemeinsamen Angelegenheiten von einem anderen lokalen Verein, der governing branch, verwalten ließen. Allmählich erst bildeten sich diese Föderationen in große Reichsvereine mit einheitlicher Verfassung, einheitlicher Politik, gemeinsamem Kassenwesen um, denen die einst selbständigen lokalen Vereine als bloße Ortsgruppen mit verhältnismäßig geringfügigen Machtbefugnissen eingegliedert wurden. [1] Auch in Österreich hat die gewerkschaftliche Organisation sich vom lokalen Verein und Landesverein zum Reichsverband (Verband von lokalen und Landesvereinen) und von diesem zum einheitlichen Reichsverein entwickelt.

Die fortschreitende Zentralisation der Gewerkschaftsbewegung, die die Arbeiter aller Nationen in einheitlichen Reichsvereinen sammelte, musste schließlich auch die Gewerkschaften vor die nationale Frage stellen; hat doch dieselbe kapitalistische Entwicklung, die den Gewerkschaften die zentralistische Organisationsform aufzwang, auch bei den Arbeitern Nationalbewusstsein und Nationalgefühl erweckt. Dieser Zusammenhang zeigte sich schon recht deutlich auf dem zweiten Gewerkschaftskongress im Jahre 1896, der sich gleichzeitig vor die Frage der einheitlichen Durchführung zentralistischer Reichsorganisationen und vor die Frage der nationalen Spaltung der obersten Leitung der Gewerkschaftsbewegung gestellt sah. Im Jahre 1897 wurde die „Tschechoslavische Gewerkschaftskommission“ in Prag gegründet, die aber den Sieg der einheitlichen Reichsorganisationen über die lokalen und Landesvereine und ihre losen Verbände nicht zu hindern vermochte. So zeugte die kapitalistische Entwicklung einerseits die internationale Vereinigung der Gewerkschaften des einzelnen Gewerbes oder der einzelnen Berufsgruppe; andererseits aber nationale Absplitterung in der obersten Leitung der gewerkschaftlichen Bewegung. Die Verfassung der gewerkschaftlichen Gesamtbewegung trat so in Widerstreit zu der Verfassung der einzelnen Fachvereine: dort nationale Spaltung, hier internationale Vereinigung. Zunächst schien es, als würde die Gesamtbewegung ihre Verfassung dem Organisationsprinzip der großen zentralen Fachvereine anpassen. Im Jahre 1904 schien die Angliederung der Prager Gewerkschaftskommission an die internationale, in der „Gewerkschaftskommission Österreichs“ vertretene Gesamtbewegung unmittelbar bevorzustehen. Mit der tschechischen Parteikonferenz, die Weihnachten 1904 in Brünn stattfand, beginnt die rückläufige Bewegung. Ein Teil der tschechischen Gewerkschafter fordert seither grundsätzlich die „nationale Autonomie“ auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Für die Arbeiter Jeder Nation solle eine besondere autonome Gewerkschaftskommission bestehen. Die Reichsgewerkschaftskommission solle sich aus den Delegierten der nationalen Gewerkschaftskommissionen zusammensetzen. Dieser Verfassung der Gesamtbewegung solle auch die Verfassung der einzelnen Gewerkvereine angepasst werden. Daher sollen nationale Gewerkschaftsvereine und Verbände gegründet werden. Wo die internationalen Reichsvereine bestehen bleiben, soll doch den Arbeitern jeder Nationalität ohne Rücksicht auf ihren Wohnsitz innerhalb der internationalen Organisation volle Autonomie gewährt werden. Sie sollen das in ihrer Sprache geschriebene Fachblatt selbstständig verwalten, ihre Redakteure, Sekretäre und besoldeten Vertrauensmänner wählen und über Ausstände, an denen nur Berufsgenossen ihrer Nationalität beteiligt sind, entscheiden. [2] Dieses Programm wurde auf dem außerordentlichen Gewerkschaftskongress in Wien im Dezember 1905 mit 197.202 gegen 2.364 Stimmen abgelehnt, während sich die Vertreter von 30.686 Gewerkschaftsmitgliedern der Abstimmung enthielten. Ein Teil der tschechischen Gewerkschaftler hat sich dieser Entscheidung nicht gefügt. Der Streit um die Organisationsform wurde in jede einzelne Fachorganisation hineingetragen. Ein Teil der tschechischen Arbeiter ist aus einzelnen internationalen Reichsvereinen ausgetreten und hat tschechische Gegenorganisationen gegründet.

Zur Begründung ihrer Agitation gegen die internationale Gewerkschaftsbewegung führen die tschechischen Gewerkschaftler an, dass einzelne Reichsvereine die sprachlichen Bedürfnisse der tschechischen Arbeiter nicht berücksichtigen, dass sie zum Beispiel auch für Ortsgruppen im tschechischen Sprachgebiet bei den Vereinsbehörden deutsche Statuten einreichen oder ihnen deutsche Beitrittsformularien zusenden. Noch lebhafter wurden die Gemüter durch die an sich belanglose Frage der Repräsentation der tschechischen Arbeiter bei den internationalen Konferenzen der gewerkschaftlichen Landessekretäre erregt. Wenn die tschechischen Genossen auf diese Frage der Repräsentation so großes Gewicht legen, so scheint es fast, als wären sie von der Stimmungs- und Gedankenwelt des nationalen Kleinbürgertums erfüllt, das, da es ein ernsthaftes Ziel im nationalen Kampfe nicht kennt, seinem Größenwahn in eitler Repräsentation, seiner Verärgerung und Verbitterung in leeren Demonstrationen Ausdruck gibt.

Indessen wäre es unbillig, das Streben der tschechischen Genossen nach nationaler Autonomie innerhalb der Gewerkschaftsbewegung aus kleinbürgerlich-nationaler Denkweise erklären zu wollen. Wir müssen den Fehler zu vermeiden suchen, die unmittelbaren Anlässe und die Formen der tschechischen Agitation mit den in ihr wirkenden Ursachen zu verwechseln.

Gehen wir diesen Ursachen nach, so stoßen wir zuerst auf die Tatsache, dass in dem vielsprachigen Lande jeder sachliche und örtliche Gegensatz die Gestalt eines nationalen Gegensatzes annehmen kann. Wenn beispielsweise die Metallarbeiter im tschechischen Teile Böhmens niedrigere Gewerkschaftsbeiträge einführen wollen, während ihre Fachkollegen aus den anderen Industriegebieten höhere Beiträge für zweckmäßig halten, oder wenn die Bergarbeiter des Ostrauer Reviers fordern, dass die Union in ihrem Gebiete ihren Sitz habe, während die Genossen der anderen Reviere die Leitung ihrer Gewerkschaft in Deutschböhmen belassen wollen, so sind dies lokale Gegensätze, die mit den Machtkämpfen der Nationen nichts zu tun haben, die auch innerhalb einer national einheitlichen Gewerkschaft unvermeidlich sind.

