Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Dritter Abschnitt
Die Vorherrschaft der Arbeiterklasse

§ 9. Revolutionäre und konterrevolutionäre Kräfte


Literatur:

Anbaufläche und Ernteergebnisse in der Republik Österreich im Jahre 1918, herausgegeben vom Staatsamt für Land- und Forstwirtschaft, Wien 1919. – Der Bedarf Deutschösterreichs an wichtigeren Nahrungs- und Futtermitteln, heraus- gegeben vom Staatsamt für Volksernährung, Wien 1919. – Bericht der Niederösterreichischen Handels- und Gewerbekammer über die Jahre 1914 bis 1918, Wien 1920. – Berichte der Staatsregierung in der Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung am 4. Dezember 1918. – Bericht der Gewerbeinspektoren über ihre Amtstätigkeit im Jahre 1919, Wien 1920. – Böhm, Die sanitäre Lage der Stadt Wien, Statistische Monatsschrift, 1920.

Szende, Die Krise der mitteleuropäischen Revolution, Tübingen 1921. – Braunthal, Die Arbeiterräte in Deutschösterreich, Wien 1919. – Täubler, Wesen und Mission der Räte, Der Kampf, 1919. – Diskussion über die Aibeiterräte auf dem sozialdemokratischen Parteitag 1919.

Stenographisches Protokoll der Vereinigten Kommission für Kriegswirtschaft, Wien 1917. – Mises, Die politischen Beziehungen Wiens zu den Ländern, Wien 1920.

Die Wahlen für die Konstituierende Nationalversammlung, Beiträge zur Statistik der Republik Österreich, 2. Heft, Wien 1919. – Kelsen, Die Verfassung der Republik Deutschösterreich, 3. Teil, Wien 1919. – Bauer, Referat über die Koalition auf dem sozialdemokratischen Parteitag 1920.



Habsburg und Hohenzollern waren auf den Schlachtfeldern den Heeren der Westmächte, im Hinterland der Revolution erlegen. Als Niederlage und Revolution die Dynastien hinweggefegt hatten, standen die beiden Sieger einander unvermittelt gegenüber: drüben der Imperialismus der Westmächte, hüben die mitteleuropäische Revolution.

Wie sich in allen bürgerlichen Revolutionen die Bourgeoisie, sobald sie den Feudalismus und den Absolutismus zertrümmert hat, gegen das Proletariat wendet, das sich in ihrem Rücken erhebt; wie die Bourgeoisie, soeben noch revolutionär gegen die alten Gewalten, am Tage nach ihrem Siege konterrevolutionär wird gegen das Proletariat, so wendete sich auch die triumphierende Bourgeoisie der Westmächte am Tage nach ihrem Siege über die mitteleuropäischen Dynastien gegen die durch diesen Sieg entfesselte mitteleuropäische Revolution. Revolutionär, solange sie dem Mitteleuropa der Habsburger und Hohenzollern gegenüberstand, wurde die Bourgeoisdemokratie des Westens konterrevolutionär, sobald sie die proletarische Revolution sich gegenüber sah.

Noch im Kriege gegen Habsburg und Hohenzollern waren die Westmächte zugleich schon in den Krieg gegen die russische Sowjetrepublik geraten. Nach ihrem Siege über Habsburg und Hohenzollern setzten sie sich den Krieg gegen den Bolschewismus sofort zu ihrer wichtigsten Aufgabe. Die Expansion der proletarischen Revolution über Rußlands Grenzen hinaus zu verhindern; die mitteleuropäische Revolution nicht den Rahmen einer bürgerlichen Revolution sprengen, sie nicht über die Aufrichtung bürgerlicher Demokratien hinaus fortstürmen zu lassen, wurde zu dem beherrschenden Ziel ihrer Politik in dem Augenblick, in dem der Sieg ihrer Waffen ihnen Mitteleuropa unterwarf.

Der Waffenstillstand von Villa Giusti hatte die Blockade der Entente über Österreich aufrechterhalten. Die deutschösterreichische Regierung hatte sich sofort nach dem Waffenstillstand an Wilson mit der Bitte gewendet, dem ausgehungerten Lande die Einfuhr ausländischer Nahrungsmittel zu ermöglichen. Am 24. November ging uns Wilsons Antwort zu. Sie versprach Zufuhr von Lebensmitteln; aber sie versprach sie nur unter einer Bedingung: daß „Ruhe und Ordnung“ aufrechterhalten werden. Wilsons Note vom 18. Oktober hatte die nationale Revolution entfesselt. Wilsons Note vom 24. November forderte den Abschluß der sozialen Revolution. Die Westmächte traten nun, als Beschützer der bürgerlichen Ruhe, der bourgeoisen Ordnung der proletarischen Revolution in Deutschösterreich entgegen.

Die Selbstauflösung des kaiserlichen Heeres hatte das deutschösterreichische Proletariat entfesselt. Die Armee, deren Bajonette das Proletariat niedergehalten, die bourgeoise Ordnung beschützt hatten, existierte nicht mehr. Was es an organisierter bewaffneter Macht im Lande noch gab, war nicht in den Händen der Bourgeoisie, sondern in den Händen des Proletariats. Das Proletariat fühlte sich allmächtig gegen die Bourgeoisie. Aber die Selbstauflösung des kaiserlichen Heeres hatte Deutschösterreich zugleich völlig wehrlos gemacht gegen die Mächte, die der Sieg auf den Schlachtfeldern zu Herren Mitteleuropas machte. Während sich das deutschösterreichische Proletariat allmächtig fühlte gegen die heimische Bourgeoisie, stand es ohnmächtig der Bourgeoisie der Westmächte gegenüber, die nun als Beschützerin der bourgeoisen Ordnung in Deutschösterreich auftrat.

Das große österreichisch-ungarische Wirtschaftsgebiet war aufgelöst. Es ward aufgelöst in einer Zeit der furchtbarsten Not. Nach vierjährigem Kriege, vierjähriger Blockade herrschte in all den jungen Nationalstaaten empfindlicher Mangel an Nahrungsmitteln, an Kleidung, Schuhwerk und Wäsche, an Kohle und Rohstoffen. Jeder Staat suchte sich zu erhalten, was in seinem Machtbereich war. Schon in den Tagen ihrer Entstehung sperrten sich alle die neuen Staaten gegeneinander ab, verboten sie jede Ausfuhr. Deutschösterreich war nicht nur von der Entente, es war auch von den neuen Staaten blockiert. Von Deutschböhmen und dem Sudetenland sperrte uns das tschechische Gebiet ab; Innerösterreich – Wien und die Alpenländer – war ganz auf sich selbst gestellt.

