Otto Bauer

Der Weg zum Sozialismus




5. Die Vergesellschaftung des Großgrundbesitzes


Der Grund und Boden war in alten Zeiten Eigentum des Volkes. Mit der Stärkung der fürstlichen Gewalt fiel die Verfügung über das Volkseigentum an die Fürsten. Die Fürsten gaben Bodenlose an ihre Gefolgsmänner, an Bischöfe und Äbte zu Lehen und verpflichteten sie dafür zu Hoffahrt und Heeresfolge. Jahrhundertelang war das Lehenswesen die Grundlage des Staates. Aber seit dem Ausgang des Mittelalters ist es verfallen. Der Boden, den die Herren nur als Lehen empfangen hatten, wurde schließlich zu ihrem privaten Eigentum, das nicht mehr durch Lehensverpflichtungen belastet war, und sie dehnten dieses private Eigentum aus, indem sie die Allmenden, die noch Gemeineigentum der Bauerngemeinden waren, einhegten und die einzelnen Bauern „legten“. Auf diese Weise ist der Großgrundbesitz entstanden. Der Volksbesitz am Grund und Boden ist in die Hände des Adels und der Kirche übergegangen. Dem Volke wiederzuerobern, was einst sein Gemeinbesitz war, wird die größte und wichtigste Aufgabe der sozialen Revolution sein.

Nicht mit einem Schlage kann diese Umwälzung erfolgen. Zunächst wird der Forstbesitz aus den Händen der Privatleute in die Hände der Gesellschaft übergehen müssen. Unsere Wälder sind Deutschösterreichs größter Reichtum; im Besitz der Wälder wird unser Volk erst die Verfügung über eine der wichtigen Grundlagen seiner Volkswirtschaft gewinnen. Daneben werden zunächst die Fideikommisse, das Grundeigentum der „Toten Hand“ und die anderen Latifundien vergesellschaftet werden müssen. Erst wenn die Gesellschaft mit der Bewirtschaftung dieser größten Güter Erfahrungen gesammelt haben wird, wird sie dann auch zur Vergesellschaftung des übrigen Großgrundbesitzes bis zu Gütern von etwa 100 Hektar hinab schreiten können. Die Enteignung des bäuerlichen Besitzes ist selbstverständlich ausgeschlossen. Sie wäre nicht nur in sozialer Beziehung nicht ratsam, sondern auch in technischer nicht durchführbar.

Die Vergesellschaftung des Großgrundbesitzes wird mit seiner Enteignung beginnen, die in gleicher Weise erfolgen kann wie die Enteignung des großen Industriebetriebes: die einzelnen Eigentümer werden also eine Entschädigung im vollen Betrag des Wertes ihres Eigentums bekommen, aber der Entschädigungsbetrag wird aufgebracht werden durch eine progressive Vermögensabgabe, die von der Gesamtheit aller Besitzenden eingehoben wird. Die Bewirtschaftung des enteigneten Bodens wird aber sehr verschiedene Gestalten annehmen müssen. Es gibt Bodengattungen, die rationell nur im Großbetrieb bewirtschaftet werden können; so zum Beispiel die Forste. Dann aber gibt es auch Bodengattungen, die zweckmäßig nur im Kleinbetrieb bewirtschaftet werden können; so zum Beispiel die Weingärten. Durch die Enteignung wird der Staat zunächst über beiderlei Bodengattungen erhalten; er wird sowohl die Forste, die heute dem Adel gehören, als auch das Weinland, das heute Bistümern, Klöstern, Stiften gehört, im Besitz haben. Er wird aber die Bodengattung ganz anders bewirtschaften als die andere. Was zweckmäßig nur im Großbetrieb bewirtschaftet werden kann, wird er gesellschaftlich bewirtschaften müssen; was im Kleinbetrieb zweckmäßiger zu bewirtschaften ist, wird er Kleinbetrieben übertragen.

