Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Dritter Abschnitt
Die Vorherrschaft der Arbeiterklasse

§ 10. Zwischen Imperialismus und Bolschewismus


Literatur:

Tardieu, La Paix, Paris 1921. – Lansing, Die Versailler Friedensverhandlungen, Berlin 1921. – Nitti, Das friedlose Europa, Frankfurt a.M. 1921. – Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, München 1920. – Bericht Beneš’ und Kramář über die Friedensverhandlungen, Národní Shromáždění v prvním roce Republiky, Praha 1919. – Bericht über die Friedensverhandlungen, 379 der Beilagen zu den Protokollen der Konstituierenden Nationalversammlung. – Bauer, Acht Monate auswärtiger Politik, Wien 1919.

Freißler, Vom Zerfall Österreichs bis zum tschechoslowakischen Staate, Berlin 1921. – Wutte, Kärntens Freiheitskampf, Klagenfurt 1922. – Hülgerth, Der Kärntner Freiheitskampf 1918-1919, Carinthia, 111. Jahrgang. – Endor, Mémoire du Conseil d’Etat du Vorarlberg à la Societé des Nations, Berne 1920.

* * *, Entstehung und Zusammenbruch der ungarischen Rätediktatur, Wien 1919. – Jászi, Magyariens Schuld, Ungarns Sühne. München 1923. – Szanto, Klassenkämpfe und die Diktatur des Proletariats in Ungarn, Wien 1920. – Bettel- heim, Zur Krise der kommunistischen Partei Ungarns, Wien 1922. – Braunthal, Die Arbeiterräte in Deutschösterreich, Wien 1919. – Braunthal, Kommunisten und Sozialdemokraten, Wien 1920. – Deutsch, Aus Österreichs Revolution, Wien 1921. – Dokumente zum 15. Juni, Der Kampf, 1919. – Radek, Die Lehren eines Putschversuches, Kommunistische Internationale, 2. Jahrgang, Nr. 9.



Aus den nationalen Kämpfen in der Habsburgermonarchie war der Weltkrieg hevorgegangen. Der Weltkrieg drohte in den Krieg zwischen den Nationen der Habsburgermonarchie umzuschlagen. Während des Weltkrieges schon waren die Soldaten Habsburgs mit den Waffen in der Hand einander entgegengetreten. Am Ural und in Sibirien hatten sie gegeneinander gekämpft: die Deutschen und Magyaren unter roter, die Tschechen und Jugoslawen unter weißer Flagge. Als im Oktober 1918 die Fesseln zerbrachen, die die zehn Nationen unter Habsburgs Herrschaft aneinander gekettet hatten, war es die größte von allen Gefahren, daß die befreiten Nationen in blutigem Kriege gegeneinander um das Erbe der Habsburgermonarchie ringen werden.

Der alte Haß der slawischen Nationen gegen Wien, den Sitz und das Zentrum der Fremdherrschaft, er kehrte sich jetzt gegen die junge Republik. Das deutschösterreichische Proletariat trat schuldlos das Erbe des Hasses der Nachbarvölker an, mit dem die Schuld der deutschösterreichischen Bourgeoisie das deutschösterreichische Volk belastet hatte. Nicht nur im Herbst 1918, sondern noch in der ganzen ersten Hälfte des Jahres 1919 drohte uns immer wieder die Gefahr kriegerischer Verwicklungen mit den Tschechen und den Südslawen. Jede solche kriegerische Verwicklung aber hätte für die junge Republik den wirtschaltlichen Tod, den militärischen Zusammenbruch, den Untergang unserer Selbständigkeit bedeutet: den wirtschaftlichen Tod, denn der Krieg hätte uns die Kohlen- und Lebensmittelzuschübe gesperrt; den militärischen Zusammenbruch, denn der Krieg hätte unser kampfmüdes, infolge der Niederlage und des Elends kleinmütig gewordenes Volk den durch ihren historischen Sieg vom Siegesrausch, von kriegerischer Stimmung erfüllten Nachbarvölkern, er hätte unsere schwachen Volkswehren den auf dem italienischen Kriegsschauplatz fest zusammengeschweißten tschechischen Legionen, dem kriegserprobten serbischen Heere entgegengestellt; den Untergang unserer Selbständigkeit, denn der Krieg hätte mit der Besetzung unseres Landes durch fremde Armeen geendet. Den Frieden mit den Nachbarvölkern zu erhalten, war unsere wichtigste Aufgabe. Denn nur der Friede sicherte uns das bißchen Brot. Nur der Friede ermöglichte uns die Behauptung unserer jungen Freiheit.