Innerösterreich hat keine Kohle. Unser monatlicher Kohlenbedarf betrug 1.150.000 Tonnen. Aber nur 155.000 Tonnen zumeist minderwertiger Kohle konnte der heimische Bergbau liefern. Wir hatten die Kohle immer aus dem Ostrau-Karwiner Revier, aus Oberschlesien und aus Nordwestböhmen bezogen; jetzt sperrte uns die tschechische Regierung jede Zufuhr. Entsetzliche Kohlennot brach herein. Ungeheure Anstrengungen waren notwendig, um auch nur einen kleinen Teil unseres Kohlenbedarfs zu decken; am 4. Dezember 1918 berichtete ich der Provisorischen Nationalversammlung, daß wir fünf diplomatische Vorhandlungen mit der tschechischen Regierung führen mußten, um das Passieren eines einzigen Kohlenzuges durch tschechisches Gebiet durchzusetzen. Schließlich konnte unsere Kohlenversorgung nur dadurch sichergestellt werden, daß eine interalliierte Kommission die Verteilung der schlesischen Kohle und die Regulierung der Kohlentransporte übernahm. Auch sie konnte uns keine hinreichende Versorgung sichern. Unser Eisenbahnverkehr mußte furchtbar gedrosselt, der Personenverkehr auf den Eisenbahnen immer wieder wochenlang ganz eingestellt, der Frachtenverkehr auf die Nahrungsmitteltransporte beschränkt werden. In Wien mußte der Verkehr der Straßenbahn wiederholt, insgesamt durch vierzehn Tage in einem Jahre, stillgelegt werden, weil das Elektrizitätswerk nicht mit Kohle versorgt werden konnte. In kleineren Orten mußten auch die Gaswerke stillgelegt werden. Die Fabriken mußten die Produktion immer wieder unterbrechen, weil die Elektrizitätswerke ihnen den elektrischen Strom nicht mehr liefern konnten und weil die Kohle zur Heizung der Dampfkessel nicht zu beschaffen war. In Obersteiermark mußten alle Hochöfen bis auf einen, von den 14 Martinöfen alle bis auf drei ausgelöscht werden. Hausbrandkohle konnte nicht mehr ausgegeben werden. Die frierenden Menschen fingen in die Wälder, schlugen, um alle Eigentumsrechte unbekümmert, die Bäume und schleppten das Holz nach Hause. Aber selbst diese entsetzlich dürftige Kohlenversorgung konnte nur mit Hilfe der interalliierten Kommission aulrechterhalten werden; hätte sie uns ihre Hilfe entzogen, daim hätten der Eisenbahnverkehr und die industrielle Produktion vollständig eingestellt werden müssen. So warf uns die Kohlennot in die drückendste Abhängigkeit von den Siegermächten.

Ebenso schlimm stand es mit unserer Lebensmittelversorgung. Das innerösterreichische Gebiet war immer mit ungarischem Getreide, mit böhmischen und galizischen Kartoffeln, mit ungarischem Vieh, mit böhmischem Zucker ernährt worden; nach vierjährigem Krieg war es weniger denn je imstande, sich selbst zu ernähren. Unseren Viehstand hatte der Krieg zerstört; die viehreichen Alpenländer waren ja der Etappenraum, das Requirierungsgebiet der Südarmee gewesen. Infolge des Mangels an Düngemitteln und an Arbeitskräften war unsere landwirtschaftliche Produktion weit zurückgeworfen. Die Anbaufläche war gesunken, die Brache von 65.000 Hektar auf 295.000 Hektar ausgedehnt, der durchschnittliche Hektarertrag von 1913 bis 1918 von 14,7 auf 8,7 Zentner Weizen, von 14,8 auf 5,6 Zentner Roggen, von 93,6 auf 50,3 Zentner Kartoffeln, von 37,6 auf 22,5 Zentner Heu und Grumt gesunken. Die Ernte von 1918 gab in Weizen nur 48 Prozent, in Roggen 45 Prozent, in Kartoffeln 39 Prozent der Mengen von 1913. Unsere heimische Produktion konnte bestenfalls, bei Annahme der niedrigsten Rationen und bei denkbar vollständigstem Gelingen der Aufbringung, ein Viertel unseres Mehlbedarfes, ein Fünftel unseres Bedarfs an Kartoffeln, ein Drittel unseres Fleischbedarfs, ein Zwanzigstel unseres Bedarfs an Speisefett, ein Vierzehntel unseres Zuckerbedarfs decken. In den ersten Wochen nach dem Umsturz lebten wir von den Beständen der Militärverpflegsmagazine und von Zuschüben, die das Deutsche Reich uns trotz eigener Not schickte; aber mit alledem war unser Bedarf nur für wenige Wochen gedeckt. Unseren Anstrengungen gelang es schließlich, die Hilfe der Sieger zu erlangen. Herbert Hoover, der amerikanische Food Controller, organisierte eine regelmäßige Lebensmittelzufuhr nach Deutschösterreich. Auch diese Versorgung war sehr dürftig. Die Rationen blieben weit unter dem physiologischen Existenzminimum. Die Unterernährung drückte die Arbeitsintensität. Die Unterernährung hielt die Sterblichkeit hoch über dem Friedensniveau. Von 186.000 Wiener Schulkindern, deren Ernährungszustand ärztlich überprüft wurde, wurden 96.000 als sehr unterernährt, 63.000 als unterernährt, 19.000 als minder unterernährt, nur 6.732 als nicht unterernährt klassifiziert. Und selbst diese dürftige Versorgung beruhte beinahe ausschließlich auf den Zuschüben Hoovers. Vorräte gab es keine mehr. Was heute zugeschoben wurde, mußte morgen gegessen werden. Hätte Hoover seine Lebensmittelzüge nur wenige Tage eingestellt, so hätten wir kein Brot, kein Kochmehl mehr gehabt. So waren wir ganz in Hoovers Händen.

Und wie die wirtschaftliche Not lieferte uns auch die militärische Ohnmacht völlig der Entente aus. Der Waffenstillstandsvertrag gab den alliierten Mächten das Recht, unsere Städte und unsere Eisenbahnlinien zu besetzen. Tirol und ein Teil Kärntens wurden von italienischen Truppen besetzt. In Wien residierte eine interalliierte Waffenstillstandskommission, an deren Spitze der italienische General Segre stand. Die deutschösterreichische Bourgeoisie, zitternd vor dem Proletariat, bestürmte seit den ersten Revolutionstagen den italienischen General, mit italienischen Truppen Wien zu besetzen; die Furcht vor der Arbeiterklasse hatte ihren Haß gegen den „Erbfeind“ ausgetilgt. In den ersten Monaten nach dem Waffenstillstand verging kaum eine Woche, in der uns der General Segre nicht ein Ultimatum stellte; bald mit der Einstellung der Kohlen- und der Lebensmittelzufuhr, bald mit dem Einmarsch italienischer Truppen drohend, erpreßte er bald die Auslieferung von Kriegsgerät, von Eisenbahnmaterial, von Gemälden, bald Geldzahlungen als Sühne für die Beleidigung eines italienischen Kuriers auf einer steirischen oder eines in italienische Uniform gekleideten tschechischen Legionärs auf einer Tiroler Eisenbahnstation. So drohte uns immer wieder die Besetzung durch fremde Truppen; wir wußten, daß sie die Niederwerfung des Proletariats unter dem Schutz der fremden Bajonette bedeutet hätte.