Aber in Österreich, wo das öffentliche Leben seit Jahrzehnten vom Lärm der nationalen Kämpfe erfüllt ist, wird Jeder Streit, in dem sich Parteien verschiedener Nationalität gegenüberstehen, als nationaler Streit betrachtet und von der ganzen Ideologie der nationalen Machtkämpfe genährt. So birgt sich mancher Interessenkampf, mancher Meinungsgegensatz auch innerhalb einer Gewerkschaft hinter einer nationalen Maske. Solche Gegensätze können nun die nationale Spaltung der Gewerkschaften niemals rechtfertigen: wenn den Genossen eines tschechischen Industriegebietes ein besonderes Sekretariat verweigert wird, so dürfen sie darum ebensowenig die Reichsorganisation sprengen, wie etwa die Genossen der Provinz Sachsen oder des Königreiches Bayern aus ihrer Fachorganisation austreten dürfen, weil ihnen die Bestellung eines besoldeten Sekretärs von der Mehrheit nicht zugestanden wurde. Wenn die tschechischen Genossen bei der Abstimmung über die Höhe der Mitgliedsbeiträge überstimmt wurden, so dürfen sie darum ebensowenig aus dem Reichsverein austreten, wie etwa die Genossen von Ostpreußen oder von Rheinland-Westfalen bei gleichem Anlass die deutsche Gewerkschaftsorganisation sprengen dürften. Kein gewerkschaftlicher Kampf, keine demokratische Organisation ist möglich, ohne die Disziplin der Minderheit. Dieser Pflicht ist die Minderheit auch dann nicht enthoben, wenn sie sich aus Genossen anderer Nationalität zusammensetzt als die Mehrheit. So können örtliche und sachliche Gegensätze die nationale Spaltung der Gewerkschaften nicht rechtfertigen; wohl aber können sie sie erklären. Denn Gewerkschaftler, die einmal innerhalb ihres Gewerkvereines einen Interessenstreit oder einen Meinungskampf durchgekämpft haben, in dem Gegner verschiedener Nationalität ihre Kräfte maßen und der darum als nationaler Streit empfunden und gewertet wurde, werden dadurch auch in der Gewerkschaft für nationale Argumentierungen empfänglich.

Nationale Argumente mussten aber auch in der Gewerkschaftsbewegung laut werden, sobald die Reichsvereine Arbeiter verschiedener Nationalität in größerer Zahl umfassten. Wir wissen, dass die höchstentwickelten Industriegebiete Österreichs größtenteils im Siedlungsgebiete der deutschen Nation liegen; es ist daher leicht erklärlich, dass sich die deutschen Arbeiter den Gewerkschaften am ehesten anschlossen, dass sie zuerst die Leitung der meisten gewerkschaftlichen Organisationen in die Hand nahmen. Wenn nun tschechische Arbeiter in großer Zahl in die Organisationen eintreten, finden sie hier Vertrauensmänner deutscher Nationalität. Muss dem tschechischen Arbeiter, der in der Werkstätte von einem deutschen Kapitalisten ausgebeutet, von deutschen Angestellten angetrieben wird, über den der Klassenstaat seine Herrschaft durch deutsche Beamte, Richter, Offiziere ausübt, die deutsche Leitung der Gewerkschaft nicht als ein Stück der deutschen Fremdherrschaft erscheinen, die er hasst?

Man darf dagegen einwenden, dass die Gewerkschaften autonome demokratische Organisationen sind, in denen jedes Mitglied an der Bildung des Gesamtwillens des Verbandes gleichen Teil hat, in denen es keine Herrschaft, also auch keine Fremdherrschaft gibt. Aber vergessen wir nicht, dass die Demokratie nicht nur in der Verfassung liegt, sondern auch in der Gesinnung! Der geschulte Gewerkschaftler, der die Mittel kennt, seinem Willen in seiner Organisation Geltung zu verschaffen, kennt in ihr keine Herrschaft. Die noch ungeschulten Massen aber, die in jedem Jahre für die Gewerkschaftsbewegung erst gewonnen werden, sehen in dem großen Reichsverein eine Herrschaftsorganisation, der sie sich anschließen, weil sie ihnen wirtschaftliche Vorteile verheißt, deren Mechanismus sie aber nicht verstehen und deren Gesamtwillen ihnen als fremde Macht erscheint. Sehen sie in den Vertrauensmännern der Organisation ihre Beherrscher, so muss ihnen die fremde Nationalität der „Führer“ als Verkörperung nationaler Fremdherrschaft erscheinen. Es ist kein Zufall, dass der nationale Streit in die österreichischen Gewerkschaften gerade in den Jahren ihres schnellsten Wachstums eingedrungen ist, in den Jahren, in denen sich Tausende gewerkschaftlich noch ganz ungeschulter Arbeiter den Gewerkvereinen angeschlossen haben. Wollen wir nicht unbillig sein, so müssen wir zugestehen, dass die nationalen Differenzierungsbestrebungen nicht der Böswilligkeit oder dem Unverstand jener Genossen entspringen, die sich zu ihren Wortführern gemacht haben, sondern die Stimmungen und Gedanken eines Teiles des tschechischen Proletariats ausdrücken, nämlich jener Tausende gewerkschaftlich noch ungeschulter Arbeiter, die in den letzten Jahren den Gewerkschaften erst gewonnen wurden und jener, die für sie noch zu gewinnen sind. [3]