Das alte Reich war zerfallen. Aber sein Verwaltungsapparat hatte es überlebt. In Wien bestanden noch zentrale Behörden und Anstalten, die noch Geschäfte abzuwickeln hatten, die die wirtschaftlichen, rechtlichen, militärischen Interessen aller Nachfolgestaaten berührten. Wollten wir Konflikte mit den Nachfolgestaaten vermeiden, so mußten wir einen Apparat schaffen, der eine möglichst reibungslose Abwicklung dieser noch gemeinsamen Geschäfte ermöglichen konnte. Nicht ohne große Mühe, nicht ohne schwere Opfer ist dies gelungen. Es gelang zunächst, die Wiener Gesandten aller Nachfolgestaaten zu einer Gesandtenkonferenz zu vereinigen, die sich allwöchentlich im Staatsamt des Äußeren versammelte und die oberste Leitung der Abwicklung der noch gemeinsamen Angelegenheiten übernahm. Sie setzte dann als ihre Organe eine Internationale Liquidationskommission und internationale Bevollmächtigtenkollegien für die einzelnen „liquidierenden Ministerien“ ein. Es war ein umständlicher und kostspieliger Mechanismus. Und es war ein schweres Opfer, daß wir bis zum Friedensschluß von St. Germain neben unseren Staatsämtern auf unserem Boden auch noch „liquidierende Ministerien“ dulden mußten, die unter der Mitkontrolle der Nachfolgestaaten standen. Aber nur dieser Mechanismus hat es ermöglicht, die alte gemeinsame Verwaltung ohne gefährliche Konflikte mit den Nachfolgestaaten abzuwickeln, ihre Geschäfte allmählich in die Verwaltung der Nationalstaaten überzuführen.

Ungleich ernstere Konflikte gingen aus dem Streite um die Grenzen der neuen Staaten hervor. Wir beanspruchten alle Gebiete mit deutscher Bevölkerungsmehrheit. Wir forderten, daß diese Gebiete unter unserer Verwaltung bleiben, bis der Friedensvertrag über ihre staatliche Zugehörigkeit entscheidet. Wir verlangten, daß diese Entscheidung über alle bestrittenen Gebiete durch freie Volksabstimmung unter neutraler Kontrolle erfolgen solle. Die Tschechen und die Jugoslawen lehnten diese unsere Forderungen ab. Sie suchten sich noch vor dem Friedensschluß gewaltsam in den Besitz der von ihnen beanspruchten Gebiete zu setzen.

Zunächst gingen die Tschechen zum Angriff gegen Deutschböhmen und das Sudetenland vor. Diese beiden Gebiete waren von uns räumlich vollständig getrennt. Wir konnten ihnen keine Waffen liefern. Wir konnten ihre Lcbensmittelversorgung nicht organisieren. Nicht auf Deutschösterreich, sondern nur auf das Deutsche Reich gestützt, hätten sich Deutschböhmen und das Sudetenland verteidigen können. Aber das Deutsche Reich, selbst in schwerster Bedrängnis, wagte es nicht, in die Kämpfe außerhalb der Reichsgrenzen mit Waffen- und Lebensmittelsendungen einzugreifen. So waren Deutschböhmen und das Sudetenland auf sich selbst gestellt. Die Tschechen sperrten ihnen zuerst die Lebensmittelzufuhr. Von den Agrargebieten Mittelböhmens und Mährens abgesperrt, gerieten sie in bitterste Not. Der Hunger lähmte die Widerstandskraft der Volksmassen. Und wenn, wie in Aussig, Hungersnot zu Plünderungen führte, rief, die deutsche Bourgeoisie selbst nach der tschechischen Okkupation. So konnten die tschechischen Truppen in der Zeit vom 28. November bis zum 16. Dezember Deutschböhmen und das Sudetenland besetzen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Die deutschböhmische Landesregierung flüchtete am 11. Dezember nach Dresden; die sudetenländische Landesregierung legte am 19. Dezember ihr Amt nieder. Aber hatten sich Deutschböhmen und das Sudetenland der tschechischen Okkupation nicht mit bewaffneter Hand erwehren können, so setzten sie der tschechischen Fremdherrschaft doch starken moralischen Widerstand entgegen. Dieser Widerstand erreichte seinen Höhepunkt im März 1919. Die Tschechoslowakei stempelte die Banknuten ab; den deutschen Gebieten war die Notenabstempelung als die wirtschaftliche Annexion verhaßt, die der militärischen Okkupation folgte. Zugleich trat am 4. März in Wien die Konstituierende Nationalversammlung zusammen; Deutschböhmen und das Sudetenland protestierten dagegen, daß die tschechische Okkupation ihnen die Teilnahme an der Wahl der Nationalversammlung verwehrt halle. Am 4. März ruhte in den besetzten Gebieten die Arbeit; durch den Generalstreik und große Massenkundgebungen demonstrierten die Arbeiter Deutschböhmens und des Sudetenlandes für ihre Zugehörigkeit zu Deutschösterreich. Die tschechischen Truppen zersprengten die demonstrierenden Massen; in Kaaden bezahlten 25, in Sternberg 16 Deutsche die Kundgebung mit ihrem Leben.