Diese Gefahr wurde noch größer, als wir in Konflikt mit der Tschechoslowakei und mit Jugoslawien gerieten. Als im Norden die Tschechen, sobald ihre Legionen, die im Verband der italienischen Armee gekämpft hatten, nach Böhmen gebracht worden waren, zum Angriff auf das Sudetenland und auf Deutschböhmen übergingen, als im Süden die Kämpfe zwischen den Kärntner Heimatwehren und den slowenischen Truppen begannen, wurde die Gefahr eines militärischen Konflikts mit unseren Nachbarstaaten sehr ernst. Der Waffenstillstand hatte die Zahl der Soldaten, die wir unter den Fahnen halten durften, sehr eng begrenzt. Zu einem Massenaufgebot hätten wir, wenn die Tschechen gegen Wien vorgestoßen wären, keine Zeit gehabt; denn Wien liegt einen Tagmarsch von der tschechischen Grenze. Zudem durften wir den Kampfwert unserer Volkswehr nicht überschätzen; die Autorität des kaiserliclien Offizierskorps war zusammengebrochen, ein republikanisches, gar ein proletarisches Offizierskorps hatten wir noch nicht erziehen können. Gefiel es der Entente, den Tschechen einen Angriff auf Wien zu erlauben, so geriet unsere Hauptstadt, geriet die entscheidende Machtstellung der deutschösterreichischen Arbeiterklasse in die schwerste Gefahr.

Der Ententeimperialismus stellte sich der proletarischen Revolution in Deutschösterreich entgegen. Und die Entente konnte uns die Kohlen- und die Lebensmittelzufuhr sperren, uns der Hungerkatastrophe überantworten; sie konnte unser Land durch ihre Truppen besetzen lassen oder uns dem Angriff der Nachbarstaaten preisgeben. Die Macht der Sieger setzte so der proletarischen Revolution in Deutschösterreich unverrückbare Schranken.

In schroffem Widerspruch zu dieser objektiven Lage der proletarischen Revolution standen die subjektiven Illusionen, die die Revolution in breiten Schichten des Proletariats geweckt hatte.

Der Krieg hatte die Struktur und die Geistesverfassung des Proletariats wesentlich verändert. Er hatte die Arbeiter aus Fabrik und Werkstatt herausgerissen. Im Schützengraben litten sie Unsägliches. Im Schützengraben füllten sie ihre Seelen mit Haß gegen die Drückeberger und Kriegsgewinner, die im Hinterland Gold aus der Not münzten, während sie stündlich dem Tod ins Auge sahen, und gegen die Generale und Offiziere, die üppig tafelten, während sie hungerten. Im Schützengraben lasen sie die Zeitungen, die den Helden, die das Vaterland verteidigten, die dankbare Fürsorge des Vaterlands verhießen. Im Schützengraben lauschten sie den Erzählungen der Heimkehrer, die in russischer Gefangenschaft die erste Phase der bolschewikischen Revolution, die Phase des Bürgerkrieges, des blutigen Terrors gegen Offiziere, Kapitalisten, Bauern, die Phase der Expropriationen, der Requisitionen, der Nationalisierung miterlebt hatten. Die Jahre im Schützengraben hatten sie der Arbeit entwöhnt, sie an gewalttätige Requisitionen, an Raub und Diebstahl gewöhnt. Die Jahre im Schützengraben hatten sie mit dem Glauben an die Gewalt erfüllt. Nun kam die Revolution, kam der Tag der Heimkehr Aber in der Heimat harrten ihrer Hunger, Kälte. Arbeitslosigkeit. Der vier Jahre lang angesammelte Haß und Groll mußte Ausdruck suchen. Jetzt heischten sie die Rache an all denen, von denen sie vier Jahre lang mißhandelt worden waren. Jetzt forderten sie, die Revolution, die den Kaiser verjagt, solle alle die Großen, die Reichen, die Schuldigen stürzen. Jetzt wollten sie ihn sehen, den versprochenen Dank des Vaterlandes an seine Helden. Und da ihnen als Antwort nichts wurde als Not und Elend, glaubten sie, ein paar tausend entschlossene Männer mit Gewehr und Patronen müßten imstande sein, der ruchlosen Gesellschaftsordnung, die Krieg und Not und Elend über sie gebracht, mit einem gewaltigen Schlag ein Ende zu machen.

Vier Jahre lang hatte in den Betrieben der Kriegsindustrie der militärische Betriebsleiter kommandiert. War die Arbeitsdisziplin in den Betrieben auf die militärische Gewalt gegründet gewesen, so löste sich mit dem Zusammenbruch der militärischen Gewalt die Arbeitsdisziplin auf. Die Industrie geriet in chaotischen Zustand. Die Kriegsbestellungen hörten mit einem Schlage auf; der Umstellung auf die Friedensproduktion standen die Kohlennot, der Mangel an Rohstoffen, die Auflösung der Arbeitsdisziplin, die Arbeitsunlust einer durch den Hunger entkräfteten, von der Überarbeit der Kriegszeit erschöpften, durch das Erlebnis der Revolution im Innersten aufgewühlten Arbeiterschaft entgegen. Die Betriebe verwandelten sich in Diskussionsstätten. Die Industrie vermochte die von der Front heimkehrenden, die aus den Produktionsstätten der Munitionsindustrie abströmenden Massen nicht aufzusaugen. Die Masse der Arbeitslosen schwoll von Monat zu Monat an; sie erreichte ihren höchsten Stand im Mai 1919. Damals wurden 186.030 Arbeitslose gezählt, 131.500 in Wien allein.