Das Streben nach nationaler Autonomie innerhalb der Gewerkschaften wird aber noch durch eine andere Reihe von Ursachen verstärkt. Die Gliederung der Gewerkschaften beeinflusst nämlich auch ihr Verhältnis zur politischen Partei. Wo die Massen der Arbeiter sowohl Sozialdemokraten als auch Gewerkschaftler sind, besteht zwischen Partei und Gewerkschaft ein enges Verhältnis. Wohl bildet sowohl die Partei als auch die Gewerkschaft einen besonderen Körper von Vertrauensmännern und Beamten aus. Aber nur bei unvollkommener Demokratie, nur dort, wo die Vertrauensmänner ihre Organisation beherrschen, ist ein Gegensatz zwischen Partei und Gewerkschaft möglich; wo dagegen der Wille der Vertrauensmänner nichts anderes ist als der Ausdruck des Willens ihrer Auftraggeber, der proletarischen Massen, dort kann zwischen Partei und Gewerkschaft kein Gegensatz bestehen; sind es doch dieselben Arbeitsmassen, die sich einmal als Partei organisieren, um den Klassenstaat zu bekämpfen, dann wieder in Gewerkvereine gliedern, um dem Unternehmertum gegenüberzutreten. In Österreich war bisher die Einheit der Partei und der Gewerkschaften vollkommener als in irgend einem anderen Lande verwirklicht. In den letzten Jahren sehen wir aber in der Partei und in der Gewerkschaft einander entgegengesetzte Entwicklungstendenzen. Die Partei gliedert sich in autonome nationale Gruppen, die sich immer scharfer voneinander sondern, mehr und mehr zu selbstständigen Parteien werden. In der Gewerkschaftsbewegung aber gehen die lokalen und Landesvereine in derselben Zeit in den großen internationalen Reichsvereinen auf. In der Partei nationale Differenzierung, in der Gewerkschaft internationale Vereinigung. Nun waren in Österreich, wo die politischen Organisationen nur eine kleine Kerntruppe des Proletariats umfassen, während die große Masse der Genossen nur in den Gewerkschaften organisiert ist, bisher die Gewerkschaften der große machtvolle Körper der Partei – die Gewerkschaften die Materie, die Partei die Form, aber nicht die Form als wesenlose Form im Sinne Hegels, sondern als Gesetz des Inhalts im Sinne Kants. Dieser Zustand ward infolge der entgegengesetzten Entwicklung der politischen und der gewerkschaftlichen Organisation unmöglich. Die tschechische Sozialdemokratie wird mehr und mehr zu einer selbständigen Partei; aber da die tschechischen Genossen nicht besondere gewerkschaftliche Organisationen haben, sondern den großen internationalen Reichsvereinen eingegliedert sind, so hat die tschechische Sozialdemokratie als selbständige Partei keine Massenorganisation, sie ist Geist ohne Körper, Form ohne Materie. So entsteht infolge der fortschreitenden Auflösung der österreichischen Sozialdemokratie in selbständige nationale Parteien notwendig die Tendenz, auch innerhalb der Gewerkschaften die nationale Autonomie durchzuführen. Träger dieser Bewegung sind nun nicht mehr bloß die noch ungeschulten Arbeitermassen, denen die von deutschen Vertrauensmännern geleiteten Reichsvereine als Werkzeuge nationaler Fremdherrschaft erscheinen, sondern gerade die Kerntruppen der tschechischen Arbeiterklasse, die Genossen, deren ganzes Sein von den Gedanken und Bestrebungen der politischen Arbeiterbewegung erfüllt ist.

Es ist freilich richtig, dass die Gliederung der Gewerkschaftsbewegung notwendig anderen Regeln folgt als die Organisation der Partei. Wenn das Organisationsstatut die Partei in nationale Gruppen scheidet, so konstituiert es die engeren Gemeinschaften innerhalb der Partei als die Elemente ihrer Organisation. Die Gewerkschaften dagegen haben ihr eigenes Gesetz der Gliederung; sie gliedern sich nach Berufen, Gewerben, Industriegruppen. In der Partei sondern sich, wie wir gesehen haben, Deutsche, Tschechen, Polen natürlich voneinander ab und das Organisationsstatut muss sich dieser Tatsache anpassen; in den Gewerkschaften dagegen müssen die Schneider von den Schuhmachern, die Metallarbeiter von den Holzarbeitern geschieden werden. Dass wir die nationale Autonomie innerhalb der Partei durchgeführt haben, beweist noch nicht, dass wir sie in der Gewerkschaftsbewegung durchführen können oder sollen. Aber trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass, wo zwischen Partei und Gewerkschaft ein so enges Verhältnis besteht wie in Österreich, die Verfassung der Partei auch auf die Verfassung der Gewerkschaften ihren Einfluss üben muss. Die österreichische Arbeiterbewegung scheint heute einem widerspruchsvollen Zustande zuzutreiben: die Massen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter sollen der Körper der Partei sein; die Gewerkschaftler sind ohne Unterschied der Nationalität in Reichsorganisationen zusammengefasst; die Partei dagegen löst sich allmählich in eine Anzahl selbständiger nationaler Parteien auf. Wie kann eine einheitliche internationale Gewerkschaftsorganisation gleichzeitig die Basis von sechs selbständigen nationalen Arbeiterparteien sein, die oft miteinander, oft nebeneinander, manchmal auch gegeneinander kämpfen: Können in einem Leibe sechs Seelen leben, können sechs Formen eines Inhalts Gesetz sein? Bleibt die Partei, was sie war, was sie immer noch ist: eine einheitliche, wenn auch in nationale Gruppen gegliederte Partei, dann besteht kein Widerspruch zwischen Parteiverfassung und Gewerkschaftsverfassung; zerfällt aber die österreichische Sozialdemokratie in sechs selbständige Parteien, dann sehe ich nur zwei Wege, die der österreichischen Arbeiterbewegung noch offen stehen: entweder passt sich die Gewerkschaftsorganisation den Bedürfnissen der politischen Arbeiterbewegung an, die einheitlichen Gewerkvereine zerfallen in selbständige nationale Organisationen und es bildet innerhalb jeder Nation die nationale Gewerkschaftsbewegung den Leib der nationalen Arbeiterpartei oder aber die Gewerkschaften bewahren sich ihre internationale Organisation, lösen dadurch aber auch ihr enges Verhältnis zur politischen Arbeiterbewegung und es steht dann abseits von den sechs sozialdemokratischen Parteien die einheitliche internationale Gewerkschaftsorganisation.

Welchen dieser Wege werden die Arbeiter Österreichs einschlagen? Diese Frage soll hier zunächst vom Standpunkte des Bedürfnisses der Gewerkschaften untersucht werden.

