Otto Bauer

Das Eingreifen des Staates in die Preisbestimmung

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Zolltarife und Handelsverträge


Jeder Staat setzt zunächst durch seine eigene Gesetzgebung seine Zollpolitik fest. Das Verzeichnis der Zölle, die von den einzelnen Waren eingehoben werden, heißt man Zolltarif. Und da dieser Zolltarif durch die Eigengesetzgebung des einzelnen Staates, unabhängig von den Wünschen anderer Staaten, festgesetzt wird, heißt er autonomer Zolltarif (Autonomie = Eigengesetzgebung).

Nun zeigt es sich aber, daß auf unseren autonomen Zolltarif, der die Einfuhr ausländischer Waren nach Österreich-Ungarn erschwert, andere Staaten gleichfalls mit autonomen Zolltarifen antworten, die wieder die Einfuhr unserer Waren in ihr Gebiet erschweren. Darüber beginnen nun unsere Unternehmer zu klagen, die auf die Ausfuhr unserer Waren in fremde Staaten nicht verzichten können. Daher muß unsere Regierung mit den Regierungen anderer Staaten verhandeln. Die Verhandlungen führen zu einem Vertrag, in dem sich unsere Regierung bereit erklärt, unsere Zölle für fremde Wären zu ermäßigen, wofür sich wieder die anderen Staaten bereit erklären, ihre Zölle für österreichische und ungarische Waren herabzusetzen. Ein solcher Vertrag heißt Handelsvertrag. Der autonome Zolltarif gilt jetzt nur so weit, als er nicht durch die Handelsverträge aufgehoben ist. Er gilt jedoch seinem vollen Inhalt nach im Handelsverkehr mit Staaten, mit denen wir keine Handelsverträge abgeschlossen haben. Im Handelsverkehr mit den anderen Staaten werden die durch den autonomen Zolltarif festgestellten Zollsätze nur von jenen Waren eingehoben, für welche nicht durch Handelsverträge geringere Zollsätze vereinbart wurden.

So hat zum Beispiel der österreichische autonome Zolltarif vom Jahre 1906 einen Weizenzoll von 7,50 Kronen für den Zentner Weizen festgesetzt. Durch Handelsverträge haben wir dann aber vielen Staaten versprochen, von ihrem Weizen einen Zoll von nur 6,30 Kronen für den Zentner einzuheben. Der Zoll von 7,50 Kronen wird also nur von dem Weizen jener Länder eingehoben, mit denen wir noch keinen Handelsvertrag abgeschlossen haben. So zahlt zum Beispiel russischer Weizen nach dem Handelsvertrag einen Zoll von 6,30 Kronen, während argentinischer Weizen 7,50 Kronen zahlen muß, weil wir mit diesem Lande keinen Handelsvertrag abgeschlossen haben.