In den Kasernen der Volkswehr herrschte wilde Gärung. Die Volkswehr fühlte sich als die Trägerin der Revolution, als die Vorhut des Proletariats. In den Diskussionen der Soldatenräte kämpften Sozialdemokraten und Kommunisten ihre heftigsten Kämpfe aus. Die Hoffnung, alsbald mit der Waffe in der Hand den Sieg des Proletariats entscheiden zu können, erfüllte die Wehrmänner. Und unter die wild erregten Heimkehrer, unter die verzweifelnden Arbeitslosen, unter die von der Romantik der Revolution erfüllten Wehrmänner mischten sich die Invaliden des Krieges, die ihr persönliches Schicksal an der schuldigen Gesellschaftsordnung rächen wollten; mischten sich krankhaft erregte Frauen, deren Männer seit Jahren in Kriegsgefangenschaft schmachteten; mischten sich Intellektuelle und Literaten aller Art, die, plötzlich zum Sozialismus stoßend, von dem utopistischen Radikalismus der Neophyten erfüllt waren; mischten sich die aus Rußland heimgeschickten Agitatoren des Bolschewismus. Jedes Zeitungsblatt brachte Nachrichten über die Kämpfe Spartakus’ in Deutschland. Jede Rede verkündete die Glorie der großen russischen Revolution, die mit einem Schlage alle Ausbeutung für immer aufgehoben habe. Die Masse, die soeben die einst so gewaltigen Kaiserreiche zusammenstürzen gesehen hatte, ahnte nichts von der Stärke des Ententekapitalismus; sie glaubte, daß die Revolution nun in einem Fluge auch die Siegerländer erfassen werde. „Diktatur des Proletariats!“ „Alle Macht den Räten!“ So hallte es nun auch hier durch die Straßen.

Die Arbeiterräte waren in Deutschösterreich schon aus dem Jännerstreik hervorgegangen. Die Revolution dehnte die junge Institution schnell aus. In ihr suchten und fanden nun das erstarkte Machtbewußtsein, der geweckte Betätigungsdrang der entfesselten Massen ihr erstes Betätigungsfeld. Die wirtschaftliche Not gab diesem Betätigungsdrang die Richtung„ die Organisation der Kriegswirtschaft gab ihm reiche Wirkungsmöglichkeit. Sie sicherten sich die Kontrolle der Tätigkeit der eingeschüchterten Bezirkshauptmannschaften. Sie bildeten mit .den Soldatenräten und mit den sich bildenden Bauernräten zusammen Gemeinde-, Bezirks- und Landeswirtschaftskommissionen. Sie kontrollierten die Aufbringung der Ernte und des Viehs, die Anforderung und die Zuweisung der Wohnungen. Sie organisierten die Jagd auf die Schleichhändler. Sie suchten den Preiswucher zu terrorisieren. Sie verhinderten die Ausfuhr von Nahrungsmitteln aus ihrem Gebiet in andere Bezirke und Länder. In der Regel wirkten sie mit den gesetzlichen Behörden zusammen; der Form nach bedienten sich die Behörden der Arbeiterräte als ihrer Kontrollorgane, in der Sache unterwarfen sich die Behörden dem Diktat der Räte. Zuweilen aber gingen die Räte auch ohne die Behörden und gegen sie selbständig vor. Es kam vor, daß sie selbständig Requisitionen anordneten und mit Unterstützung der Volkswehr durchführten. daß sie Personen, die sich gegen die Kriegswirtschaftsvorschriften vergingen, vorluden und mit dem Terror des Proletariats bedrohten. Die ganze Bewegung war in den ersten Monaten der Revolution elementar, unorganisiert; zwischen den Arbeiterräten der einzelnen Gebiete bestand noch kein Zusammenhang. Die größte Ausdehnung erlangte sie in Oberösterreich; dort wurden die Arbeiterräte vor allem zum Organ der Absperrung des Landes, der Verteidigung seiner vergleichsweise reichen Getreide- und Viehbestände gegen den sich auf das Land stürzenden Wiener Schleichhandel. In dieser Tätigkeit der Arbeiterräte erwuchs ihre ursprüngliche Ideologie: indem die Arbeiterräte die Verwaltungstätigkeit, die sie aus dem Recht der Revolution an sich gerissen haben, in dem Maße ausdehnen, als es das praktische Bedürfnis des Proletariats erfordert und seine Macht ermöglicht, werden sie allmählich die gesetzlichen Behörden teils sich unterordnen, teils ausschalten oder sprengen, werden sie schließlich die ganze Macht an sich reißen. Daher dürften die Räte nicht „in der Verfassung verankert“ werden; jede gesetzliche Abgrenzung ihrer Rechte könne ja nur das augenblickliche Machtverhältnis zwischen der Räteorganisation und dem behördlichen Verwaltungsapparat fixieren und dadurch der weiteren revolutionären Expansion der Rätemacht gegen den behördlichen Verwaltungsapparat Hindernisse bereiten. Diese Ideologie der Rätebewegung gewann Macht weit über die Reihen der industriellen Arbeiterschaft hinaus; im Frühjahr 1919 beteiligten sich Staatsbeamte, Privatangestellte, Intellektuelle in Massen an den Rätewahlen. Auch die sozialdemokratische Literatur jener Tage stand unter dem Eindruck dieser Bewegung. Alexander Täubler, der die Entwicklung der Sowjets in der ersten Phase der russischen Revolution miterlebt hatte, formulierte die Theorie der autonomen Expansion der revolutionären Verwaltungstätigkeit der Räte. Ähnlich feierte Max Adler die Räte als das Organ der „Revolution in Permanenz“.

Nicht nur das städtische und industrielle Proletariat war durch den Krieg revolutioniert worden. Auch durch die bäuerlichen Volksmassen ging eine gewaltige Bewegung. Aber diese Bewegung war von Anfang an zwieschlächtigen Charakters. Auch der Bauer war aus dem Schützengraben voll Haß gegen Krieg und Militarismus, gegen Bürokratie und Plutokratie zurückgekehrt. Auch er jubelte der jungen Freiheit, der Republik, dem Sturz des Militarismus zu. Er freute sich, daß Bauernvertreter nun in den Landhäusern regierten, wo bisher die k. k. Statthalter geherrscht hatten. Nicht anders als der Arbeiter glaubte auch der Bauer, die politische Revolution müsse den Volksmassen eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse bringen. Seit den siebziger Jahren hatten in den Alpen Feudalherren und Kapitalisten Bauern gelegt, um das Bauernland zu großen Jagdgütern zu vereinigen; die Hirsche des Herrn grasten nun, wo einst die Kühe des -Bauern geweidet hatten. Jetzt sei die Zeit gekommen, das geraubte Bauernland den Nachkommen „Jakobs des Letzten“ wieder zurückzugeben. In den Kriegszeiten hatten Kriegsgewinner ihren neuen Reichtum zum Ankauf großer Güter verwendet; jetzt sei der Augenblick gekommen, ihren aus dem Blut des Volkes gewonnenen Besitz auf die Bauern zu verteilen. Die Wald- und Weidedienstbarkeiten, die 1853, nach dem Siege der Konterrevolution, gemäß den Bedürfnissen der Feudalherren reguliert worden waren, müßten jetzt abgelöst werden; so werde sich der Bauernwald auf Kosten des Herrenwaldes ausdehnen. Das Jagdrecht, in der Monarchie unter höfischem Drucke nur nach den Bedürfnissen der Jagdherren geregelt, müsse jetzt den Bedürfnissen der Bauernschaft angepaßt werden. Es war eine wirklich demokratische Bewegung, die damals durch die Bauernschaft ging. Aber die bäuerliche Demokratie ist mit der proletarischen nicht identisch. Die junge Freiheit, die der Bauer wie der Arbeiter ausnützen wollte, bekam in den Vorstellungen der Bauernschaft sofort eine den Bedürfnissen des Proletariats schnurstracks entgegengesetzte Bestimmung.