Nach der Besetzung Deutschböhmens und des Sudetenlandes gingen die Tschechen gegen den Böhmerwaldgau und den Znaimer Kreis vor. Hier handelte es sich um Gebiete, die an Ober- und Niederösterreich grenzen; hier waren wir vor die Frage gestellt, ob wir bewaffneten Widerstand leisten sollten Die Tschechen beriefen sich auf den Waffenstillstandsvertrag, der den Ententemächten das Recht gab, alle von ihnen als strategisch wichtig bezeichneten Punkte in Österreich zu besetzen; sie erklärten, daß sie die beiden Kreise auf Grund dieser Bestimmung des Waffenstillstandsvertrages als Ententemacht besetzen wollten. Und sie hatten bei diesem Vorgehen in der Tat die Unterstützung der Entente. Als sie bei Znaim und Nikolsburg auf Wiener Volkswehrkompagnien stießen, gingen den tschechischen Truppen französische Offiziere voraus, um zu markieren, daß die tschechische Okkupation im Namen der Entente, auf Grund des Vertrages von Villa Giusti erfolge. Erschwerte schon dies jeden Widerstand, so machte unsere wirtschaftliche Abhängigkeit von den tschechischen Kohlenzuschüben ihn geradezu unmöglich. Unsere Volkswehrformationen erhielten daher den Befehl, sich zurückzuziehen, falls die tschechischen Truppen unter der Führung von Ententeoffizieren vorstoßen. Auf diese Weise konnten die Tschechen die deutschen Grenzbezirke Südböhmens und Südmährens besetzen.

Trotz unseres Zurückweichens verwickelte uns die Besetzung der deutschen Gebiete der Sudetenländer in eine Reihe ernster Konflikte mit der Tschechoslowakei. Zweimal, Anfang Dezember und Anfang März, spitzten sich diese Konflikte gefährlich zu; da gab es Stunden, in denen wir ernste Kriegsgefahr zu befürchten Grund hatten. Dank der aus alter Parteigenossenschaft hervorgegangenen vertrauensvollen persönlichen Beziehungen, die zwischen Tusar, dem tschechischen Gesandten in Wien, und mir bestanden, und dank der Unterstützung der englischen und amerikanischen Vertreter in Wien ist es gelungen, diese Gefahr abzuwehren.

Ganz anders als im Norden entwickelte sich der Kampf um die Grenzen im Süden. Im Norden standen wir der tschechoslowakischen Staatsgewalt gegenüber, die sich überaus schnell konsolidiert hatte, uns vom Anfang an militärisch überlegen war und von der wir vom Anfang an wirtschaftlich abhängig waren. Im Süden dagegen vollzog sich die Staatsbildung ungleich schwieriger. Der am 29. Oktober 1918 begründete jugoslawische Staat umfaßte zunächst nur die südslawischen Gebiete Österreich-Ungarns; seine Begründer wollten erst von Macht zu Macht mit Serbien über den Zusammenschluß verhandeln. Aber dieser jugoslawische Staat geriet vom Tage seiner Begründung an in schwerste Bedrängnis. Sofort nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Armee drangen italienische Truppen tief in das südslawische Gebiet ein. Italien erkannte die Übergabe der österreichisch-ungarischen Flotte an Jugoslawien nicht an und verlangte ihre Auslieferung auf Grund des Waffenstillstandsvertrages. Die vom Narodno Vijeće am 2. November angeordnete Mobilisierung mißlang; die kriegsmüden Bauern rückten nicht ein. Die Zentralregierung des Narodno Vijeće vermochte sich gegen die Landesregierungen – die Regierung des Banus in Agram, die Regierungen des Narodni Svet in Laibach und des Narodno Vijeće in Sarajewo – nicht durchzusetzen. So blieb dem Narodno Vijeće nichts anderes übrig, als sich Serbien in die Arme zu werfen. Am 24. November beschloß es die Vereinigung des jugoslawischen Staates mit Serbien; am 1. Dezember wurde sie in Belgrad proklamiert. Aber es dauerte viele Monate, ehe sich die Belgrader Zentralregierung die lokale Verwaltung der einzelnen südslawischen Länder wirklich unterordnen, ihre selbständigen Truppen dem Heere des Königreiches einfügen konnte. In den ersten Monaten nach dem Umsturz stand uns daher im Süden noch nicht die Belgrader Staatsgewalt, sondern noch die Laibacher slowenische Landesregierung gegenüber, deren selbständige Aktionen von der Belgrader Regierung desto argwöhnischer betrachtet und desto schwächlicher unterstützt wurden, je mehr die Kraft des südslawischen Königreiches durch seinen schweren Konflikt mit Italien gebunden war. Slowenien war ein militärisch ungleich schwächerer Gegner als die Tschechoslowakei und von Slowenien waren wir nicht in gleichem Maße wirtschaftlich abhängig als von der Tschechoslowakei. So konnten wir im Süden ungleich wirksameren Widerstand leisten als im Norden. Aber freilich, auch die Möglichkeiten dieses Widerstandes waren eng begrenzt; denn in dem Maße, als sich im Verlauf des Jahres 1919 die neue staatliche Ordnung im Süden konsolidierte mußten wir damit rechnen, daß uns im Falle einer ernsten Krise nicht mehr bloß die schwachen Kräfte Sloweniens gegenüberstehen werden, sondern die ungleich stärkeren Kräfte Großserbiens.