Die Handelsverträge selbst sind wiederum verschiedener Art. Es gibt Handelsverträge, die ein Verzeichnis der Zollsätze enthalten, die von bestimmten Waren eingehoben werden sollen. Ein solches Verzeichnis nennt man einen Vertragszolltarif. In einem solchen Vertragszolltarif ist also zum Beispiel die ausdrückliche Bestimmung enthalten, daß Weizen mit einem Zoll von 6,30 Kronen für den Zentner belegt wird. Es gibt aber auch Handelsverträge, die keinen Vertragszolltarif enthalten, sondern nur die Bestimmung, daß der eine Staat den anderen bei der Einfuhr seiner Waren nicht ungünstiger behandeln wird als andere Staaten. Solche Verträge nennt man Meistbegünstigungwerträge. So hat zum Beispiel Bulgarien mit Osterreich-Ungarn einen Meistbegünstigungsvertrag abgeschlossen. Da nun Bulgarien mit dem Deutschen Reich einen Vertragszolltarif vereinbart hat, der die Zölle für einige Industrieprodukte niederer festsetzt als der autonome Zolltarif Bulgariens, so müssen auch die österreichischen Fabrikanten bei der Einfuhr ihrer Waren nach Bulgarien nicht mehr die hohen Zölle des bulgarischen autonomen Zolltarifs, sondern die geringeren Zollsätze des zwischen Bulgarien und dem Deutschen Reich vereinbarten Vertragszolltarifs entrichten, da sich Bulgarien durch den Meistbegünstigungsvertrag verpflichtet hat, österreichische Waren nicht weniger günstig zu behandeln als reichsdeutsche. Doch sind die Meistbegünstigungsverträge nur ein unvollkommener Ersatz für Zolltarifverträge. Das Deutsche Reich hat natürlich von Bulgarien Zollermäßigungen für jene Waren erlangt, an deren Ausfuhr die reichsdeutsche Industrie ein großes Interesse hat. Die österreichische Industrie erzeugt andere Waren und möchte diese nach Bulgarien ausführen. Für die Spezialitäten der österreichischen Industrie ist aber natürlich in dem deutsch-bulgarischen Vertragszolltarif nicht gesorgt. Von diesen Waren müssen unsere Fabrikanten daher immer noch die hohen Zölle des bulgarischen autonomen Zolltarifs entrichten, wenn sie sie nach Bulgarien ausführen wollen. Daher genügt unserer Industrie der Meistbegünstigungsvertrag mit Bulgarien nicht mehr. Sie verlangt, daß Osterreich-Ungarn mit Bulgarien einen Zolltarifvertrag abschließe, durch welchen den Spezialitäten der österreichischen Industrie niedrigere Zollsätze zugestanden werden sollen.

Eine besondere Rolle in dem System unserer Wirtschaftsgesetzgebung spielt die Regelung des Handelsverkehrs mit Vieh, Fleisch und tierischen Produkten. Jeder Staat setzt zunächst durch seine autonome Tierseuchengesetzgebung die Bedingungen fest, unter denen er die Einfuhr von Vieh, Fleisch und anderen tierischen Produkten gestattet. Nun wollen aber diejenigen Staaten, die an der Ausfuhr von Vieh ein großes Interesse haben, nicht von der Willkür der Gesetzgebung der Länder, die Vieh einführen, abhängig sein. Daher wird auch der Viehverkehr durch besondere Verträge, die sogenannten Veterinärkonventionen, geregelt. Die Veterinärkonventionen verhalten sich zur autonomen Tierseuchengesetzgebung wie die Handelsverträge zum autonomen Zolltarif. Wie wichtig diese Veterinärkonventionen sind, zeigt die Geschichte unserer Handelsbeziehungen zu den Balkanstaaten.

Jahrzehntelang hat unser Handel mit Rumänien darunter gelitten, daß die österreichische Regierung die Einfuhr von Vieh aus Rumänien nach Österreich verbot. Da Österreich dem rumänischen Vieh seine Grenze sperrte, verwehrte Rumänien unseren Industrieprodukten den Zugang zu seinen Märkten. Trotzdem hält die österreichische Regierung auch heute noch das Verbot der Vieheinfuhr aufrecht. Doch har sie sich entschlossen, wenigstens eine kleine Menge Fleisch aus Rumänien einführen zu lassen. Am 23. April 1909 wurde eine Veterinärkonvention zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien abgeschlossen. Nach diesem Vertrage wird Rumänien gestattet, im ersten Jahre das Fleisch von 10.000 Rindern und 50.000 Schweinen, in jedem folgenden Jahre etwas mehr, schließlich vom siebenten Jahre an das Fleisch von 35.000 Rindern und 120.000 Schweinen, außerdem in jedem Jahre das Fleisch von 100.000 Schafen nach Österreich-Ungarn einzuführen. Durch dieses Zugeständnis der österreichischen Regierung wurde die Abschließung eines Handelsvertrages zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien ermöglicht, durch den Rumänien die Zölle für viele österreichische Industrieprodukte ermäßigte. Obwohl die Steigerung unserer Warenausfuhr nach Rumänien vielen arbeitslosen Arbeitern in Österreich Arbeit schaffen sollte und obwfl sich die Regierung bereit erklärte, die erbosten Viehzüchter und Viehmäster durch das Gesetz über die Förderung der Viehzucht und Viehverwertung zu entschädigen, das den Agrariern Staatsubventionen im Betrage von sechs Millionen Kronen jährlich zusichert, setzten die Agrarier dem rumänischen Vertrage einen erbitterten Widerstand entgegen. Die tschechischen Agrarier machten seine Verhandlung durch ihre Obstruktion unmöglich. Erst durch eine Änderung des Geschäftsordnungsgesetzes im Dezember 1909 wurde die Verhandlung des Vertrages ermöglicht. Er wurde schließlich gegen die Stimmen der Agrarier aller Nationen angenommen.