Mit furchtbarer Gewalt hatte während des Krieges der ungeheure militärische Requisitionsapparat der Kriegswirtschaft auf der Bauernschaft gelastet. Er hatte den wertvollsten Besitz der alpenländischen Bauernschaft ihren Viehstand, zerstört. Je stärker die passive Resistenz gegen den staatlichen Aufbringungsdienst in den slawischen Gebieten war, desto mehr mußten die deutschen Alpenländer für den Heeresbedarf leisten. Die Menge Heu, die die einzelnen Gebiete aufzubringen hatten, wurde nach der Anbaufläche festgesetzt; so mußten die einmähdigen Wiesen im Hochland ebensoviel abführen wie die dreimähdigen Wiesen der Ebene. In einem Erntejahr wurde dreimal nacheinander Heu requiriert; der Bauer war nie sicher, wieviel Heu ihm bleiben, wieviel Vieh er werde überwintern können. Oft blieb das requirierte Heu auf den Wiesen liegen; schließlich, spät im Herbst, gab es die Militärverwaltung den Bauern frei, nachdem es, auf feuchten Wiesen gestanden, zugrunde gegangen war. Der Bauer hatte kein Heu; aber sein Vieh war der staatlichen Aufbringung vorbehalten, er durfte es nicht nach seinem Gutdünken schlachten oder verkaufen. In den Frühlingsmonaten der letzten Kriegsjahre fütterten die Bauern ihr Vieh mit Tannenreisig. Dann kamen die Requisitionsorgane. Wahllos schleppten sie das Vieh aus den Ställen. Hochklassige Milchkühe wurden als Schlachtvieh weggeführt. Der Bauer sah sich der Willkür korrupter Einkaufskommissäre ausgeliefert. Und er sah, daß die Heeresverwaltung das Vieh, das sie ihm genommen, nutzlos zugrunde gehen ließ. Tagelang standen auf den Eisenbahnstationen ganze Züge mit vollen Viehwaggons, ohne daß das Vieh gefüttert und getränkt worden wäre. Der Haß gegen dieses Requisitionssystem hatte die Bauern revolutioniert. Der Zwang, die Erzeugnisse ihrer Arbeit tief unter dem freien Marktpreis abzuführen, erschien ihnen als eine neue Robot, die die neue Revolution aufheben müsse. Die Freiheit, die der Bauer von der Revolution, die den Militarismus vernichtet hatte, erwartete, war vor allem die Befreiung von der Kriegswirtschaft.

Aber diese Erwartung mußte die Revolution enttäuschen; in der Zeit der furchtbarsten Lebensmittelnot konnte sie das zentrale Anforderungs- und Bewirtschaftstungssystem nicht entbehren. Die Versorgung der Städte und Industriegebiete, vor allem die Versorgung Wiens hätte in dem von allen Nachbarstaaten blockierten Lande ohne staatliche Bewirtschaftung nicht gesichert werden können. Der Bauer sah, daß die Revolution ihm die „Freiheit“, die er meinte, verweigerte. Er sah, daß statt der militärischen Requisitionskommanden nunmehr die Arbeiterräte die Aufbringung erzwangen, den Schleichhandel verfolgten, die Übertretung der Höchstpreisvorschriften bekämpften. Der Bauer erlebte es gelegentlich, daß, wie früher k. k. Truppen, jetzt Volkswehrabteilungen in sein Dorf gelegt wurden, bis er das geforderte Getreide. Vieh. Holz ablieferte. Der Bauer sah im Prolelariat den Feind, der ihm die freie Verfügung über seine Arbeitsprodukte verweigerte. Der Bauer begann nun, das Proletariat zu hassen, wie er vordem den Militarismus gehaßt hat.

Andere Erscheinungen vertieften noch den Haß der Bauernschaft gegen das Proletariat. Die Revolution hatte auch die Arbeiter der Landwirtschaft geweckt. Sie begannen, sich zu organisieren. Sie stellten Lohnforderungen. Sie setzten sie gelegentlich durch Streiks durch. Zuweilen wurden die Bauern gezwungen, förmliche Kollektivverträge mit ihren Knechten und Mägden zu schließen, in denen genau festgesetzt wurde, welche Löhne das „Großmensch“ und das „Kleinmensch“ zu bekommen haben. Der Bauer sah, daß die Bewegung des Proletariats in sein eigenes Heim überzugreifen, seine eigene Autorität zu bedrohen begann.

Die dem Proletariat feindliche Stimmung der Bauernschaft wurde von dem Stadtbürgertum der Alpenländer und vom Klerus genährt. Das städtische Händlertum war der natürliche Verbündete des Bauern gegen das zentrale Bewirtschaftungssystem. Die städtische Bourgeoisie sah in der Bauernmasse ihre Stütze gegen das Proletariat. Der Klerus stärkte und organisierte die bäuerliche Bewegung als die mächtigste Gegenkraft gegen die proletarische Revolution. Zeitung und Predigt erzählten dem Bauern, daß sein Getreide, Vieh und Holz zu dem Zwecke requiriert werden, damit in Wien hunderttausende Arbeitslose, vom Staat ernährt, müßig gehen können; daß die Kriegswirtschaft, die den Bauern bedrückt, von einer Allianz der jüdischen Kriegsgewinner in den Zentralen mit den jüdischen, Arbeiterführern in der Regierung aufrechterhalten werde; daß die Revolution sein Eigentum sozialisieren und seine Kirche zerstören wolle.

Der Bauer setzte sich zur Wehr. Er sabotierte die Aufbringung. Er setzte den Aufbringungsorganen zuweilen gewaltsamen Widerstand entgegen, Bauernräte wurden organisiert, die in den Bezirks- und Landeswirtschaftskommissionen hartnäckigen Kampf gegen die Arbeiterräte führten. Suchten die Arbeiterräte die Bezirkshauptleute zu terrorisieren, so taten die Bauernräte dasselbe; Arbeiter- und Bauernräte standen nun im Kampfe um die Macht über den Verwaltungsapparat. Und der Bauer wußte sich stark. Er hatte Lebensmittel genug in seinem Speicher; der Stadt aber kann er die Zufuhr sperren. Nicht die Bauern, sondern die Arbeiter werden hungern, wenn es zum Bürgerkrieg kommt. Und auch an Waffen fehlte es ihm nicht! Als sich die Armee auflöste, hatten die zurückflutenden Soldaten in Tirol, Kärnten, Steiermark ihre Waffen an die Bauern verkauft oder sie, den Bauern zur Beute, liegen lassen; große Waffenbestände waren in den Händen der Bauernschaft. In Kärnten und in Steiermark hatten sich zur Abwehr der Einfälle der Jugoslawen militärisch geordnete bäuerliche Heimatwehren gebildet, die, ursprünglich gegen den äußeren Feind organisiert, sehr bald der heimischen Arbeiterschaft als bewaffnete Klassenorganisationen des Bauerntums entgegentraten.