Die Tatsache, von der unsere Untersuchung auszugehen hat, ist die Solidarität der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter aller Nationen. Die deutschen Arbeiter können sich nicht höhere Löhne erkämpfen, wenn tschechische Streikbrecher ihnen in den Rücken fallen; sie können die erkämpfte Lohnhöhe nicht behaupten, wenn die niedrigen Löhne der tschechischen Arbeiter das Kapital zum Abfluss in das tschechische Sprachgebiet zwingen. Soweit die Kapitalisten eines Produktionszweiges miteinander in Konkurrenz treten – also innerhalb eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes – ist der Fortschritt der Arbeiter jeder Nation an den Fortschritt der Arbeiter aller Nationen gebunden. Dies haben die Arbeiter schon erkannt, als sie noch in lokalen Gewerkvereinen organisiert waren; darum leisteten in Streikfällen diese lokalen Vereine einander durch freiwillige Beiträge Unterstützung. Diese regellosen Unterstützungen erwiesen sich aber als ungenügend. Eine gemeinsame Kriegskasse erwies sich als unentbehrlich. So entstanden die großen Reichsvereine, die. soweit die staatliche Gesetzgebung dies ermöglicht, das ganze Wirtschaftsgebiet umfassen, einheitliche Kassen haben und aus dem gemeinsamen Eigentum der Arbeiter des Gewerbes im ganzen Wirtschaftsgebiete die im Lohnkampfe stehenden Genossen unterstützen.

Aber die Gewerkschaften lassen nicht nur durch Streiks die Funktion des Arbeitslosen in ihr Gegenteil umschlagen, sie verändern die ökonomische Funktion der Arbeitslosigkeit auch durch die Arbeitslosenunterstützung (§ 20). Auch die Arbeitslosenunterstützung kann nur von großen zentralen Vereinen mit einheitlichen Finanzen ausgebaut werden. Je. kleiner der Kreis ist, auf den eine Gewerkschaft ihre Wirksamkeit erstreckt, desto empfindlicher ist sie gegen lokale Krisen, gegen plötzliche Verschiebungen der Produktion, gegen die Stilllegung einzelner Betriebe; eine Gewerkschaft, die nur in einem kleinen Gebiete oder verhältnismäßig kleinem Personenkreise wirken kann, wird schon durch geringfügige Ereignisse von nur lokaler Bedeutung außerstande gesetzt, ihre Arbeitslosen zu unterstützen. Dasselbe gilt auch von den anderen Unterstützungen; Gewerkschaften, die Reise-, Kranken-, Todesfall-, Notfallunterstützungen u.s.w. bezahlen, müssen aus demselben Grunde wie die Versicherungsgesellschaften darnach streben, möglichst weite Kreise zu umfassen.

Das erste Gesetz der gewerkschaftlichen Organisation ist also die Zentralisation der Finanzen. Aus dem ganzen Wirtschaftsgebiete müssen die Beiträge der Fachkollegen in eine Kasse fließen, die für Streikunterstützung, Arbeitslosenunterstützung und die anderen Unterstützungszweige zu sorgen hat. Man hat es nun wiederholt versucht, die Finanzen zu zentralisieren, trotzdem aber nicht eine zentrale Exekutive mit der Leitung der Gewerkschaftspolitik zu betrauen, sondern den einzelnen lokalen Gruppen innerhalb der Gewerkschaft Autonomie, das heißt das Recht selbstständiger Gewerkschaftspolitik zu belassen. Diese Versuche sind stets fehlgeschlagen. Sehr lehrreich ist das auf vielfältige Erfahrung gestützte Urteil der Webbs: „Aus der Einzahlung der Gelder der Zweigvereine in die gemeinsame Kasse des ganzen Vereines und aus der Füllung derselben durch Beiträge aller Mitglieder in gleicher Weise folgt notwendig, dass es keinem lokalen Zweigverein gestattet werden kann, die ganze Organisation in einen Krieg zu verwickeln. Die Zentralisation der Finanzen verlangt in einer kriegführenden Organisation die Zentralisation der Verwaltung. Die Gewerkvereine, die diese Tatsache am vollständigsten erkannt haben, haben sich als besonders leistungsfähig und daher auch stabil erwiesen. Wo die Fonds zentralisiert worden waren, trotzdem aber ... den lokalen Behörden ihre Rechte geblieben sind, sind Schwäche, widersprechende Ratschläge und finanzieller Zusammenbrach das Resultat gewesen.“ [4]

Die unentbehrliche Zentralisation der Finanzen heischt unvermeidlich einheitliche Verwaltung, einheitliche Gewerkschaftspolitik.

Auch den englischen Arbeitern ist diese Erkenntnis nicht leicht geworden. Die englischen Arbeiter fordern ja den Ausbau der autonomen Lokalverwaltung im Staate; der Fehler lag zu nahe, als dass er gänzlich hätte vermieden werden können, in der Gewerkschaft zu verwirklichen, was man im Staate erstrebte. Aber die englischen Arbeiter haben es durch bittere Not, durch das Fehlschlagen mancher Hoffnung endlich verstehen gelernt, dass die Verfassung der Gewerkschaft anderen Gesetzen folgt als die Verfassung des Staates. Nicht anders ergeht es heute den österreichischen Arbeitern. Sie fordern die nationale Autonomie im Staate; aber sie werden den Fehler vermeiden müssen, den Kampforganisationen des Proletariats eine Verfassung aufzuzwingen, die der staatlichen Zwangsorganisation geziemt.

So haben wir denn zunächst ein Gebiet gewerkschaftlicher Tätigkeit abgegrenzt, von dem die nationale Autonomie ausgeschlossen bleiben muss. Das sind die internationalen ökonomischen Aufgaben der Gewerkschaften. Wir brauchen internationale Reichsvereine mit einheitlichen Finanzen, einheitlicher Verwaltung, einheitlicher Gewerkschaftspolitik.

Indessen ist damit die Tätigkeit der Gewerkschaften nicht erschöpft. Sie müssen vielmehr auch darnach streben, ihre Mitglieder zu erziehen. Diese Aufgabe erfüllen sie, indem sie den Mitgliedern durch Vorträge, Vortragszyklen, Unterrichtskurse ein Stück ihrer nationalen Kultur zuzuführen streben. Hier haben wir national differenzierte Aufgaben der Gewerkschaften. Hier ist also auch Platz für die nationale Autonomie innerhalb der Gewerkschaften. Wenn deutsche und tschechische Arbeiter an einem Orte zusammen arbeiten, so können gewiss die Gewerkschaftler jeder Nationalität selbstständig für ihr Vortrags- und Unterrichtswesen sorgen. Aber für diesen Zweck genügen nicht nur besondere nationale Ortsgruppen, sondern selbst nationale Unterrichtssektionen innerhalb der einheitlichen Ortsgruppe.