Die Bewirtschaftung desjenigen Bodens, der in Großbetrieb größeren Ertrag verspricht, wird in ähnlicher Weise organisiert werden wie die Bewirtschaftung der vergesellschafteten Großindustrie. Man wird also die enteigneten Landgüter zunächst Verwaltungsräten übertragen, die zusammengesetzt werden aus Bevollmächtigten der Bezirksvertretung, in deren Sprengel das Landgut liegt, aus theoretisch und praktisch gebildeten Landwirten, die von der Bezirksagrarbehörde ernannt werden, aus Vertretern der Arbeiter und der Gutsbeamten, die auf dem Landgut beschäftigt sind, und aus Bevollmächtigten der Konsumvereine des Bezirkes. Dieser Verwaltungsrat wird auf Grund von Vorschlägen der Bezirksagrarbehörde den Gutsverwalter ernennen, die kollektiven Arbeitsverträge mit den land- und forstwirtschaftlichen Arbeitern abschließen, über den Reingewinn verfügen. Von dem Reingewinn wird ein Teil dem staatlichen Investitionsfonds zugeführt werden müssen; der Rest wird geteilt werden zwischen dem Bezirk einerseits, den Arbeitern und Beamten des Guts anderseits. Die Tätigkeit dieser Verwaltungsräte, die die einzelnen Landgüter verwalten, wird beaufsichtigt werden durch die Landeskulturräte, deren Zusammensetzung in ähnlicher Weise gestaltet werden muss wie die der einzelnen Verwaltungsräte. Über ihnen wird endlich ein Reichslandwirtschaftsrat stehen, der aus Vertretern des Staates der landwirtschaftlichen Hochschulen, der landwirtschaftlichen Arbeitern und der Konsumvereine zusammengesetzt sein wird. Dieser Reichslandwirtschaftsrat wird über den staatlichen Investitionsfonds verfügen. Er wird festsetzen, welche größeren Investitionen und Meliorationen auf den einzelnen Gütern vorzunehmen sind. Er wird anordnen, in welchem Verhältnis der Boden auf die einzelnen Kulturgattungen zu verteilen ist, und auf diese Weise dafür Sorge tragen, dass die verschiedenen Bedürfnisse, die die Land- und Forstwirtschaft zu befriedigen hat, möglichst gleichmäßig befriedigt werden.

Diejenigen enteigneten Güter, welche im Kleinbetrieb mit besserem Ertrag genützt werden können als im Großbetrieb, werden in Parzellen geteilt und an Kleinbauern und landwirtschaftliche Arbeiter vergeben werden. Zu welchem Rechte soll aber diese Vergebung erfolgen? Sollen die auf dem enteigneten Boden anzusiedelnden Kleinbauern und Landarbeiter Eigentümer dieses Bodens werden oder seine Pächter sein?

Wenn der Bauer Boden kauft, bleibt er einen großen Teil des Kaufschillings schuldig. Er nimmt eine Hypothek auf und muss Jahr für Jahr aus dem Ertrag des Bodens die Hypothekenzinsen bezahlen. Stirbt der Bauer, so übernimmt einer seiner Söhne das Gut, während die anderen, die „weichenden Geschwister“, mit einem Geldbetrag abgefertigt werden. Auch ihnen wird für diese Schuld der Boden verpfändet, auch ihnen müssen aus dem Bodenertrag Hypothekenzinsen bezahlt werden. Je höher der Bodenertrag ist, desto höher sind die Kaufschillingreste und die Erhabfindungsgelder, desto höher also die Hypothekenzinsen, die der Bauer alljährlich entrichten muss. Sinken nun die Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, so sinkt der Bodenertrag, und der Bauer gerät in Gefahr, die Hypothekenzinsen nicht mehr aufbringen zu können; er geht zugrunde, sein Boden wird vergantet. Wo also die kleinen Landwirte Eigentümer ihres Bodens sind, kann der Staat die Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, also die Preise der wichtigsten Lebensmittel, nicht herabsetzen, ohne eine schwere soziale Krise auf dem Lande herbeizuführen. Dieselbe Gefahr besteht auch bei den sogenannten Rentengütern. Der Bauer erwirbt sie nicht, indem er ein Kapital als Kaufpreis hingibt, sondern indem er sich zur Zahlung einer jährlichen Rente verpflichtet. Die Rente wird aber festgesetzt nach dem Bodenertrag zur Zeit des Bodenerwerbes. Sie ist zu niedrig, wenn der Bodenertrag später steigt, zu hoch, wenn er sinkt.