Mit dem Gegensatz der Bauernschaft gegen die Arbeiterklasse war der Gegensatz der Länder gegen Wien eng verknüpft. Die Versorgung Wiens hatte vor dem Zusammenbruch vornehmlich auf den Zufuhren aus den Sudetenländern, Galizien und Ungarn beruht; nunmehr von diesen Gebieten abgeschnitten, mußte Wien weit mehr Nahrungsmittel, Brennholz und Rohstoffe als vordem von den innerösterreichischen Ländern beanspruchen. Und das gerade in einer Zeit, in der in Wien infolge des Kohlen- und Rohstoffmangels die Produktion ruhte; in der Wien daher den Ländern, deren Agrarprodukte es beanspruchte, keine Gegenleistung zu bieten vermochte. Wien mußte daher den Ländern als ein Parasit erscheinen, der, ohne selbst zu arbeiten, von ihrem Körper zehren wollte. Die Länder, die selbst an allem Notwendigen Mangel hatten, setzten sich gegen die Ansprüche Wiens zur Wehr. Die Arbeiterschaft selbst machte damit den Anfang. Die Arbeiterräte verhinderten die Ausfuhr von Nahrungsmitteln aus den einzelnen Ländern; ihre Kontrollorgane übernahmen die Bewachung der Eisenbahnlinien. Die Bauernschaft unterstützte diese Absperrungspolitik der Arbeiterräte. Ihr erschien die verhaßte Kriegswirtschaft, die die Republik aufrechterhielt, als ein Requisitionsapparat, dazu bestimmt, die Länder zugunsten Wiens zu plündern. Die Losreißung von Wien bedeutete ihr vor allem die Befreiung von der Kriegswirtschaft. Konnte sie aber die Kriegswirtschaft nicht sofort zertrümmern, so wollte sie wenigstens die Ablieferung auf das zur Versorgung der Städte des eigenen Landes erforderliche Maß reduzieren; sie wollte nicht neben den Städten im eigenen Lande auch noch Wien ernähren. So heftig die Kämpfe zwischen Arbeiterräten und Bauernräten um die Ablieferung waren, darin waren sie einig, daß das Abgelieferte nicht über die Landesgrenzen ausgeführt werden solle. Der Kampf zwischen der Arbeiterschaft und der Bauernschaft um den Fortbestand der Kriegswirtschaft führte zunächst zur Verländerung der Kriegswirtschaft. Die Länder sperrten sich gegeneinander und gegen Wien ab. Der Auflösung des großen österreichisch-ungarischen Wirtschaftsgebietes in die nationalen Wirtschaftsgebiete folgte die Auflösung des deutschösterreichischen Wirtschaftsgebietes in die zwerghaften Wirtschaftsgebiete der Länder.

Die neuen autonomen Landesregierungen, die aus der Revolution hervorgegangen waren, waren die Zentren dieses wirtschaftlichen Partikularismus. Da sich die Staatsregierung gegen die wirtschaftliche Absonderung der Länder zur Wehr setzen mußte, gerieten die Landesregierungen in schroffen Gegensatz gegen sie. Sie verweigerten ihren Weisungen den Gehorsam. Sie drohten mit dem Abfall von Wien. Die Bourgeoisie förderte die Auflehnung der Länder gegen die Staatsregierung; in den industriearmen Ländern fand sie in der großen bäuerlich-bürgerlichen Mehrheit das feste Bollwerk gegen die von dem Wiener Proletariat beherrschte Staatsregierung. Hatte die elementare Aktion der Arbeiterräte selbst den wirtschaftlichen Partikularismus der Länder gefestigt, so war es nun eben der Länderpartikularismus, in dem sich die Bourgeoisie, auf die Bauernschaft gestützt, gegen die in Wien konzentrierte Kraft der proletarischen Revolution zu verschanzen begann.

Deutschösterreich zerfällt in zwei an Volkszahl beinahe gleiche Gebiete: einerseits das große Industriegebiet, das Wien, das Viertel unter dem Wienerwald und Obersteiermark umfaßt; anderseits das große Agrargebiet, das alle anderen Länder bilden. In dem großen Industriegebiet war alle tatsächliche Macht in den Händen des Proletariats. In dem großen Agrargebiet, in dem nur wenige volkreiche Städte und Industriegebiete in die bäuerliche Landwirtschaft eingesprengt sind, war das Proletariat zwar nicht machtlos, bildete aber doch die Bauernschaft die stärkste, nicht niederzuwerfende Macht. Es war unmöglich, das große Industriegebiet gegen die Arbeiterschaft, es war ebenso unmöglich, das große Agrargebiet gegen die Bauernschaft zu regieren. Die wirtschaftliche Struktur des Landes stellte so einen Gleichgewichtszusland zwischen den Klassenkräften her, den nur die Gewalt im blutigen Bürgerkrieg hätte aufheben können. Nach solchem Bürgerkrieg drängten breite Massen des Proletariats. Der Proletarier in Wien, in Wiener-Neustadt, in Donawitz sah nur seine gewaltige Machtstellung in dem Industriegebiet. Er sah nicht die unerschütterliche Macht der Bauernschaft in den Agrargebieten. Er sah noch weniger die außerhalb der Staatsgrenzen drohende Macht des Ententeimperialismus. Darum hielt er die Aufrichtung der Diktatur des Proletariats für möglich.

Aber der Versuch der Aufrichtung der Rätediktatur wäre nichts anderes gewesen als die Selbstaufhebung der Revolution. In dem großen Industriegebiet hätte das Proletariat seine Diktatur aufrichten können, ohne auf unüberwindlichen Widerstand zu stoßen. An dem großen Agrargebiet wäre der Versuch gescheitert. Dort war die Bauernschaft stark genug, das Proletariat niederzuhalten. Die Länder hätten die Proklamierung der Diktatur beantwortet mit ihrer Trennung von Wien, mit ihrem Abfall vom Staate. Sie hätten uns Verkehrswege und Zufuhr gesperrt. Sie hätten das sich dagegen auflehnende Proletariat in den Ländern selbst niedergeworfen. Der Kampf gegen die Konterrevolution der agrarischen Länder hätte den blutigen Bürgerkrieg unvermeidlich gemacht. Der Bürgerkrieg aber hätte die Entente auf den Plan gerufen. Sie konnte nicht dulden, daß der Verkehr in dem Lande, das ihren Verkehrsweg von der Adria nach der Tschechoslowakei und nach Polen darstellt, durch Bürgerkrieg unterbrochen wird. Sie war entschlossen, die Fortentwicklung der Revolution über die Schranken der Demokratie hinaus nicht zuzulassen. Wäre die von ihr geforderte „Ordnung und Ruhe“ gestört worden, dann hätte sie die Lebensmittel- und Kohlenzüge eingestellt und damit das ganze Industriegebiet sofort in die Hungerkatastrophe gestürzt; hätte sie Tschechen und Jugoslawen die Erlaubnis zum Vormarsch gegeben und uns damit in Krieg verwickelt; hätte sie die wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte und Städte durch italienische Truppen besetzen lassen und dadurch der Revolution ein Ende gemacht. Die Diktatur des Proletariats hätte geendet mit der Diktatur der fremden Besetzungskommanden.

