Otto Bauer

Der Weg zum Sozialismus




2. Die Vergesellschaftung der Großindustrie


Die Sozialisierung der Volkswirtschaft muss mit der Schwerindustrie beginnen: der Kohlen- und der Erzbau, die Eisen- und Stahlindustrie werden zuerst vergesellschaftet, werden müssen. Das sind die Industriezweige, deren Sozialisierung am leichtesten durchgeführt werden kann; denn in diesen Industriezweigen ist die Produktion längst schon in wenigen Riesenunternehmungen konzentriert, die unschwer von einer Stelle aus geleitet werden können. Und das sind zugleich auch diejenigen Industriezweige, deren Sozialisierung am dringlichsten notwendig ist; denn wer über Kohlen und Eisen verfügt, beherrscht die ganze Industrie.

Die Sozialisierung beginnt mit der Enteignung: der Staat erklärt durch sein Gesetz die bisherigen Eigentümer der Schwerindustrie ihres Eigentums für verlustig. Die bisherigen Eigentümer müssen entschädigt werden; denn es wäre unbillig, die Aktionäre der Kohlegruben und der Eisenwerke ihres Eigentums zu berauben, solange alle anderen Kapitalisten im Besitz ihres Eigentums bleiben. Aber den Entschädigungsbetrag, den der Staat den bisherigen Eigentümern der Schwerindustrie bezahlen muss, soll die Gesamtheit der Kapitalisten und der Grundherren bezahlen. Zu diesem Zweck hebt der Staat von allen Kapitalisten und Grundherren eine progressive Vermögensabgabe ein, deren Erträgnis dazu verwendet wird, die enteigneten Aktionäre der Schwerindustrie zu entschädigen. Den enteigneten Aktionären geschieht also kein Unrecht: ihre Betriebe werden ihnen zu ihrem vollen Werte abgelöst und von ihrem Vermögen verlieren sie nur den Teil den sie ganz so wie alle anderen Kapitalisten als Vermögensabgabe entrichten müssen. Das arbeitende Volk aber kommt umsonst in den Besitz der Schwerindustrie; denn nicht das Volk, sondern die Kapitalistenrasse bringt den Entschädigungsbetrag auf.

Wer soll nun die vergesellschaftete Industrie verwalten? Die Regierung? Durchaus nicht! Wenn die Regierung alle möglichen Betriebe beherrschte, dann würde sie dem Volk und er Volksvertretung gegenüber allzu mächtig; solche Steigerung der Macht der Regierung wäre der Demokratie gefährlich. Und zugleich würde die Regierung die vergesellschaftete Industrie schlecht verwalten; niemand verwaltet Industriebetriebe schlechter als der Staat. Deshalb haben wir Sozialdemokraten nie die Verstaatlichung, immer nur die Vergesellschaftung der Industrie gefordert. Aber wer denn soll die vergesellschaftetet Industrie leiten, wenn es nicht die Regierung tun soll?

Heute wird der industrielle Großbetrieb von einem Verwaltungsrat beherrscht, der von den Aktionären gewählt wird. Auch in Zukunft wird jeder vergesellschaftete Industriezweig von einem Verwaltungsrat geleitet werden; aber dieser Verwaltungsrat wird nicht mehr von den Kapitalisten gewählt werden, sondern von den Vertretern derjenigen Gesellschaftskreise, deren Bedürfnisse der sozialisierte Industriezweig fortan befriedigen soll. Wer hat nun an der Leitung des sozialisierten Industriezweiges ein Interesse? Erstens die Arbeiter, Angestellten und Beamten, die in diesem Industriezweig arbeiten; zweitens die Konsumenten, die die Erzeugnisse dieses Industriezweiges brauchen, und drittens der Staat als Vertreter der Gesamtheit des Volkes. Daher wird man den Verwaltungsrat jedes vergesellschafteten Industriezweiges ungefähr in folgender Weise zusammensetzen: Ein Drittel der Mitglieder des Verwaltungsrates wird von den Gewerkschaften der Arbeiter und von den Organisationen der Angestellten, die in diesem Industriezweig beschäftigt sind, bestimmt. Ein zweites Drittel der Mitglieder des Verwaltungsrates bilden die Vertreter des Konsumenten. Es werden also zum Beispiel in den Verwaltungsrat des Kohlenbergbaues Vertreter der Konsumenten teils von den Konsumvereinen als den Organisationen der Verbraucher von Hausbrandkohle, teils von den Industriellenorganisationen als den Organisationen der Verbraucher von Industriekohle gewählt werden. Das dritte Drittel der Verwaltungsratsmitglieder endlich bilden die Vertreter des Staates. Sie werden zum Teil vom Staatssekretär für Finanzen ernannt, damit die Interessen des Staatsschatzes vertreten seien, zum anderen Teil aber von der Nationalversammlung gewählt, damit auch die allgemeinen volkswirtschaftlichen Interessen ihre Vertretung finden. Die Vertreter der Arbeiter und Angestellten auf der einen, die der Konsumenten auf der anderen Seite haben entgegengesetzte Interessen wahrzunehmen; denn jene werden hohe Löhne, diese niedrige Preise wünschen. Die Vertreter des Staates werden als Vermittler und Schiedsrichter zwischen den beiden Parteien stehen.