In den Tagen des Umsturzes besetzte der slowenische General Majstr nicht nur das slowenische Gebiet der Untersteiermark, sondern auch die deutschen Grenzstädte Marburg und Radkersburg. Zugleich schob er schwache Streitkräfte auch nach Kärnten vor. Hier aber stieß er sehr bald auf Widerstand.

Die Kärntner Wenden, von Krain durch die Mauer der Karawanken geschieden, ohne eigenes städtisches Zentrum, hatten an der nationalen: Bewegung der Slowenen Sehr geringen Anteil. In dem Bauernvölkchen war das Kärntner Heimatsgefühl stärker als das slowenische Nationalgefühl. Der Verlauf der Sprachgrenze in Kärnten macht eine reinliche Scheidung der beiden Nationen unmöglich; die windischen Bauern hätten an Slowenien nicht fallen können, ohne daß deutsche städtische Siedlungen unter slowenische Fremdherrschaft gefallen wären. Gegen eine solche Zerreißung des Landes lehnte sich der Kärntner Landespatriotismus auf. Als die Slowenen die Drau überschritten und Völkermarkt besetzten, als es offenbar wurde, daß sie einen Vorstoß gegen Klagenfurt vorbereiteten, entschlossen sich die Kärntner zum Kampf. Am 28. November 1918 erklärte der Landessoldatenrat, die Volkswehr sei zum Kampf gegen die slowenischen Übergriffe bereit. Am 5. Dezember faßte die Landesversammlung den Beschluß: „Ententetruppen sind ungehindert passieren zu lassen, südslawischen Truppen ist Widerstand zu leisten.“ Als am 14. Dezember ein südslawisches Halbbataillon Grafenstein, 15 Kilometer östlich von Klagenfurt, besetzte, griff die Volkswehr das Halbbataillon an und nahm es gefangen. Wenige Tage später erhob sich die Bevölkerung des Lavanttales und nahm einen großen Teil der schwachen slowenischen Besatzung gefangen. Nun entschloß sich der Landesbefehlshaber Oberst Ludwig Hülgerth zu einem größeren Angriff. Der Angriff begann am 5. Jänner. Die Volkswehr, durch Freiwilligenformationen verstärkt, ging in vier Gruppen vor: die Gailtaler Gruppe nahm die slowenische Besatzung in Arnoldstein gefangen und, rückte gegen Fürnitz vor; das Villacher Volkswehrbataillon drang bis über den Faakersee hinaus vor; die Veldener Gruppe erstürmte die Brücke von Rosegg und vereinigte sich in Rosenbach mit der Villacher Volkswehr; endlich gelang es Klagenfurter Volkswehrbataillonen und Freiwilligenformationen, die Hollenburger Brücke und Ferlach zu nehmen. Damit war; die südslawische Besetzung auf den südöstlichen Teil des Landes und den Brückenkopf von Völkermarkt beschränkt. Dieser Zustand wurde durch den am 13. Jänner abgeschlossenen Waffenstillstand vorläufig festgelegt.

Indessen war es uns gelungen, die amerikanische Studienkommission,. die, von Professor Coolidge geleitet, in Wien weilte, für die Teilnahme an den Waffenstillstandsverhandlungen zu gewinnen. Die Verhandlungen führten zu dem Ergebnis, daß die Demarkationslinie durch Schiedspruch des amerikanischen Oberstleutnants Miles festgesetzt werden solle. Miles bereiste zu diesem Zweck Kärnten. Seine Reise hat sehr viel dazu beigetragen, die Friedenskonferenz richtig über Kärnten zu unterrichten; sein offenbar Deutschösterreich günstiger Schiedsspruch aber ist infolge südslawischen Einspruchs in Paris nie veröffentlicht worden. Daher drohten die Kämpfe von neuem auszubrechen. Beide Teile rüsteten. Im April entschlossen sich die Südslawen zu einem Angriff auf Klagenfurt.