Breite Massen des Proletariats sahen diese Gefahren nicht. Die Sozialdemokratie mußte sie sehen und hat sie gesehen. So war der Sozialdemokratie eine doppelte Aufgabe gestellt: einerseits die gewaltige revolutionäre Gärung im Proletariat, die tiefe Erschütterung der ganzen kapitalistischen Gesellschaftsordnung auszunützen, um dem Proletariat möglichst starke und dauerhafte Machtpositionen im Staat und in den Gemeinden, in den Fabriken, in den Kasernen und in den Schulen zu erobern; anderseits aber zu verhindern, daß sich diese revolutionäre Gärung bis zum offenen Bürgerkrieg, bis zum offenen Zusammenstoß mit der Übermacht des Ententeimperialismus weiterentwickelt und damit die Hungerkatastrophe, die Invasion, die Konterrevolution herbeiführt.

Sollte der Machtkampf der Klassen nicht mit den Waffen, so mußte er in den Formen der Demokratie geführt und entschieden werden. Darum war es unsere erste Aufgabe, die Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung zu organisieren. Am 16. Februar 1919 fanden die Wahlen statt. Sie konnten freilich nur in Innerösterreich stattfinden; die deutschen Gebiete der Sudetenländer waren schon von den Tschechen besetzt. Auf die Sozialdemokraten entfielen 1.211.814, auf die Christlichsozialen 1.068.382, auf die deutschnationalen Parteien 545.938 Stimmen. Von den 159 Mandaten fielen den Sozialdemokraten 69, den Christlichsozialen 63, den deutschnationalen Parteien, die sich nunmehr Großdeutsche nannten, 24 zu. Die Deutschnationalen, in der Provisorischen Nationalversammlung noch die stärkste Partei, wurden in der Konstituierenden Nationalversammlung zur schwächsten. Die Sozialdemokraten, in der Provisorischen Nationalversammlung noch die schwächste unter den drei großen Parteien, wurden in der Konstituierenden Nationalversammlung zur stärksten. Die absolute Mehrheit hatten wir in dem neugewählten Parlament freilich nicht. Wir hätten sie erobern können, wenn das industriereiche Deutschböhmen mit uns hätte wählen können; die tschechische Okkupation Deutschböhmens hat dem Bürgertum und der Bauernschaft die Mehrheit in der deutschösterreichischen Nationalversammlung gerettet. Aber hatten wir auch nicht die Mehrheit, so waren wir doch die stärkste Partei; die Führung des neuen Parlaments fiel uns zu.

Die Wahlen waren zunächst ein Volksentscheid zwischen Monarchie und Republik gewesen. Sein Ergebnis war unzweideutig. In ihrem ersten Gesetzesbeschluß wiederholte die neugewählte Nationalversammlung feierlich die Beschlüsse des 12. November: die Erklärung Deutschösterreichs zur demokratischen Republik und den Anschluß an Deutschland. Karl Habsburg hatte am 11. November versprochen, sich der Entscheidung des deutschösterreichischen Volkes über seine Staatsverfassung zu unterwerfen. Diese Entscheidung hatte das Volk nunmehr gefällt. Renner erklärte dem Habsburger nun, er könne in Deutschösterreich nur bleiben, wenn er sein Versprechen erfüllt, für sich und sein Haus dem Thron entsagt. Karl Habsburg lehnte die geforderte Thronentsagung ab und fuhr am 23. März unter englischem Schutz in die Schweiz. Die Nationalversammlung beantwortete diesen Entschluß des Habsburgers mit dem Gesetz vom 2. April 1919, das alle Habsburger des Landes verwies und ihr Familienvermögen zugunsten der Kriegsbeschädigten beschlagnahmte.

Zugleich ging die Nationalversammlung daran, die Republik einzurichten. Im November hatte die Provisorische Nationalversammlung selbst die Macht übernommen; ihr Exekutivorgan, der aus allen Parteien zusammengesetzte Staatsrat, war die eigentliche Regierung gewesen, die Staatssekretäre waren bloß seine Organe. Diese Verfassung, die den regierenden Staatsrat durch Proporzwahlen aus dem Parlament hervorgehen ließ, war den Bedürfnissen der Zeit der Staatsbildung, der Konstituierung des Staates angepaßt gewesen, die der Kooperation aller Parteien, des Zusammenwirkens der „Bürger, Bauern und Arbeiter“ bedurfte. Sie war nicht mehr angemessen einer Zeit, in der sich auf dem Boden des bereits konstituierten Staates die Klassengegensätze weiterentwickelten und das Parlament in regierende Mehrheit und Opposition scheiden mußten. Daher wurde durch das Verfassungsgeselz vom 11. März der Staatsrat aufgehoben. Einige seiner Befugnisse wurden dem Präsidenten der Nationalversammlung: übertragen, der damit zugleich die Funktion eines Präsidenten der Republik übernahm: zum ersten Präsidenten wurde Seitz gewählt. Die eigentliche Regierungsgewalt aber ging auf die Staatsregierung über, die nunmehr unmittelbar vom Parlament gewählt wurde. Die Zeit der Kooperation aller Parteien war damit vorüber. Es galt nunmehr, innerhalb des Parlaments, eine Mehrheit zu bilden, die die Regierung wählen und stützen sollte.