Dem auf diese Weise zusammengesetzten Verwaltungsrat wird die oberste Leitung des Industriezweiges zustehen: Die Ernennung der leitenden Beamten, die Festsetzung der Warenpreise, die Abschließung der kollektiven Arbeitsverträge mit den Gewerkschaften und den Angestelltenorganisationen, die Verfügung über den Reingewinn und die Entscheidung über größere Investitionen. Besondere Vorkehrungen werden notwendig sein, damit die Verwaltungsräte bei der Ernennung der leitenden Beamten nicht aus persönlicher Gunst oder politischen Beweggründen entscheiden, sondern die tüchtigen Techniker, Ingenieure, Chemiker erwählen. Dafür wird am zweckmäßigsten in folgender Weise vorgesorgt werden könne: Die Lehrkörper der technischen Hochschulen und die leitenden technischen Beamten der gesamten Industrie bilden ein Kollegium; dieses Kollegium hat vor jeder Ernennung einen leitenden technischen Beamten in einem vergesellschafteten Industriezweig seine Vorschläge zu erstatten; der Verwaltungsrat des Industriezweiges ernennt dann eine der vorgeschlagenen Personen. Ähnlich wie heute die Universitätskollegiums ernannt werden, sollen also die Direktoren der vergesellschafteten Betriebe vom Verwaltungsrat auf Vorschlag eines Kollegiums der führenden Techniker des ganzen Landes ernannt werden. Unter der Aufsicht der auf diese Weise bestellten Direktoren werden wie bisher auch in Zukunft technische und kaufmännische Angestellte die Betriebe verwalten; jede Bureaukratisierung der Verwaltungsorganisation muss unbedingt vermieden werden.

In welcher Weise Arbeiterausschüsse an der Verwaltung der einzelnen Betriebe mitwirken werden, werden wir in einer späteren Abhandlung zeigen.

Die Vergesellschaftung hat einen doppelten Zweck; sie soll einerseits die Lage der Arbeiter und Angestellten, die in dem zu vergesellschafteten Industriezweig selbst arbeiten, verbessern; sie soll andererseits der Volksgesamtheit die Einkünfte zur Verfügung stellen, die bisher den Kapitalisten zugeflossen sind. Daraus ergibt sich, wie der Reingewinn der vergesellschafteten Industriezweige verteilt werden muss. Ein Teil des Reingewinns wird selbstverständlich in jedem Jahre dazu verwendet werden müssen, den Produktionsapparat des Industriezweiges auszugestalten und zu vervollkommnen. Der Rest des Reingewinns aber wird geteilt werden zwischen dem Staat einerseits, den Arbeitern, Angestellten und Beamten, die in den Industriezweig beschäftigt sind, andererseits. Allen Personen, die in dem vergesellschafteten Industriezweig beschäftigt sind, wird ein Anspruch auf einen Anteil am Reingewinn zustehen; dadurch wird ihr Arbeitseifer gehoben, ihre Arbeitsintensität vergrößert werden.

