Otto Bauer

Der Weg zum Sozialismus




4. Die Arbeiterausschüsse


Die Demokratie im Staate ist noch nicht verwirklicht, wenn die oberste Gesetzgebungsgewalt einem aus allgemeinem und gleichem Wahlrecht hervorgegangenen Parlament übertragen ist. Vielmehr erfordert die Demokratie auch, dass die lokale Verwaltung in Land, Bezirk und Gemeinde demokratischen Vertretungskörperschaften übertragen wird. Ganz ebenso ist eine demokratische Wirtschaftsverfassung noch nicht verwirklicht, wenn jeder Industriezweig von einem Verwaltungsrat regiert wird, der aus Bevollmächtigten der Volksvertretung, der Konsumenten und der Arbeiterschaft zusammengesetzt ist. Vielmehr erfordert die wirtschaftliche Demokratie auch, dass die lokale Verwaltung des einzelnen Industriebetriebes demokratisiert wird. Wie die freie Gemeinde die Grundlage des freien Staates ist, so ist die demokratische Betriebsverfassung die Grundlage der demokratischen Organisation der Gesamtindustrie.

Wo die Gewerkschaften Macht gewonnen haben, sind die Grundlagen der demokratischen Betriebsverfassung längst schon gelegt. Der Absolutismus des Unternehmers ist durch die Macht in der Gewerkschaft gebrochen worden. Der Unternehmer musste die Macht in der Werkstätte mit den Vertrauensmännern der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft teilen, ganz ähnlich wir der Monarch im Staate seine Macht mit dem Parlament teilen musste.

Aber die Teilnahme der Vertrauensmänner der Arbeiterschaft an der Regierung der Fabrik ist nur ein tatsächlicher, kein rechtlicher geregelter Zustand. Es handelt sich darum, diesen tatsächlichen Zustand nun auch in die Rechtsordnung einzuführen, ihn gesetzlich zu regeln und damit aller Willkür der Unternehmer, allen Schwankungen der Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit zu entziehen. Zu diesem Zweck müssen in allen Gewerbe-, Landwirtschafts-, Handels- und Verkehrsbetrieben, in denen mehr als zwanzig Arbeiter beschäftigt sind, Arbeiterausschüsse gewählt werden. Das Wahlverfahren und die Rechte der Arbeiterausschüsse müssen durch Gesetz geregelt werden. Das Recht der Teilnahme an der Wahl muss allen in dem Betrieb beschäftigten Personen, seien es nun gelernte oder ungelernte Arbeiter, Angestellte oder Beamte, zustehen. Die einzelnen Kategorien können in gesonderten Kurien wählen. Den auf diese Weise gewählten Arbeiterausschüssen muss das Gesetz Einfluss auf alle diejenigen Angelegenheiten der Betriebsverwaltung zugestehen, die das Wohl der Arbeiter und Angestellten berühren.

Die Arbeiterausschüsse werden also zunächst bei der Aufnahme und Entlassung von Arbeitern mitwirken. Sie werden dafür sorgen, dass bei der Besetzung der Arbeitsstellen die Bestimmungen der kollektiven Arbeitsverträge eingehalten werden, und werden den Arbeitern Schutz zu bieten vermögen gegen willkürliche Entlassungen. Soweit die Arbeitszeit und die Arbeitslöhne nicht schon durch die kollektiven Arbeitsverträge festgesetzt sind, werden sie zwischen dem Unternehmer und dem Arbeiterausschuss vereinbart werden müssen. Insbesondere werden die Arbeiterausschüsse bei der Festsetzung von Stück- und Akkordlöhnen mitwirken. Die einfache Abschaffung des Akkordlohnsystems, die von vielen Arbeitern gewünscht wird, ist in unserer Zeit sicherlich nicht überall möglich. Denn in einer Zeit wie der jetzigen, in der unser ganzes Volk furchtbar verarmt ist, müssen wir alles daransetzen, die Intensität der Arbeit zu steigern, und können darum keines der Mittel entbehren, die erforderlich sind, um eine intensive Ausnutzung der Arbeitszeit zu verbürgen; wir werden diese Mittel um so weniger entbehren können, je kürzer wir die Arbeitszeit bemessen. Wo aber aus diesem Grunde das Akkordslohnsystem nicht beseitigt werden kann, müssen wir darauf bedacht sein, seine großen Gefahren zu mildern. Das geschieht am allerwirksamsten, wenn die Festsetzung der Akkordlöhne unter die Kontrolle der Arbeiterausschüsse nur mit Zustimmung des Arbeiterausschusses zulässig und kann sich der Arbeiterausschuss, ehe er diese Zustimmung erteilt, durch Einsicht in die Kalkulationen des Unternehmers von der Angemessenheit des vorgeschlagenen Lohnsatzes überzeugen, dann verliert das Akkordlohnsystem sehr viel von seinem sonst so gefährlichen Charakter. Auch die Auszahlung der Löhne werden die Arbeiterausschüsse überwachen, die Lohnberechnung überprüfen.

Zu den Aufgaben der Arbeiterausschüsse wird es weiter auch gehören, Streitigkeiten im Betrieb, seien das nun Streitigkeiten zwischen dem Unternehmer und der Arbeiterschaft, zwischen dem Werkmeister und den Arbeitern oder zwischen den Arbeitern selbst, zu schlichten und Ordnungsstrafen über diejenigen zu verhängen, die der unter Mitwirkung des Arbeiterausschusses erlassenen Fabrikordnung zuwiderhandeln.