Am 29. April griffen die Jugoslawen längs der ganzen Front an. Es gelang ihnen, von dem Völkermarkter Brückenkopf aus in die Nähe von Klagenfurt vorzudringen. Die Gefahr schien groß. Wir schickten den Kärtnern Wiener Volkswehr, Geschütze und Artilleriemunition zu Hilfe. Indessen war es den Kärntnern bereits gelungen, den feindlichen Angriff zum Halten zu bringen. Sobald die Verstärkungen eingelangt waren, konnte Oberst Hülgerth zum Gegenangriff übergehen. Am 2. Mai wurde der Brückenkopf von Völkermarkt angegriffen und genommen. Am 4. Mai griffen die Kärntner den linken Flügel der jugoslawischen Front an: St. Margareten im Rosental und die Hochfläche von Abtei wurden genommen und der stark befestigte Ausgang des Karawankentunnels bei Rosenbach erstürmt. Diese Niederlagen hatten die Widerstandskraft der jugoslawischen Truppen gebrochen. Sie begannen die Draulinie zu räumen. Sie wichen ohne Widerstand zurück.

Indessen hatte der General Segré, der Chef der Waffenstillstandskommission der Entente, eingegriffen. Er protestierte dagegen, daß wir die Draulinie überschreiten; er verlangte, daß eine neue Demarkationslinie in Waffenstillstandsverhandlungen unter seiner Vermittlung festgesetzt werde. Es schien uns notwendig, diesen Vorschlag anzunehmen. Nach dem errungenen Sieg, unter dem Einfluß der den Jugoslawen wenig geneigten italienischen Vermittlung, konnten wir eine für uns günstige Demarkationslinie erreichen. Lehnten wir dagegen Segrés Vermittlung ab, setzten wir die Verfolgung des geschlagenen Gegners fort, so mußten wir damit rechnen, .sehr bald nicht mehr bloß den schwachen jugoslawischen Kräften, die bisher in Kärnten gekämpft hatten – es waren im ganzen ungefähr 40 Kompagnien, unter ihnen höchstens drei serbische, mit nur 56 Geschützen – sondern starken regulären serbischen Streitkräften gegenüberzustehen. Wir forderten daher die Kärntner Landesregierung auf, den Vormarsch ihrer Truppen aufzuhalten. Aber die Kärntner wollten sich durch nichts und von niemand hindern lassen, ihren Sieg auszunützen. Während die Wiener Volkswehr, dem Befehl des Staatssekretärs für Heerwesen entsprechend, an der Draulinie stehen blieb, drängten die Kärntner trotz allen unseren Warnungen dem kampflos zurückweichenden Feinde bis zur Landesgrenze nach.

Es geschah nun, wovor wir Kärnten vergebens gewarnt hatten. Das vierte serbische Armeekommando zog neun Infanterieregimenter mit starker Artillerie zum Gegenangriff zusammen, der am 23. Mai einsetzte. Die Kärntner Truppen konnten der Übermacht nicht standhalten. Arn Abend des ersten Kampftages mußten sie sich an die Drau zurückziehen. Am 2. Juni gelang es dem Feind, unseren linken Flügel im Lavanttal aufzurollen. Infolge seiner Niederlage fiel am 4. Juni Völkermarkt in die Hände des Feindes. Daher mußte am folgenden Tage Klagenfurt geräumt werden; am 6. Juni wurde es von den Jugoslawen besetzt. In den folgenden Tagen besetzten italienische Truppen die Eisenbahn Tarvis-St. Veit. Damit war der Kärntner Abwehrkampf beendet.

Der Abwehrkampf hatte Kärnten 200 Tote und 800 Verwundete gekostet. Er halte nach zwei schönen Siegen schließlich doch mit einer Niederlage unserer Waffen geendet. Aber er war darum nicht erfolglos. Er hat den Verkauf der Friedensverhandlungen in Paris stark beeinflußt und auf diese Weise sehr viel dazu beigetragen, Kärnten vor der drohenden slawischen Fremdherrschaft zu retten. Die Regierung der Republik aber haben die Kämpfe in Kärnten vor eine sehr schwierige Aufgabe gestellt. Wir mußten einerseits Kärnten unterstützen, soweit dies möglich war; wir mußten anderseits verhindern, daß die lokalen Kämpfe in Kärnten uns in einen allgemeinen kriegerischen Konflikt mit dem jugoslawischen Königreich verwickeln. Denn ein Vorstoß regulärer serbischer Streitkräfte gegen Graz hätte den Zusammenbruch Deutschösterreichs herbeigeführt. Wir mußten daher den Konflikt in Kärnten lokalisieren, sein Übergreifen nach Steiermark verhüten, während der Kärntner Kämpfe die diplomatischen Beziehungen zu dem jugoslawischen Königreich aufrechterhalten und uns in mühevollen Verhandlungen immer wieder zu friedlicher Lösung des Konflikts bereit zeigen. Auf diese Weise ist es uns gelungen, den Bruch mit Jugoslawien zu verhindern und dadurch auch im Süden den Frieden, zu erhalten.