Die Regierung stand damals immer wieder den leidenschaftlichen Demonstrationen der Heimkehrer, der Arbeitslosen, der Kriegsinvaliden gegenüber. Sie stand der vom Geiste der proletarischen Revolution erfüllten Volkswehr gegenüber. Sie stand täglich schweren, gefahrdrohenden Konflikten in den Fabriken, auf den Eisenbahnen gegenüber. Und die Regierung hatte keine Mittel der Gewalt zur Verfügung: die bewaffnete Macht war kein Instrument gegen die von revolutionären Leidenschaften erfüllten Proletariermassen. Nur durch den täglichen Appell an die eigene Einsicht, an die eigene Erkenntnis, an das eigene Verantwortungsgefühl hungernder, frierender, durch Krieg, und Revolution aufgewühlter Massen konnte die Regierung verhüten, daß die revolutionäre Bewegung in einem die Revolution vernichtenden Bürgerkrieg endet. Keine bürgerliche Regierung hätte diese Aufgabe bewältigen können. Sie wäre wehrlos dem Mißtrauen und dem Haß der Proletariermassen gegenübergestanden. Sie wäre binnen acht Tagen durch Straßenaufruhr gestürzt, von ihren eigenen Soldaten verhaftet worden. Nur Sozialdemokraten konnten diese Aufgabe von beispielloser Schwierigkeit bewältigen. Nur ihnen vertrauten die Proletariermassen. Nur sie konnten die Massen überzeugen, daß die entsetzliche Not dieses ersten Winters nach dem Kriege nicht die Schuld der Regierung, sondern die unentrinnbare Wirkung weltgeschichtlicher Umwälzung, daß sie nicht durch gewaltsamen Umsturz zu brechen, sondern nur allmählich zu überwinden war. Nur Sozialdemokraten konnten wild erregte Demonstralionen durch Verhandlungen und Ansprachen friedlich beenden, nur Sozialdemokraten konnten sich mit den Arbeitslosen verständigen, die Volkswehr führen, die Arbeitermassen von der Versuchung zu revolutionären Abenteuern, die der Revolution zum Verhängnis geworden wären, abhalten. Die Funktion, die damals die wichtigste Funktion der Regierung war, konnte nur von Sozialdemokraten erfüllt werden. Die tiefe Erschütterung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung fand darin ihren anschaulichsten Ausdruck, daß eine bürgerliche Regierung, eine Regierung ohne Sozialdemokraten schlechthin unmöglich geworden war.

Aber so wenig wie eine bürgerliche Regierung möglich war, so wenig war eine rein sozialdemokratische Regierung möglich. So wenig das große Industriegebiet Wiens, Wiener-Neustadts und der Obersteiermark eine rein bürgerliche Regierung ertragen hätte, so wenig hätte das große Agrargebiet der Länder eine rein sozialdemokratische Regierung ertragen. Eine rein sozialdemokratische Regierung hätte jeden Einfluß auf die Landesregierungen verloren, sie hätte den Abfall der Länder nicht zu hindern vermocht, sie wäre ohnmächtig der offenen Auflehnung der Bauernschaft gegenübergestanden. Ohne Mehrheit im Parlament, hätte sie zu diktatorischen Mitteln greifen und dadurch den Bürgerkrieg entfesseln müssen, in dem die Revolution untergegangen wäre.

Es war keine Regierung möglich ohne und gegen die Vertreter der Arbeiter. Es war keine Regierung möglich ohne und gegen die Vertreter der Bauern. Eine gemeinsame Regierung der Arbeiter und der Bauern war die einzige mögliche Lösung. Arbeiter und Bauern mußten sich in der Regierung zu verständigen, sie mußten gemeinsam zu regieren versuchen, wenn sie nicht binnen kurzem im offenen Bürgerkrieg einander gegenüberstehen sollten.

Auf dem Lande waren die Christlichsozialen die Massenpartei der Bauern. Die Bauernvertreter, die die überwiegende Mehrheit der christlichsozialen Abgeordneten bildeten, standen unter dem Drucke der mächtigen Bewegung, die durch die Bauernschaft ging. Der zwieschlächtige Charakter dieser Bewegung bestimmte die Politik der christlichsozialen Bauernvertreter. Gegen die Diktatur des Proletariats hätten sie die Bauernschaft zum Bürgerkrieg aufgerufen; auf dem Boden einer radikalen, republikanischen, antimilitaristischen und antiplutokratischen Demokratie wünschten sie mit dem Proletariat zusammenzuwirken. In ganz anderer Stimmung waren die christlichsozialen Abgeordneten des städtischen, vor allem des Wiener Bürgertums. Dem Bürgertum bedeutete die Revolution nichts als den Zusammenbruch seiner Herrschaft in seinen Gemeinden und in seinen Betrieben, seine Unterwerfung unter die starke Macht der Arbeiterschaft. Daher war es in offen konterrevolutionärer Stimmung, stand es ganz unter dem Einfluß der monarchistischen Kreise: des hohen Klerus, des klerikalen Adels, der konterrevolutionären Offiziere. Während die christlichsozialen Bauernvertreter gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Verfolgung der Kriegsverbrechen der Generale und Offiziere forderten, traten die städtischen Christlichsozialen als Beschützer und Verteidiger der Offiziere auf. Bei der Beratung der Gesetze über die Landesverweisung der Habsburger, über die Beschlagnahme ihres Vermögens, über die Abschaffung der Adelstitel traten bäuerliche und städtische Christlichsoziale einander offen entgegen. Der Machtapparat der Kirche konnte die eine Zeitlang drohende Spaltung der christlichsozialen Partei verhindern; aber die Zerklüftung der christlichsozialen Partei war doch tief genug, daß wir uns, ihren städtischen Flügel abseits lassend, mit ihrem bäuerlichen Flügel verständigen konnten. Die Kooperation der Arbeiter und der Bauern fand ihren parlamentarischen Ausdruck in der Koalition der Sozialdemokratie mit der von ihrer bäuerlichen Mehrheit beherrschten christlichsozialen Partei.

Innerhalb dieser Koalition aber waren die Kräfte keineswegs gleich. Die gewaltige revolutionäre Bewegung in den Proletariermassen nickte die Bauernschaft in die Defensive; so war auch innerhalb der proletarisch-bäuerlichen Koalition die Partei des Proletariats der bei weitem stärkere Partner. Dieses Machtverhältnis innerhalb der Koalition spiegelte sich in der Zusammensetzung der Koalitionsregierung, die am 15. März 1919 gewählt wurde. Alle Staatsämter, die die Herrschaftsfunktionen des Staates auszuüben haben, fielen den Sozialdemokraten zu: Renner übernahm die Kanzlerschaft und das Staatsamt des Innern, Deutsch das Heerwesen, ich das Staatsamt des Äußern. Außerdem sicherten wir uns die Ressorts, in denen die soziale Revolution zunächst ihre Betätigung suchen mußte: Hanusch übernahm das Staatsamt für soziale Verwaltung, Glöckel das Staatsamt für Unterricht, ich die Leitung der neugegründeten Sozialisierungskommission. Von den Christlichsozialen trat der Vorarlberger Bauer Fink als Vizekanzler in die Regierung ein, der niederösterreichische Bauernführer Stöckler übernahm das Staatsamt für Landwirtschaft, Zerdik das Handels-, Miklas das Kultusamt. In dieser Verteilung der Staatsämter drückte sich die führende Stellung aus, die der Sozialdemokratie zugefallen war. Mit der Bildung der ersten Koalitionsregierung hatte die Arbeiterklasse zwar nicht die Alleinherrschaft, aber doch die Vorherrschaft in der Republik erobert.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008