In Österreich-Ungarn wurden von 1901 bis 1905 jährlich durchschnittlich 2.185.787 Rinder und 4.226.537 Schweine in öffentlichen Schlachthäusern geschlachtet. Vergleichen wir die Mengen Fleisch, die aus Rumänien eingeführt werden dürfen, mit diesen Zahlen, dann erscheint die zugelassene Einfuhr so klein, daß man wohl kaum erwarten darf, daß sie die Fleischpreise fühlbar ermäßigen werde. [7] Was bedeuten 35.000 rumänische Rinder neben den 2.185.787, die in unseren Öffentlichen Schlachthäusern geschlachtet

werden. Die Fleischpreise würden nur dann fühlbar sinken, wenn auch anderen Staaten ähnliche Zugeständnisse gewährt würden wie Rumänien.

In der Tat hat Österreich-Ungarn schon am 14. März 1908 einen ähnlichen Vertrag mit Serbien abgeschlossen. Nach diesem Vertrage sollte die Einfuhr des Fleisches von 35.000 Rindern und 70.000 Schweinen aus Serbien nach Österreich-Ungarn gestattet werden. Gleichzeitig schloß Serbien mit Österreich-Ungarn einen Zolltarifvertrag ab, durch den es seine Zölle für österreichische Industrieprodukte ermäßigte. Für diesen Vertrag sprachen nicht nur die Interessen unserer Fleischkonsumenten, unserer Industrie, unserer Arbeitslosen, sondern auch Erwägungen der auswärtigen Politik. Wenn Österreich durch die Grenzsperre dem serbischen Bauern seinen wertvollsten Markt raubt, züchtet es ja den Haß gegen Österreich in Serbien. Wie gefährlich diese feindliche Stimmung im serbischen Bauernvolk ist, hat die Kriegsgefahr im März 1909 bewiesen. Trotzdem hat die Profitgier der Agrarier den serbischen Handelsvertrag zu Fall gebracht. Am 26. März 1909 wurde im Abgeordnetenhaus das sogenannte Ermächtigungsgesetz beraten. Durch dieses Gesetz sollte die Regierung ermächtigt werden, den Zolltarifvertrag und die Veterinärkonvention mit Serbien, die von der Regierung bereits provisorisch in Kraft gesetzt worden waren, auch weiter in Wirksamkeit zu lassen. Da stellte nun der christlichsoziale Abgeordnete Mayr den Antrag, die Regierung zu ermächtigen, mit Serbien bloß einen Meistbegünstigungsvertrag, also keinen Zolltarifvertrag und keine Veterinärkonvention, abzuschließen. Der sozialdemokratische Abgeordnete Seitz erklärte, ein Handelsvertrag mit Serbien werde nicht zustande kommen, wenn nicht zugleich eine Veterinärkonvention abgeschlossen würde, und er beantragte daher, die Regierung zur Abschließung nicht nur eines Meistbegünstigungsvertrages, sondern eines Handelsvertrages, der auch einen Vertragszolltarif und eine Veterinärkonvention einschließen könnte, zu ermächtigen. Der christlichsoziale Handelsminister Weiskirchner und der deutschfortschrittliche Abgeordnete Licht sprachen sich aber für den Antrag Mayr, gegen den Antrag Seitz aus. Infolgedessen wurde der Antrag Seitz nicht nur von den Agrariern, sondern auch von allen bürgerlichen Städtevertretern abgelehnt. Die Folge war das Scheitern der Handelsvertragsverhandlungen mit Serbien. Die hohen Zollsätze des autonomen serbischen Zolltarifs verhindern nun wieder das Endringen von österreichischen Industrieprodukten nach Serbien. Erst im Dezember 1909 gab dann das Parlament endlich der Regierung die Ermächtigung, die im März Seitz beantragt und Weiskirchner abge-iehnt hatte. Es scheint aber, daß der christlichsoziale Handelsminister sich auch jetzt noch dem agrarischen Kommando beugen und keine Fleischeinfuhr aus Serbien zulassen will. Weigert sich Österreich, eine Veterinärkonvention mit Serbien abzuschließen, dann schließt natürlich auch Serbien keinen Zolltarifvertrag mit uns ab. Es wird dann bestenfalls ein Meistbegünstigungsvertrag zustande kommen, der die Ausfuhr unserer Industrieprodukte nach Serbien viel weniger begünstigen würde als der Zolltarifvertrag vom 14. Mai 1908.