So weit besteht also keine Schwierigkeit: für die internationalen ökonomischen Aufgaben einheitliche internationale Gewerkschaften, für die nationalen Erziehungsaufgaben nationale Autonomie innerhalb der Gewerkschaft. Die Schwierigkeit beginnt vielmehr erst dort, wo für die internationalen wirtschaftlichen Gewerkschaftsaufgaben national differenzierte Mittel angewendet werden müssen. Die Gewerkschaft muss in Wort und Schrift zu den Arbeitern jeder Nationalität in ihrer Sprache sprechen. Sie braucht für die Arbeiter jeder Nation ein besonderes Fachblatt, besondere Redner und Organisatoren. Hier taucht nun die Frage auf: soll das tschechische Fachblatt Organ der Gesamtorganisation sein oder nur den Willen der tschechischen Genossen ausdrücken? Soll die Gesamtorganisation oder sollen nur die tschechischen Gewerkschaftler den im tschechischen Sprachgebiete wirkenden Vertrauensmännern ihre Aufträge erteilen? Die Notwendigkeit einheitlicher Verwaltung, einheitlicher Gewerkschaftspolitik, spricht hier unbedingt gegen die nationale Autonomie innerhalb der Gewerkschaft. Es wäre gar zu traurig, wenn die österreichischen Arbeiter die Erfahrungen mancher englischen Gewerkvereine [5] nochmals am eigenen Leibe erleben müssten. Die Notwendigkeit einheitlicher Finanzen und einheitlicher Gewerkschaftspolitik schließt die Autonomie innerhalb der gewerkschaftlichen Verwaltung unbedingt aus. Die Redakteure, Beamten, besoldeten Vertrauensmänner der internationalen Gewerkschaft müssen ihre Organe sein und bleiben, müssen von ihr bestellt werden, ihr verantwortlich sein. Aber andererseits lässt sich nicht leugnen, dass ein von einer internationalen Gewerkschaft ernannter und besoldeter Beamter, der im tschechischen Sprachgebiete Böhmens zu wirken hat, auf das engste Zusammenwirken mit den tschechischen Gewerkschaftlern angewiesen ist und nur von ihnen wirksam kontrolliert werden kann. So fordert das Interesse der Gewerkschaften selbst, dass die Gewerkschaftsbeamten nur von der Gesamtgewerkschaft bestellt, besoldet, ihres Amtes enthoben werden können, dass aber die nationale Gruppe, in deren Mitte sie wirken, sie beaufsichtigt und kontrolliert. Diesen Grundsatz werden nicht alle Reichsvereine in gleicher Weise verwirklichen können; hängen doch die Mittel seiner Verwirklichung von der Mitgliederzahl und finanziellen Stärke der Gewerkschaft und von ihrer Verbreitung über die verschiedenen Sprachgebiete ab. Eine große Gewerkschaft wird ihn am leichtesten durchführen, indem sie die Agitationsbezirke, Gaue und Distrikte, in die sie ihr Arbeitsgebiet einteilt, möglichst national abgrenzt; ist die Gewerkschaft in der glücklichen Lage, für alle oder doch einzelne Agitationsbezirke Beamte oder besoldete Vertrauensmänner einsetzen zu können, so werden diese Beamten vom Reichsverein ernannt und empfangen von ihm ihre Aufträge; die Agitationskommission des Bezirkes, die von den Ortsgruppen gewählt wird, hat nicht das Recht, den Beamten abzusetzen, wohl aber darf sie ihm Aufträge erteilen und ihn kontrollieren. Kann der Beamte die Aufträge dieser Kontrollkommission nicht durchführen, weil sie den Aufträgen widersprechen, die er vom Reichsverein empfangen hat, oder genießt der Beamte zwar das Vertrauen der Verwaltung des Reichsvereines, aber nicht das der Agitationskommission seines Bezirkes, so ist nur der Verbandstag, das Parlament des Reichsvereines, zuständig, diesen Streit zu schlichten.

Ebenso wird der Redakteur Jedes Gewerkschaftsblattes von der Gesamtorganisation ernannt und empfängt von ihr seine Instruktionen; gleichzeitig wird aber für jedes Gewerkschaftsblatt eine Presskommission bestellt, die nur von den Genossen jener Nationalität, für die das Blatt bestimmt ist, gewählt wird. Ist die Presskommission mit dem Blatte unzufrieden, ohne dass der an die Instruktionen der Zentralverwaltung gebundene Redakteur ihre Wünsche zu befriedigen vermag, so legt die Kommission ihre Beschwerde dem Parlament der Gesamtorganisation vor. Auf diese Weise ist die Einheit der Gewerkschaftsverwaltung und Gewerkschaftspolitik gesichert; zugleich ist aber auch jeder nationalen Gruppe Einfluss auf die Tätigkeit der Gewerkschaft auf ihrem Boden gewährleistet. Dauernd wird sich gewiss kein Gewerkschaftsbeamter behaupten können, mit dem die ihn kontrollierende nationale Gruppe nicht zufrieden ist. Auch eine solche Organisation wird nicht ohne Reibungen arbeiten können; aber diese Reibungen werden gar nicht durch die besondere Natur der nationalen Gegensätze, sondern durch die allgemeine Gegensätzlichkeit des Gesamtinteresses und der Gruppeninteressen verursacht. [6]

Nichts liegt uns ferner, als jeder Gewerkschaft derartige Verfassungsgrundsätze vorschlagen zu wollen. Ein Schema für Gewerkschaftsstatuten liegt nicht im Plane unserer Arbeit. Wohl aber wollten wir aus den Bedingungen des gewerkschaftlichen Kampfes selbst die Methode ableiten, deren sich jede einzelne Gewerkschaft bedienen muss, um der Tatsache nationaler Verschiedenheit und der Notwendigkeit des einheitlichen gewerkschaftlichen Kampfes in gleicher Weise Rechnung zu tragen. So kamen wir zu folgenden Forderungen: Einheitliche Verwaltung der internationalen ökonomischen Gewerkschaftsaufgaben! Nationale Autonomie auf dem Gebiete der kulturellen Erziehungsaufgaben der Gewerkschaften! Endlich einheitliche internationale Verwaltung, besondere nationale Kontrolle auf Jenen Gebieten gewerkschaftlicher Tätigkeit, wo sich die Gewerkschaft zur Erreichung ihrer internationalen ökonomischen Aufgaben national differenzierter Mittel bedienen muss! Wenn wir ein Bild einer Gewerkschaftsverfassung skizziert haben, die diesen Forderungen genügt, so geschah es nur beispielsweise, um den allgemeinen Grundsätzen anschauliche Gestalt zu geben. Es versteht sich von selbst, dass jede einzelne Gewerkschaft diese allgemeinen Grundsätze auch anders, ihren besonderen Arbeitsbedingungen entsprechend ausgestalten muss.

