Otto Bauer

Die Arbeiterklasse
und die Teuerung

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Der Kampf gegen die Teuerung


Durch die Teuerung wird der Sachlohn der Arbeiter verringert. Die erste Antwort der Arbeiterklasse auf die Preissteigerungen ist daher stets die Forderung nach höherem Geldlohn, damit der Sachlohn wieder auf die frühere Höhe gehoben werde. Lohnforderungen der Arbeiter sind nicht die Ursache, wohl aber die Wirkung der Teuerung.

In jüngster Zeit ist die Forderung aufgetaucht, den Wirkungen der Teuerung auf die Lebenshaltung der Arbeiterklasse durch die Fortbildung der zwischen den Gewerkschaften und den Unternehmern abgeschlossenen Tarifverträge entgegenzuwirken. Es soll in die Tarifverträge die Bestimmung aufgenommen werden, daß der Geldlohn der Arbeiter automatisch steigt, wenn die Preise der wichtigsten Lebensrnittel erhöht werden. [5] Auf diese Weise würden also die Lasten der Teuerung von den Arbeitern auf die Unternehmer abgewälzt. Aber so nützlich ein solcher Ausbau der Tarifverträge wäre, ist doch die Hoffnung sehr gering, daß solche Tarifverträge auch nur für einen beachtenswerten Teil der Arbeiterschaft errungen werden könnten. Mit den Kartellen und Trusts, deren Preispolitik eine der Ursachen der Teuerung ist, erstarken ja auch die Unternehmerverbände, die den Gewerkschaften die vereinigte Kraft der Unternehmerschaft entgegensetzen. Die Arbeiter werden also immer erst in harten, opfervollen Kämpfen Lohnerhöhungen erzwingen müssen, die sie für die Verteuerung der Lebensmittel. entschädigen. Die erste Wirkung der Teuerung ist eine gewaltige Verschärfung des Klassengegensatzes zwischen Unternehmern und Arbeitern, die in der Verschärfung der gewerkschaftlichen Kämpfe ihren Ausdruck finden wird. Die erste aller Aufgaben, die die Teuerung uns auferlegt, ist die Stärkung unserer gewerkschaftlichen Organisationen. In einer denkwürdigen Aktion haben die österreichischen Gewerkschaften im Herbst 1909 Unternehmern und Arbeitern diese Bedeutung der Teuerung in Erinnerung gerufen.

Auf den Lohnkampf beschränkt sich aber die Aktion der Arbeiterklasse nicht. Durch den Ausbau der Konsumvereine sucht sie eine Machtorganisation zu schaffen, die den Zwischenhandel ausschalten und den unmittelbaren Kampf um die Preisbestimmung mit den Produzentenorganisationen aufnehmen soll. Die bürgerliche Welt fürchtet bereits den erstarkenden Feind. Heute rufen schon die Kleinhändler, und morgen werden auch die Großhändler nach Zwangsgesetzen gegen die Konsumvereine rufen. Und wenn sich heute die Bäckermeister über die Hammerbrotwerke aufregen, so werden sehr bald vielleicht Kartelle reicher Industrieller die gefährliche Konkurrenz der Eigenbetriebe unserer Konsumentenorganisationen fürchten. Auch durch die Entwicklung der Konsumvereine werden die Klassengegensätze verschärft. [6]

Gleichzeitig sucht die Arbeiterklasse auch durch ihre politische Aktion der Teuerung entgegenzuwirken.

In Österreich wird die Möglichkeit, durch Maßnahmen der Gesetzgebung und Verwaltung der Teuerung entgegenzuwirken, von breiten Bevölkerungsschichten zu hoch eingeschätzt. Unsere Bevölkerung ist gewöhnt, von einer vor kurzem noch überaus mächtigen Bürokratie am Gängelbande geführt zu werden; sie meint darum, die Bürokratie sei allmächtig, es sei in ihrer Macht gelegen, die Preise zu bestimmen. Die Festsetzung der Warenpreise durch die Behörden war ja in der Tat möglich, solange sich das Wirtschaftsleben im Rahmen einer kleinen Stadt oder eines kleinen Bezirkes abspielte. Heute aber ist die ganze Erde ein einziger Markt. Die Preise der Waren werden durch den Weltmarktpreis ausländischer Rohstoffe, durch die Preise konkurrierender ausländischer Waren, durch die täglichen Schwankungen der Weltkonjunktur beeinflußt. Diesem täglichen Auf und Ab gegenüber, dessen Schauplatz die ganze Erde ist, versagt die Kraft der Bürokratie. Der beste Wille der Beamten steht hilflos den komplizierten Kalkulationen gerissener Händler und Produzenten gegenüber. An dieser Tatsache scheitern alle Versuche behördlicher Preisfestsetzung; nur in verhältnismäßig seltenen Fällen können sie zu Erfolgen führen. [7] Das gilt natürlich auch vom Kleinhandel: kann der Staat Industriellen, Landwirten und Großhändlern den Preis nicht diktieren, so würde der Kleinhandel mit Waren, für die niedrige Preise durch die Behörden festgesetzt würden, überhaupt nicht handeln. Nur dort, wo durch kartellartige Preisverabredungen die Kleinhandelspreise hoch über die Großhandelspreise hinaufgetrieben werden, ist die Festsetzung von Höchstpreisen für den Kleinverschleiß möglich. Nur für diesen Fall wurde die Anwendung des § 51 der Gewerbeordnung in den Anträgen Schrammel und Hanusch gefordert. Ebenso aussichtslos wie die Festsetzung von Höchstpreisen durch die Behörden sind auch die anderen Versuche, durch besondere Gesetze die Bildung von Kartellen zu hindern; das amerikanische Beispiel beweist, daß Gesetze, die die Verbindung selbständiger Unternehmungen durch Kartellverträge verhindern oder erschweren, nur die völlige Verschmelzung dieser Unternehmungen zu Trusts beschleunigen.