Aber die schweren Opfer, die wir im Norden wie im Süden hatten; bringen müssen, um der Gefahr des Krieges mit den slawischen Nachbarvölkern zu entgehen, genügten nicht, unsern Frieden zu retten. Denn die schwerste Kriegsgefahr ging nicht aus dem Streit um unsere Grenzen im Norden und im Süden hervor, sondern aus den Wirkungen der ungarischen Revolution auf unsere inneren Verhältnisse – Wirkungen, die uns in den Krieg Ungarns mit seinen Nachbarn zu verwickeln drohten.

Die Oktoberrevolution hatte in Ungarn wie in Deutschösterreich die Vorherrschaft der Arbeiterklasse begründet. Aber ungleich stärker als in Deutschösterreich drängte in Ungarn das Proletariat danach, seine Vorherrschaft zu seiner Alleinherrschaft, zu seiner Diktatur weiterzuentwickeln. Deutschösterreich konnte ohne die Nahrungsmittel- und Kohlenzuschübe der Entente nicht leben; Ungarn hatte Nahrungsmittel und Kohle im eigenen Lande. Das ungarische Proletariat fürchtete daher den Konflikt mit der Entente viel weniger als das deutschösterreichische. In Deutschösterreich stand das Proletariat einer in jahrzehntelanger politischer Entwicklung geschulten und organisierten, politisch sehr regsamen und starken Bauernschaft gegenüber; in Ungarn war die Bauernschaft noch politisch ungeschult und teilnahmslos, das flache Land fügte sich noch widerstandslos den politischen Entscheidungen der Hauptstadt. Das deutschösterreichische Proletariat verstand, daß es die Macht mit den Bauern teilen mußte; das ungarische Proletariat glaubte, die Bauern unschwer seiner Diktatur unterwerfen zu können. In Österreich war die nationale Revolution das Ergebnis jahrzehntelanger nationaler Kämpfe; die deutschösterreichische Revolution erkannte das Selbstbestimmungsrecht der Nachbarvölker an. Die ungarische Revolution dagegen betrachtete die Besetzung der Slowakei durch die Tschechen, Siebenbürgens, durch die Rumänen, der Bacska und des Banats durch die Jugoslawen als Annexion durch fremde Eroberer; sie verteidigte gegen sie die „Integrität“ des historischen Ungarn. Der Kampf um die „Integrität“ verknüpfte sich mit dem Kampfe um die Diktatur des Proletariats. Im Oktober hatte Ungarn seine Integrität dadurch zu retten gehofft, daß es die Herrenklassen, die die Träger des Bündnisses mit Deutschland und der Union mit Österreich gewesen waren, stürzte und die ententefreundliche Demokratie in die Macht setzte. Als aber die Entente ungarisches Land den Tschechen, den Rumänen, den Jugoslawen zusprach, wurde der Glaube an die Demokratie schwer erschüttert; Ungarn warf sich nun der kommunistischen Diktatur in die Arme, um im Bunde mit Sowjetrußland seine Integrität gegen die Entente zu verteidigen. Als am 20. März 1919 der französische Oberstleutnant Vyx der Regierung Károlyi eine Note überreichte, die die Demarkationslinie tief in magyarisches Gebiet vorschob, dankte die Regierung Károlyi ab und die Sozialdemokratie, allein nicht mehr stark genug, sich des kommunistischen Ansturms zu erwehren, unterwarf sich der kommunistischen Führung. Am 21. März wurde die ungarische Räterepublik aufgerichtet.

Aus dem Kampf um die Grenzen entstanden, geriet die Räterepublik sofort in den Krieg gegen Rumänien und gegen die Tschechoslowakei. Rumänen und Tschechen drangen zu der neuen, von der Entente festgesetzten Demarkationslinie vor. Die Rumänen griffen bei Debreczin, Großwardein, Arad an. Die Tschechen besetzten Salgotarjan, Miskolcz, Sarotalja-Ujhely. Ungarn war im Kriege um seine Grenzen. Ungarn brauchte Kriegsmaterial und Munitionsfabriken. In Deutschösterreich glaubte Ungarn zu finden, was es zur Kriegführung brauchte. Die ungarische Räteregierung versuchte es daher, in Deutschösterreich die Gründung einer Räterepublik zu erzwingen, die, mit der ungarischen Räterepublik verbündet, ihr die Kriegsrüstung liefern sollte.