Diese Grundsätze sind nun nicht nur in der Organisation der einzelnen Gewerkvereine, sondern auch in der Gliederung der gewerkschaftlichen Gesamtorganisation durchzuführen.

Die Organe der gewerkschaftlichen Gesamtbewegung sind die Gewerkschaftskommission und der Gewerkschaftskongress. Sie sorgen für die einheitliche Entwicklung der gewerkschaftlichen Organisation, schlichten die Grenzstreitigkeiten der einzelnen Fachvereine, sorgen dafür, dass die einzelnen Gewerkschaften einander bei wichtigen Kämpfen Hilfe leisten, stehen jungen, noch hilflosen Organisationen mit Rat und Tat bei, vertreten endlich die Interessen der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen den Staat und die Unternehmerverbände. Es handelt sich hier durchaus um internationale ökonomische Aufgaben; die Durchführung der nationalen Autonomie ist hier unnötig. Mehr als das! Sie ist unmöglich. Haben wir erkannt, dass wir in jedem Gewerbe, in jeder Industriegruppe eine internationale Gewerkschaft mit zentralisierten Finanzen, einheitlicher Verwaltung und einheitlicher Politik brauchen, so können wir einen solchen Gewerkverein nicht unter die Leitung von zwei autonomen Gewerkschaftskommissionen stellen, nicht den Beschlüssen von zwei autonomen Gewerkschaftskongressen unterwerfen. Nationale Autonomie in der obersten Leitung der gewerkschaftlichen Gesamtbewegung und internationale Vereinigung in den Organisationen der einzelnen Berufe bilden einen unerträglichen Widerspruch. Die österreichische Gewerkschaftsbewegung kann nur von einem Gewerkschaftskongress ihre Gesetze empfangen, nur von einer Gewerkschaftskommission geleitet werden.

Wo sich aber die einheitliche Verwaltung national differenzierter Mittel bedient, dort ist gewiss auch eine national differenzierte Kontrolle zweckmäßig. Nur die tschechischen Gewerkschaftler können die tschechischen Publikationen der Reichsgewerkschaftskommission lesen, also auch nur sie diese Publikationen kontrollieren. Der Redakteur des tschechischen Organs der Gewerkschaftskommission muss von ihr oder vom allgemeinen Gewerkschaftskongress bestellt werden, weil dieses Organ sonst eben nicht mehr das Organ der Gesamtbewegung, sondern nur das Organ einer nationalen Gruppe innerhalb der Gesamtbewegung wäre. Aber gewiss wäre es zweckmäßig, wenn die tschechischen Delegierten des Gewerkschaftskongresses eine besondere tschechische Presskommission zu wählen das Recht hätten, deren Kontrolle das tschechische Organ der Gesamtbewegung unterworfen wäre. Kann der tschechische Redakteur, der ja an die Instruktionen des allgemeinen Gewerkschaftskongresses und der Reichsgewerkschaftskommission gebunden ist, die Wünsche der tschechischen Presskommission nicht erfüllen, so legen die streitenden Teile ihre Wünsche und Beschwerden dem Gewerkschaftskongress zur Entscheidung vor.

Die Reichsgewerkschaftskommission teilt ihr Arbeitsfeld in eine Anzahl von Agitationsgebieten, die tunlichst national abgegrenzt werden. Die Organe dieser Agitationsgebiete sind der von der Reichsgewerkschaftskommission bestellte und besoldete Landesgewerkschaftssekretär und die von den Gewerkschaftsortsgruppen des Landes gewählte Landesgewerkschaftskommission. Die internationalen ökonomischen Funktionen werden also von einem Organ der Reichskommission, ihren Instruktionen gemäß versehen; hier ist die Landesgewerkschaftskommission bloß auf die Kontrolle des Gewerkschaftssekretärs beschränkt. In rein lokalen Angelegenheiten dagegen – wozu die Leitung von Lohnkämpfen nicht gehört – ist die Landesgewerkschaftskommission autonom. So könnte also zum Beispiel die Landesgewerkschaftskommission von Tschechischböhmen über Lohnkämpfe nicht autonom beschließen, sondern hätte hier nur die Aufgabe, die Tätigkeit des Gewerkschaftssekretärs zu überwachen und über ihre Beobachtungen dem allgemeinen Gewerkschaftskongress und der Reichskommission zu berichten; dagegen würde sie die Agitationstätigkeit, die Verwendung der Referenten, das gewerkschaftliche Unterrichtswesen autonom regeln. In mehrsprachigen Agitationsgebieten könnten solche Aufgaben auch den nationalen Sektionen der Landesgewerkschaftskommission zugewiesen werden.

In den einzelnen Orten endlich bilden alle Gewerkschaften eine Einheit. Sie sind in der „Plenarversammlung“ vertreten, werden sich vielleicht einmal in größeren Orten als Gewerkschaftskartell konstituieren. Die Beschlüsse der Plenarversammlung über die internationalen ökonomischen Angelegenheiten binden alle Gewerkschafter des Ortes ohne Unterschied ihrer Nationalität. Über die national differenzierten Angelegenheiten dagegen (zum Beispiel Vortragswesen, Arbeiterschule und dergleichen) entscheiden nationale Sektionen, in denen die nationalen Ortsgruppen und die nationalen Unterrichtssektionen gemischt-sprachiger Ortsgruppen vertreten sind.

Auch diese Skizze einer Verfassung der gewerkschaftlichen Gesamtorganisation will nicht den Gewerkschaftern einzelne Vorschläge unterbreiten – dazu fühlen wir uns nicht berufen – sie will nur anschaulich machen, wie eine einheitliche Gewerkschaftsorganisation die Grundsätze international einheitlicher Verwaltung, nationaler Kontrolle und nationaler Autonomie zu vereinigen vermag.