Sind aber auch die Versuche, die Preise durch unmittelbares Staatsgebot zu regeln, aussichtslos, so bleiben doch dem Staate Mittel genug, die Preise mittelbar zu beeinflussen. Zu diesem Zwecke müssen wir vor allem die Kartellschutzzölle und die Agrarzölle beseitigen, die Eisenbahn- und Schiffahrtstarife revidieren, alle Zweige

unseres Steuersystems und unseres Verwaltungsrechtes in den Dienst einer die Ergiebigkeit der Arbeit fördernden Wirtschaftspolitik stellen. Jeder Versuch der Arbeiterklasse, auf diesem Boden Erfolge zu erzielen, stößt freilich auf den erbitterten Widerstand der an der Teuerung interessierten Klassen. Auch der politische Kampf gegen die Teuerung führt zur Verschärfung der Klassengegensätze.

Es wird lange währen, bis wir auf diesem Boden Erfolge erringen können. Der Rahmen unserer Zollgesetzgebung ist bis zum Jahre 1917 durch den Ausgleich mit Ungarn und die Handelsverträge festgelegt. Unsere hohen Eisenbahntarife sind die Folge alter Sünden der Verkehrspolitik. Unser Steuersystem kann nicht umgestaltet werden, solange es uns nicht gelingt, den Militarismus zur Bescheidenheit zu erziehen. Wir dürfen darum nicht erwarten, daß die politische Aktion gegen die Teuerung uns sofort fühlbare Erfolge bringt. Wir haben auch um jeden Fortschritt der Demokratie und der Arbeiterschutzgesetzgebung jahrelang ringen müssen. Wirksame Maßregeln gegen die Teuerung werden wir erst in jahrelanger politischer Arbeit erkämpfen müssen.

Aber so groß die Erfolge auch sind, die uns solche Arbeit bringen kann, so ist auch ihnen eine Grenze gesetzt. Das beste, was wir erringen können, ist doch nur dies, daß die Warenpreise im Inland nicht durch das Eingreifen des Staates noch über die Weltmarktpreise hinaufgetrieben werden. Die hohen Weltmarktpreise selbst aber entziehen sich ganz der Einwirkung der Gesetzgebung. Ihre Ursachen liegen in den Grundtatsachen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Wie die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, wie die Arbeitslosigkeit und die Wirtschaftskrisen, so wird auch die periodische Wiederkehr von Zeiten der Teuerung erst mit dem Sondereigentum an den Arbeitsmitteln verschwinden. Je schwerer wir unter der Teuerung leiden, je deutlicher wir erkennen, daß der Wirksamkeit aller Zweige der proletarischen Bewegung, der gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen ebenso wie der politischen, durch die Natur der kapitalistischen Gesellschaftsordnung Grenzen gesetzt sind, je mehr sich im Kampfe gegen die Teuerung die Klassengegensätze verschärfen, desto deutlicher wird uns offenbar daß die Arbeiterklasse unter der Herrschaft des Kapitalismus nicht leben, daß sie den Kapitalismus nicht ertragen kann. Der Kampf um die kleinen Gegenstände des Alltags endet in dem großen Entscheidungskampfe, in dem auf den Trümmern der bürgerlichen Gesellschaft eine neue Welt erstehen wird. Der Kampf gegen die Teuerung endet in der sozialen Revolution.

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Fußnoten

5. Adolf Braun, Lebensmittelteuerung und Gewerkschaftsbewegung in: Der Kampf, III., Seite 177 ff.

6. Auf dem Zusammenwirken der Konsumenten beruht auch die Anwendung des Boykotts als eines Kampfmittels gegen Preiserhöhungen. Der Erfolg hängt natürlich von der Disziplin der Arbeiter, von der Kraft ihrer Organisation, von der wirtschaftlichen Macht der Gegner, von dem Grade der Ersetzbarkeit und Entbehrlichkeit der boykottierten Ware auf der einen, ihrer Aufbewahrbarkeit auf der anderen Seite ab. Vgl. Braun, Der Boykoott. in: Der Kampf, II., Seite 408 ff.

7. Vgl. Otto Bauer, Der Staat und die Kartelle, in: Der Kampf, II., Seite 73 ff.

 


Leztztes Update: 19. Februar 2023