„In Österreich“, schrieb Ernst Bettelheim, „war die ganze Ausrüstung der imperialistischen Armee Österreich-Ungarns, ihre ganze Munition, ihre Waffen angehäuft; Zehntausende von Maschinengewehren, Tausende von Kanonen verschiedenen Kalibers; große Waffen- und Munitionsfabriken, von wo die im Rückzug befindlichen ungarischen roten Truppen hätten versorgt werden können. In Österreich war die Österreichisch-Ungarische Bank mit ihrer ganzen technischen Ausstattung. Der Fluch des weißen Geldes, das eine gegenrevolutionäre Wirkung hervorrief, wäre mit einem Schlage beseitigt worden. Österreich ist ein Industriestaat, und der ungarische Bauer wäre mit Hilfe der österreichischen Industrieartikel unzertrennbar an die proletarische Diktatur gekettet worden.“

Aber diese Bedeutung Deutschösterreichs für die Kriegführung Ungarns erkannte nicht nur Ungarn, es erkannten sie auch Ungarns Gegner. Es war vom ersten Augenblick an klar: die Proklamierung der Räterepublik in Wien bedeutet die Allianz Deutschösterreichs mit Ungarn; die Allianz mit Ungarn bedeutet den Krieg mit der Tschechoslowakei, bedeutet die Einstellung der Kohlen- und Lebensmittelzufuhr, bedeutet den Vormarsch der tschechischen Legionen gegen Wien.

Sofort nach der Märzrevolution wandte sich die ungarische Räteregierung an uns. Wir verweigerten der proletarischen Revolution in Ungarn nicht unsere Unterstützung. Während alle anderen Staaten die ungarische Räterepublik blockierten, ließen wir in Wien eine Gesandtschaft und eine Handelsvertretung der Räterepublik zu, wir schlossen mit ihr einen Handelsvertrag ab und ermöglichten Ungarn den Bezug großer Mengen österreichischer Industrieprodukte. Wir konnten, ohne die Pflichten der Neutralität dem tschechisch-ungarischen Krieg gegenüber zu verletzen, Ungarn nicht von Amts wegen Kriegsgerät liefern; aber die sozialdemokratischen Arbeiter des Wiener-Neustädter Gebietes schmuggelten unbehindert bedeutende Mengen Kriegsgerät über die ungarische Grenze. Als die Entente kurz nach der Märzrevolution die Blockade über Deutschösterreich, die im Waffenstillstandsvertrag noch aufrechterhalten, worden war, nur unter der Bedingung aufhob, daß die importierten Waren nicht nach Ungarn weitergebracht worden dürften, mußten wir uns dieser Bedingung freilich fügen; aber trotzdem blieb uns noch die Möglichkeit, Ungarn mannigfache wirtschaftliche Hilfe zu leisten. Aber freilich, alle Hilfe, die wir dem ungarischen Proletariat leisten konnten, war doch damit, begrenzt, daß wir uns nicht in einen kriegerischen Konflikt mit unseren anderen Nachbarn verwickeln lassen durften. Wir konnten die ungarische Räterepublik unterstützen; aber wir mußten die Proklamierung der Räterepublik in Deutschösterreich verhindern.

Bela Kun hatte zuerst erwartet, daß die deutschösterreichische Sozialdemokratie das Beispiel der ungarischen nachahmen, sich mit den Kommunisten vereinigen und selbst die Rätediktatur in Deutschösterreich aufrichten werde. Sobald er gewahr wurde, daß wir das ablehnten, begann er den Kampf gegen uns. Die Wiener ungarische Gesandtschaft wurde zur Agitationszentrale. Der kommunistischen Partei Deutschösterreichs flossen aus Ungarn große Geldmittel zu, die nicht nur der Verstärkung ihrer Propaganda dienten, sondern auch dazu verwendet wurden, einzelne Vertrauensmänner der Arbeiter und Soldaten durch Bestechung zu gewinnen. Die kommunistische Propaganda suchte den Arbeitern einzureden, daß Ungarn über große Lebensmittelvorräte verfüge, die hinreichend seien, den Bedarf Deutschösterreichs reichlich zu befriedigen, und daß die Heere der russischen Sowjetrepublik schon in Galizien eingedrungen seien und binnen kurzem die Karpathen überschreiten, sich mit der ungarischen Roten Armee vereinigen würden. Die furchtbare Not, die in Deutschösterreich herrschte, die Massenarbeitslosigkeit, die im Mai die größte Ausdehnung erreichte, sicherten der kommunistischen Propaganda einen empfänglichen Boden. Sie gewann an Kraft, als am 7. April auch in München die Räterepublik proklamiert wurde und als im Mai die ungarische Rote Armee in der Slowakei bedeutende Siege über die tschechischen Truppen errang.