Diese Grundsätze sind, wie wir gezeigt zu haben glauben, in den Bedingungen der gewerkschaftlichen Bewegung selbst begründet. Die volle nationale Autonomie können die Gewerkschaften nicht verwirklichen. Wir wollen den Nationen Ja auch im Staate nicht auf allen Gebieten staatlicher Tätigkeit volle Selbstverwaltung erkämpfen. Kein Sozialdemokrat fordert, dass etwa das Siedlungsgebiet jeder Nation innerhalb Österreichs ein selbständiges Zollgebiet bilde, dass jede Nation über Zivil- und Prozessrecht selbständig beschließe. Wohl aber fordern wir, dass jede Nation ihr Erziehungs- und Unterrichtswesen innerhalb des Staates frei verwalte, für die Entwicklung ihrer nationalen Kultur selbständig sorge. Auf diesem Gebiete wollen wir den Nationen aber auch innerhalb der Gewerkschaften volle Autonomie gewähren. Die Gewerkschaftler jeder Nationalität können innerhalb der Gewerkschaft ihr Vortrags-, Bibliotheks- und Unterrichtswesen selbständig verwalten; in diesen Angelegenheiten können nationale Ortsgruppen und nationale Unterrichtssektionen gemischter Ortsgruppen, nationale Distriktsorganisationen innerhalb der Reichsvereine, nationale Sektionen der Plenarversammlungen (Gewerkschaftskartelle) und Landesgewerkschaftskommissionen völlig autonom sein. Es ist freilich nur ein kleiner Kreis gewerkschaftlicher Tätigkeit, auf dem die nationale Autonomie durchgeführt werden kann. Das liegt aber daran, dass die Gewerkschaften wirtschaftlichen Aufgaben dienen und nur einen geringen Teil ihrer Kraft unmittelbar der erzieherischen und Unterrichtstätigkeit zuwenden können. Desto wichtiger sind die mittelbaren sozialpädagogischen Wirkungen des gewerkschaftlichen Kampfes. Indem die Gewerkschaften den Arbeitern höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit erkämpfen, indem sie die Willkürherrschaft in der Werkstätte brechen und das Selbstbewusstsein der Arbeiter stärken, machen sie die Arbeiter erst fähig, sich einen Anteil an der nationalen Kultur zu erkämpfen. Wo immer wir die nationale Autonomie fordern, ist sie uns ein Mittel des proletarischen Klassenkampfes; wer sie zum Selbstzweck macht, wer um der leeren Form der nationalen Autonomie willen den Gewerkschaften eine Organisationsform aufzwingen will, die ihren Kampfesbedingungen nicht entspricht, der hemmt den sozialen Fortschritt der Arbeiterklasse, der hemmt den Prozess, in dem das gesamte Volk erst zu einer nationalen Kulturgemeinschaft wird, der treibt antinationale Politik. Indem wir eine Verfassung der Gewerkschaften ausbauen wollen, die möglichst vollkommen den Bedürfnissen des gewerkschaftlichen Kampfes angepasst ist, setzen wir der nationalen Formen- und Formelpolitik die evolutionistisch-nationale Politik entgegen.

Wird über die nationale Gewerkschaftsfrage vom Standpunkte des Interesses des gewerkschaftlichen Kampfes entschieden werden, das mit dem wahren nationalen Interesse der Arbeiter aller Völker zusammenfällt, dann treibt die Entwicklung nicht zu nationaler Zersplitterung der Gewerkvereine, sondern zu immer strafferer Zentralisation. Die Gewerkschaften können den Arbeitern jeder Nation die Selbstverwaltung ihrer Unterrichtskurse und Bibliotheken gewähren, sie können den Arbeitern jeder Nation ein besonderes Recht der Kontrolle über die in ihrer Sprache erschienenen gewerkschaftlichen Publikationen und die in ihrer Sprache betriebene mündliche Agitation einräumen, aber sie müssen darauf bestehen, dass die ökonomischen Kämpfe der Arbeiter von einer Stelle aus einheitlich geleitet werden und dass nur die Organe der Gesamtheit über den gemeinsamen Kriegsschatz verfügen dürfen.

Aber über die Probleme unserer Gewerkschaftsorganisation werden Menschen entscheiden. Auch der Gewerkschafter ist keine bloße Verkörperung des Gewerkschaftsinteresses, auch er ist ein „Mensch mit seinem Widerspruch“, erfüllt von den kulturellen, nationalen, politischen Stimmungen und Wünschen seiner Umgebung, Wir haben gesehen, dass der Kampf der tschechischen Genossen um die nationale Autonomie in den Gewerkschaften, realen Triebkräften entspringt, die im sozialen und politischen Leben der tschechischen Arbeiterklasse wurzeln und deren Macht nicht unterschätzt werden darf. Werden diese Kräfte stark genug sein, den Ausbau einer einheitlichen österreichischen Gewerkschaftsorganisation zu hemmen?

Wir sahen eine jener Kräfte darin, dass dem noch ungeschulten tschechischen Arbeiter die deutsche Leitung seiner Berufsorganisation als nationale Fremdherrschaft erscheint. Aber der Kapitalismus dehnt heute sehr schnell über große Teile des tschechischen Sprachgebietes seinen Herrschaftsbereich aus. Dadurch entsteht einerseits eine tschechische Bourgeoisie und Bürokratie, die kapitalistische Ausbeutung und die politische Unterdrückung erscheint dem tschechischen Arbeiter nicht mehr in der Gestalt nationaler Fremdherrschaft, er wird daher auch gegen die fremde Leitung in seiner Gewerkschaft minder empfindlich; andererseits aber schließen sich dadurch Massen tschechischer Arbeiter den Gewerkschaften an, sie lernen es allmählich, den Mechanismus der gewerkschaftlichen Verwaltung zu verstehen, in ihn einzugreifen, sie sehen in der Gewerkschaft keine Herrschaftsorganisation mehr, sondern eine Genossenschaft, an deren Verwaltung sie gleichen Teil haben. So wird die kapitalistische Entwicklung und in ihrem Gefolge die wachsende gewerkschaftliche Schulung der Massen das Trugbild der nationalen Fremdherrschaft in den Gewerkschaften zerstören.

Von dieser Seite droht also der österreichischen Gewerkschaftsorganisation keine dauernde Gefahr. Die Gefahr des Augenblicks aber werden wir desto leichter überwinden, je besser wir es verstehen, die sprachlichen Bedürfnisse der tchechischen Arbeiter zu befriedigen.

Viel schlimmer ist die Gefahr, die die Entwicklung der politischen Organisation für unsere Gewerkschaften erzeugt. Diese Gefahr kann auch die zweckmäßigste Anpassung der gewerkschaftlichen Organisationsformen an die Bedürfnisse eines vielsprachigen Landes nicht bannen. Internationale, zentralistisch geleitete Organisationen können nicht den Unterbau von sechs selbstständigen politischen Parteien bilden! Bilden deutsche und tschechische Sozialdemokraten eine Partei, so können sie auch in der Gewerkschaft den geeignetsten Mann an die wichtigste Stelle setzen, können tschechische Gewerkschafter einen Deutschen, deutsche einen Tschechen mit der Leitung ihrer Organisation betrauen. Zerfällt aber die österreichische Sozialdemokratie in eine Reihe selbstständiger nationaler Arbeiterparteien, die zu den nationalen Tagesfragen in verschiedener Weise Stellung nehmen, dann wird der nationale Kampf innerhalb der Arbeiterschaft unvermeidlich auch in die Gewerkschaft, in jede Ortsgruppe und jede Werkstätte getragen, dann entbrennt bei jeder Wahl, bei jeder Statutenberatung, bei jeder Ortsgruppengründung der nationale Streit. Wird die Zusammenfassung aller Kräfte der österreichischen Arbeiterschaft in einer einheitlich geleiteten, straff zentralisierten gewerkschaftlichen Organisation unter solchen Umständen möglich sein?