Auf diese Weise durchgeführt, wird die Vergesellschaftung der Schwerindustrie dem ganzen Volke frommen. Sie wird dem Staat neue Einkünfte erschließen, ohne die Verbraucher zu belasten. Sie wird den Arbeitern, Angestellten und Beamten der Schwerindustrie Einfluss auf die Leitung der Industrie und einen Anteil an ihrem Reingewinn sichern. Sie wird den Konsumenten der Kohle und des Eisens Einfluss auf die Produktion dieser Güter geben. Bei alldem wird der technische Fortschritt der Industrie nicht gehemmt, die Arbeitsintensität gesteigert werden, also auch die Produktionskosten gesenkt werden.

Aber nicht für alle Produktionszweige eignet sich diese Form der Vergesellschaftung. Bei manchen Industriezweigen wird man anders verfahren: der Staat wird sie enteignen und sie der Großeinkaufsgesellschaft der Konsumvereine oder den Verbänden landwirtschaftlicher Genossenschaften verpachten. So wird der Staat zum Beispiel Seifen- und Kerzenfabriken der Konsumentenorganisation, Kunstdüngerfabriken den landwirtschaftlichen Genossenschaften verpachten. Im Pachtvertrag wird nicht nur der Pachtzins festgesetzt werden, den die pachtenden Genossenschaften dem Staatschatz entrichten müssen, sondern auch den Arbeitern und Angestellten der verpachteten Industriebetriebe Einfluss auf ihre Verwaltung und Anteil an ihrem Reingewinn gesichert werden.

Wieder andere Betriebe können am zweckmäßigsten durch die Bezirke und Gemeinden vergesellschaftet werden. Der Staat wird den Bezirks- und den Gemeindevertretungen, die selbstverständlich auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes gewählt werden, das Recht einräumen, Industriebetriebe, die den lokalen Bedürfnissen dienen, zu kommunalisieren: so zum Beispiel Straßen- und Lokalbahnen, Fuhrwerksunternehmen, Elektrizitätswerke, Mühlen, Molkereien, Brauereien, Ziegelwerke und dergleichen. Die Entschädigung der bisherigen Eigentümer wird in diesem Falle freilich anders geregelt werden müssen als bei der Vergesellschaftung durch den Staat; denn Bezirke und Gemeinden können Vermögensabgaben nicht einheben, weil das Kapital aus den Gemeinden und Bezirken, die das täten, abströmen würde. Der Staat wird daher die Eigentümer der zu kommunalisierenden Betriebe verpflichten müssen, als Entschädigung Inhaberpapiere anzunehmen, die die Inhaber zum Bezug eines festen Zinses aus dem Ertrag der kommunalisierten Betriebe berechtigen. Den Gemeinden und Bezirken wird das Recht zustehen, die in dieser Form aufgenommene Schuld binnen zwanzig oder dreißig Jahren zu tilgen. Nach Ablauf dieser Frist werden dann die kommunalisierten Betriebe mit keinem Tribut an privates Kapital mehr belastet sein.

So werden also verschiedene Industriezweige in verschiedener Weise vergesellschaftet werden können. Sehr viele Industriezweige aber sind zur Sozialisierung überhaupt nicht reif. Wir werden sie vorerst noch nicht sozialisieren können, sondern erst organisieren müssen, um ihre spätere Vergesellschaftung vorzubereiten.

In ähnlicher Weise wie viele Industriezweige können übrigens auch einzelne Zweige des Handels vergesellschaftet werden. Der Staat wird zum Beispiel, wenn erst auf dem Weltmarkt normale Verhältnisse wiederhergestellt sein werden, den Großhandel mit Kaffee, Kakao, Tee, Baumwolle unschwer vergesellschaften können. Demselben Verwaltungsrat, der den inländischen Kohlebergbau leitet, wird der Staat auch die Einfuhr ausländischer Kohle übertragen können. Den Gemeinden wird der Staat das Recht zugestehen können, die großen Warenhäuser zu kommunalisieren und manche kapitalistische Handelsbetriebe, zum Beispiel die der Viehkommissionäre, zwangsweise zu übernehmen.

 


Zuletzt aktualisiert am 28.7.2007