Wo dagegen die Landwirte nicht Eigentümer, sondern Pächter des Bodens sind, dort besteht diese Gefahr freilich nicht. Denn der Pachtzins kann von Zeit zu Zeit geändert werden: erhöht, wenn der Bodenertrag steigt, und gesenkt, wenn der Bodenertrag sinkt. Das Pachtverhältnis hat also den Vorzug, dass der Staat die Preise der Lebensmittel herabsetzten kann, ohne die Landwirte in Gefahr zu bringen; denn sie bleiben ungefährdet, wenn mit den Preisen der landwirtschaftlichen Erzeugnisse auch die Pachtzinse ermäßigt werden. Dafür aber hat das Pachtverhältnis wieder andere Nachteile. Denn der Pächter ist nie sicher, ob er nach dem Ablaufen des Pachtvertrages das Gut wird behalten können. Er scheut daher größere Investitionen, weil er nicht weiß, ob ihre Früchte ihm zufallen werden.

Es handelt sich also darum, eine Rechtsform zu finden, die einerseits den Landwirt im Besitz seines Gutes sichert und ihm dadurch kostspieligere Investitionen möglich macht, die es aber andererseits dem Staate möglich macht, den Zins, den der Landwirt entrichten muss, den jeweiligen Preisen der landwirtschaftlichen Erzeugnisse anzupassen, ihn zu erhöhen, wenn diese Preise steigen, und zu senken, wenn diese Preise sinken. Dies kann am besten durch ein zweckmäßig gestaltetes Erbpachtrecht erfolgen.

Der enteignete Boden wird also an landwirtschaftliche Arbeiter und Kleinbauern verpachtet werden; bei der Auswahl der Pächter werden die Kriegsbeschädigten bevorzugt werden können. Das Pachtrecht ist unbefristet und erblich; der Pächter kann nur dann abgestiftet werden, wenn vor einem sachkundigen Gericht erwiesen wird, dass er das Gut nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Landwirtes bewirtschaftet. Der Pachtzins wird von zehn zu zehn Jahren durch die Bezirksagrarbehörde neu bemessen; er ist so festzusetzen; dass dem Pächter und seinen mitarbeitenden Familienmitgliedern ein auskömmlicher Arbeitslohn verbleibt. Von dem Pachtzinsertrag fällt ein Teil dem Bezirk, ein anderer dem staatlichen Investitionsfonds zu. Der Reichslandwirtschaftsrat, der den staatlichen Investitionsfonds verwaltet, wird den Pächtern aus diesem Fonds Meliorations- und Investitionsdarlehen gewähren.

Auf diese Weise wird der enteignete Großgrundbesitz zweckmäßig bewirtschaftet werden können. Die Grundrente, die heute den Großgrundbesitzern zufällt, wird den Bezirken zuschießen und die Kosten der Lokalverwaltung im Staate decken. Den landwirtschaftlichen Arbeitern werden Einfluss auf die Verwaltung und Anteil an Gewinn der großen gesellschaftlich bewirtschafteten Güter gesichert sein, während gleichzeitig viele Zehntausende von Kleinbauern und landwirtschaftlichen Arbeitern zu gesichertem Erpachtrecht auf den anderen enteigneten Gütern angesiedelt werden. Den Konsumenten wird ein unmittelbarer Einfluss auf die landwirtschaftliche Betriebsführung zugestanden werden. Der staatliche Investitionsfonds, aus dem Ertrag der enteigneten Güter reich gespeist, wird durch großzügige Investitionen und Meliorationen die Ergiebigkeit unseres Bodens schnell steigern.

Freilich alle diese Reformen können sich nur auf denjenigen Boden erstrecken, der heute dem Adel, der Kirche und den Kapitalisten gehört. In ganz anderer Weise muss die bäuerliche Wirtschaft neu gestaltet werden. Davon werden wir in unserer nächsten Abhandlung sprechen.

 


Zuletzt aktualisiert am 28.7.2007