Freilich, noch bleibt ein Ausweg offen: die völlige Trennung der Gewerkschaften von der politischen Arbeiterbewegung. Aber gegen die Neutralisierung der Gewerkschaften sprechen in Österreich nicht nur die sehr gewichtigen Gründe, die in anderen Staaten gegen sie vorgebracht werden, sondern noch andere Erwägungen. In Österreich besteht ja stets die Gefahr, dass jeder sachliche und örtliche Gegensatz die Gestalt eines nationalen Kampfes annimmt und dadurch unüberbrückbar wird. Diese Gefahr können die Gewerkschaftler nur überwinden, wenn sie von sozialdemokratischem Geiste erfüllt sind, von Sozialdemokraten geleitet ^erden, die hinter der nationalen Hülle die sachlichen sozialen Gegensätze entdecken, die die nationalen Fragen innerhalb der Arbeiterschaft lösen, die Konstituierung des Proletariats als Klasse verwirklichen wollen. Diesen wichtigen Dienst kann aber den Gewerkschaften nur eine einheitliche sozialdemokratische Partei leisten, die die Massen von der Teilnahme an den Machtkämpfen des nationalen Bürgertums fernzuhalten, aus der Ideologie der nationalen Machtkämpfe loszulösen weiß. National verhetzte, von der kleinbürgerlich-nationalen Ideologie erfüllte Arbeiter sind zu friedlicher, zweckmäßiger Zusammenarbeit in der gewerkschaftlichen Organisation unfähig.

So führt unsere Untersuchung unvermeidlich zu einer klaren Schlussreihe: den Bedürfnissen des gewerkschaftlichen Kampfes ist nur die Zusammenfassung aller Kräfte der österreichischen Arbeiterklasse ohne Unterschied der Nationalität in einheitlich geleiteten Reichsorganisationen angemessen. Wer die Bildung und den Ausbau solcher Organisationen hemmt, erschwert den gewerkschaftlichen Kampf. Die internationalen Gewerkschaftsorganisationen werden sich aber nur dann ungestört entwickeln, nur dann die nationalen Schwierigkeiten überwinden können, wenn die Arbeiter aller Nationen in Österreich auch in einer einzigen Partei ihre politische Vertretung finden. Ob aber die österreichische Sozialdemokratie eine einheitliche Partei bleiben wird, hängt wiederum von ihrer Stellungnahme zu den nationalen Tagesfragen, von ihrer nationalen Taktik ab. Die Taktik der politischen Partei entscheidet auch über die Zukunft der gewerkschaftlichen Organisation. Entschließen wir uns zu einer Taktik, die die Einheit der Partei zerstört, auch die Arbeiter dem Einfluss der Stimmungen und Vorstellungen der nationalen Machtkämpfe unterwirft, dann werden wir nicht imstande sein, die nationale Spaltung der Gewerkschaften zu verhindern. Die Arbeiter Österreichs würden eine solche Entschließung mit einer Lohneinbuße von Millionen Kronen, mit vielen Tausenden Stunden Mehrarbeit bezahlen. Die Politik der nationalen Formen und Formeln würde den Kampf der Arbeiterklasse um höheren Anteil an der Kultur ihrer Nation hemmen, die Eingliederung der Arbeiterklasse in die nationale Kulturgemeinschaft, die Entwicklung des gesamten Volkes zur Nation verlangsamen.

Fußnoten

1. S. u. B. Webb, Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine, Stuttgart 1898, S.1ff., S.64ff.

2. Vergleiche die Erklärung der Prager Gewerkschaftskommission bei der gemeinsamen Konferenz in Brünn am 15. Oktober 1905. – Die Materialien zur Streitfrage sind gesammelt im Protokoll des außerordentlichen österreichischen Gewerkschaftskongresses, Wien 1905.

3. Man hat ähnliche Erfahrungen in anderen Ländern schon früher gemacht. So haben die schottischen und irischen Arbeiter vieler Gewerbe sich lange geweigert, sich den englischen Trade Unions anzuschließen, weil sie sich nicht „von England regieren lassen“ wollten. Erst seit 1889 ist es allen großen Gewerkvereinen Englands gelungen, ihren Wirkungskreis auch über Schottland und Irland auszudehnen. Vergleiche Webb, a.a.O., S.73ff.

4. Webb, a.a.O., S.83.

5. Über die Erfahrungen der englischen Maschinenbauer, Steinmaurer, Backsteinmaurer mit dem Prinzip der Autonomie innerhalb der Gewerkschaft vergleiche Webb, a.a.O., S.83ff.

6. Diese Gegensätzlichkeit besteht trotz der Solidarität aller proletarischen Interessen. Alle Bergarbeiter, ja alle Arbeiter Österreichs überhaupt, haben zum Beispiel ein eigenes Interesse daran, dass die Bergarbeiter des Ostrauer Reviers hohe Löhne beziehen. Alle österreichischen Arbeiter wünschen daher, dass in Ostrau möglichst viele und tüchtige Gewerkschaftsagitatoren und Organisatoren tätig sind. Trotzdem kann es sehr wohl geschehen, dass die Gesamtorganisation der Bergarbeiter es in einem bestimmten Augenblick für zweckmäßiger hält, die wertvollsten Kräfte der Union der Bergarbeiter einem anderen Revier zuzuwenden, während die Ostrauer Bergarbeiter ihr unmittelbares lokales Interesse lebhafter empfinden als das Gesamtinteresse, das mittelbar freilich auch ihr Interesse ist, und darum auch alle Kräfte der Gesamtheit in ihrem Revier konzentrieren möchten. Logisch sind die Interessen aller Arbeiter identisch: psychologisch bestehen zwischen ihnen vielfache Interessengegensätze, da das augenblickliche lokale Interesse stets lebhafter empfunden wird als das Gesamtinteresse, das sich erst nach Ablauf längerer Zeit als das wirkliche lokale Interesse jeder lokalen (oder nationalen) Gruppe erweist.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008