Weiter werden Arbeiterausschüsse alle diejenigen Maßregeln zu überwachen haben, die getroffen werden, um Betriebsunfälle zu verhüten und um die Arbeiter gegen die Gefahren der Gewerbekrankheiten zu schützen. Sie werden bei der Erfüllung dieser Aufgabe mit den Gewerbeinspektoren zusammenwirken: Anträge und Anzeigen an die Gewerbeinspektoren erstatten, den Gewerbeinspektoren regelmäßig über die hygienischen Zustände in den Betrieben berichten und die Durchführung der von den Gewerbeinspektoren erlassenen Aufträge überwachen.

An die Arbeiterausschüsse wird weiter die Verwaltung derjenigen Betriebseinrichtungen übergehen, die unmittelbar und ausschließlich der Arbeiterschaft dienen sollen. Werkswohnungen, Werkskonsumanstalten, Betriebsküchen und Wohlfahrtseinrichtungen aller Art werden der Verwaltung der Arbeiterausschüsse übergeben werden. Diese Einrichtungen können und sollen dem Einfluss des Unternehmers und seiner Organe gänzlich entzogen werden.

Sollen jedoch die Arbeiterausschüsse alle diese Funktion wirksam versehen können, müssen ihre Mitglieder davor geschützt sein, dass aus ihrer Tätigkeit ihnen Schaden erwächst. Wie Abgeordnete ihre parlamentarische Tätigkeit nicht entfalten können, ohne die Immunität, die ihnen gegen Willkür und Rache der Bureaukratie Schutz gewährt, so können die Arbeiterausschüsse nicht wirksam sein, wenn ihre Mitglieder nicht dem Unternehmer gegenüber eine gewisse Unabhängigkeit erlangen, von seiner Willkür unabhängig, im Besitz ihrer Arbeitstelle geschützt sind. Deshalb muss das Gesetz bestimmen, dass jedes Mitglied eines Arbeiterausschusses nur dann entlassen werden kann, wenn entweder vor einem fachkundigen Gericht bewiesen wird, dass es seine Arbeit nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Arbeiters verrichtet, oder wenn es sich eine jener Handlungen zuschulden kommen lässt, die den Unternehmer nach der Gewerbeordnung berechtigen, den Arbeiter ohne Kündigungsschrift zu entlassen.

So weit und so wichtig aber auch der Aufgabenkreis der Arbeiterausschüsse sein wird, so wird das Gesetz ihm doch Grenzen setzen müssen. Die technische und ökonomische Leitung der Betriebe kann den Arbeiterausschüssen nicht übertragen werden. Die technische Leitung nicht, weil sie in den Händen fachkundiger, theoretisch und praktisch gebildeter Techniker, Ingenieure und Chemiker bleiben muss, wenn die Produktion nicht Schaden leiden soll. Aber auch die ökonomische Leitung nicht; denn jeder einzelne Betrieb soll nicht nur im Interesse der Arbeiter, die in ihm beschäftigt sind, verwaltet werden, sondern im Interesse der Gesamtheit des Volkes. Die Eisenbahnen sind nicht für die Eisenbahner allein da, sondern für die Volksgesamtheit, und die Möbelindustrie soll nicht im Interesse der Tischler allein verwaltet werden, sondern im Interesse der gesamten Gesellschaft. Deshalb wollen wir die ökonomische wie die technische Leitung der Industrie nicht den Arbeiterausschüssen der einzelnen Betriebe übertragen, sondern Verwaltungsräten, in denen neben Vertretern der Arbeiter, die in der Industrie beschäftigt sind, die Vertreter des Staates und der Konsumenten sitzen und entscheiden. Wir wollen die Industrie nicht syndikalisieren, sondern sozialisieren, das heißt, nicht jeden Industriezweig den in ihm beschäftigten Arbeitern, sondern alle Industriezweige der Gesellschaft, der Gesamtheit aller Arbeitenden zu eigen geben. Darum muss die technische und ökonomische Leitung der Industrie den Organen der Volksgesamtheit übertragen werden, und die Arbeiterausschüsse können nur als ihnen untergeordnete lokale Organe bei der Verwaltung der einzelnen Teile des Staatsgebietes an der Staatsverwaltung mitwirken.

Die Entwicklung der Betriebsverfassung folgt der Entwicklung der Staatsverfassung. Wir haben im Staate die Entwicklung erlebt von dem Absolutismus, in dem der Fürst allein entscheidet, über die konstitutionelle Monarchie, in der die Macht zwischen dem Fürsten und der Volksvertretung übertragen ist. Einen ähnlichen Weg muss auch die Betriebsverfassung durchlaufen. Wir hatten zuerst den Absolutismus des Unternehmers, der allein in der Fabrik herrscht. Mit der Einrichtung der Arbeiterausschüsse gelangen wir in der Fabrik zur konstitutionellen Monarchie: die rechtliche Herrschaft in dem Betrieb wird geteilt zwischen dem Unternehmer, der als erblicher Monarch den Betrieb beherrscht, und dem Arbeiterausschuss, der das Parlament der Arbeiter des Betriebes ist. Darüber hinaus geht der Weg zur republikanischen Verfassung der Industrie. Der Unternehmer verschwindet, die technische und ökonomische Leitung jedes einzelnen Industriezweiges wird einem Verwaltungsrat übertragen, der aus Vertretern des Staates, der Konsumenten und der Arbeiter zusammengesetzt wird, und die lokale Verwaltung jedes Betriebes wird geteilt zwischen den technischen Beamten, die dieser Verwaltungsrat ernennt, und dem Arbeiterausschuss, den die Arbeiter des Betriebes wählen.

 


Zuletzt aktualisiert am 28.7.2007