So ist der internationale Warenaustausch durch ein großes kompliziertes System von Gesetzen und Staatsverträgen geregelt. Und welches Feilschen, welcher Schacher, so oft diesem System ein neues Glied eingeschaltet werden soll. Zuerst der Kampf der Interessentengruppen im Inlande: Jede Interessentengruppe fordert für ihre Ware hohen Zoll; die Verbraucher wehren sich dagegen; nach langen Kämpfen in den verschwiegenen Zimmern der Ministerien und in den öffentlichen Verhandlungen des Parlaments und seiner Ausschüsse, nach einer lebhaften Agitation, an der sich Unternehmerverbände, Handelskammern, Genossenschaften beteiligen, und in der die bürgerlichen Parteien sich als Vertreter der entgegengesetztesten Interessen gebärden müssen, kommt endlich ein Kompromiß zustande. Welche Arbeit, ehe der autonome Zolltarif mit seinen paar Tausend Zollsätzen für die einzelnen Warengattungen aus einer Unzahl solcher Kompromisse zusammengekleistert worden ist. Welche Aufregung, da doch von jedem der paar Tausend Zollsätze abhängt, welchen Profit die Erzeuger der Ware erzielen, welche Last ihren Verbrauchern aufgebürdet werden soll. Welche Heuchelei, da doch jede Unternehmergruppe den Schutz der vaterländischen Arbeit predigt, um für ihre Ware hohe Zölle zu erlangen, und doch zugleich vom Segen der internationalen Arbeitsteilung schwärmt, damit die Waren, die sie kaufen muß, ihr nicht durch Zölle verteuert werden. Welche Quelle der Korruption, da jede Krone Zoll für die Unternehmer Millionengewinne bedeuten kann, die kleine Geifälligkeiten an Sektionschefs und Abgeordnete reichlich aufwiegen. Und wenn der Schacher zu Hause fertig ist, beginnt erst das Feilschen mit den Vertretern des Auslandes. Was redet alles auf die armen Beamten ein, die sich mit den Vertretern der fremden Staaten zusammensetzen, um Handelsverträge zu vereinbaren: Aus der Heimat schreien die Interessenten, und immer ist dem einen zwingende Notwendigkeit, wovon der andere das Verderben des lieben Vaterlandes erwartet. Und in all das redet jetzt noch die zünftige Diplomatie hinein, der wirtschaftliche Zugeständnisse nicht mehr als ein Kaufpreis für politische Konzessionen an dynastische oder militärische Interessen sind, und die mächtige Großfinanz, der eine fette Staatsanleihe mehr wert ist als ein Warenverkehr, der Tausenden Arbeitsgelegenheit gibt. Und doch ist all das unvermeidlich und unentbehrlich in unserer kapitalistischen Welt. In den Handelsverträgen setzt sich trotz alledem schlecht und recht die Notwendigkeit des internationalen Warenaustausches gegen die Selbstsucht der schutzzöllnerischen Profitinteressen durch, die in der autonomen Zollgesetzgebung sich ihre Burgen geschaffen haben.

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Fußnote

7. Vgl. Der serbische Handelsvertrag — Ein Sieg der Agrarier, Wien 1908.

 


Leztztes Update: 18. Februar 2023