Der Abwehrkampf gegen den Kommunismus wurde auf dem Boden der Arbeiterräte geführt. In den ersten Wochen nach der Oktoberrevolution wirkten die Arbeiterräte der einzelnen Orte unabhängig voneinander und ihre Wirksamkeit war auf die Kontrolle der Lebensmittelaufbringung konzentriert. Erst im Verlauf des Frühjahrs 1919 wurden die lokalen Arbeiterräte zu einer einheitlichen Organisation zusammengefaßt und wurde diese Organisation zur Stätte der entscheidenden politischen Kämpfe innerhalb des Proletariats, zum Instrument der wichtigsten politischen Entscheidungen des Proletariats. Den Anstoß dazu gaben die oberösterreichischen Arbeiterräte. In Oberösterreich, dem einzigen Lande Deutschösterreichs, das über Getreideüberschüsse verfügte, hatte die wirtschaftlichem Aktion der Arbeiterräte die größte Ausdehnung erlangt, hatten daher auch die Arbeiterräte den stärksten Einfluß gewonnen. Der Linzer Arbeiterrat gab nun die erste Anregung zu einer Zusammenfassung aller lokalen Arbeiterräte. Er versammelte am 19. Februar in Linz eine Konferenz der Arbeiterräte, die den sozialdemokratischen Parteivorstand aufforderte, eine allgemeine Reichskonferenz aller Arbeiterräte einzuberufen. Diese Reichskonferenz, die am 1. März zusammentrat, gab den Arbeiterräten einheitliche Satzungen, die die Wahl der Ortsarbeiterräte und ihre Zusammenfassung zu Bezirks-, Kreis- und Landesarbeiterräten und zum Reichsarbeiterrat regelten. Auf Grund dieser Satzungen wurden in den folgenden Wochen die Arbeiterräte neugewählt. Gaben diese Neuwahlen, an denen sich nicht nur die Massen der Arbeiter und Angestellten, sondern auch ein sehr großer Teil der öffentlichen Beamten beteiligten, den Arbeiterräten eine verstärkte Autorität, so sicherte die Zusammenfassung ihnen eine einheitliche politische Führung. Diese Führung fiel in die Hände Friedrich Adlers, dessen revolutionäre Haltung während des Krieges ihm das unbeschränkte Vertrauen der revolutionären Arbeiterschaft gesichert hatte. Unter seiner Führung wurde der in jener Zeit überaus schwere Kampf gegen das kommunistische Abenteurertum auf dem Boden der Arbeiterräte durchgekämpft; unter seiner Führung rangen sich die Arbeiterräte zu der Erkenntnis durch, daß der Versuch der Errichtung der Rätediktatur in Deutschösterreich unter den gegebenen Umständen nichts anderes bedeuten konnte als den Selbstmord der deutschösterreichischen Revolution. Die revolutionäre Autorität der Arbeiterräte vermittelte diese Erkenntnis den Arbeitermassen. Die Rätediktatur wurde unvollziehbar, da die Räte selbst die Diktatur ablehnten.

Schwieriger noch als auf dem Boden der Arbeiterräte war der Kampf auf dem Boden der Soldatenräte. Die kommunistische Propaganda übte auf die Volkswehrbataillone starken Einfluß. Josef Frey, der an der Spitze des Vollzugsausschusses der Soldatenräte stand, war unzuverlässig. In schwerem Ringen kämpften die Vertrauensmänner Julius Deutsch’, an ihrer Spitze Braunthal, Leo Deutsch, Hofmann, Köhler, Schuhbauer, Weiß, gegen die kommunistischen Versuchungen, die sich an die Volkswehr herandrängten. Die revolutionäre Autorität der Arbeiterräte entschied auch hier den Kampf. Die Soldatenräte beschlossen, daß sich die Volkswehr als die bewaffnete Macht der Arbeiterklasse betrachte und sich daher der politischen Führung der Arbeiterräte unterordne. Da die Arbeiterräte die Rätediktatur ablehnten, bedeutete dieser aus der Räteideologie erwachsene Beschluß die Ablehnung der Rätediktatur durch die Wehrmacht.

Unsere Aktion auf dem Boden der Arbeiter- und Soldatenräte hielt die Massen von den Kommunisten fern. Die Kommunisten versuchten es nun, gewaltsame Zusammenstöße der unter ihrem Einfluß stehenden deklassierten Elemente unter den Arbeitslosen, Heimkehrern und Invaliden mit der Staatsgewalt hervorzurufen, um die Massen gegen die Regierung der Republik aufzustacheln. Am 18. April, dem Gründonnerstag, wenige Tage nach der Aufrichtung der kommunistischen Diktatur in München, verleiteten die Kommunisten ein paar hundert hungernde, unwissende, verzweifelte Arbeitslose und Kriegsinvalide zu einem Angriff auf das Parlamentsgebäude. Die Demonstranten versuchten es, das Parlamentsgebäude in Brand zu setzen; und als die Polizei ihnen entgegentrat, machten sie von ihren Feuerwaffen gegen die Polizei Gebrauch. Ein Feuergefecht begann. Die Volkswehr wurde aufgeboten. Trotz der kommunistischen Agitation tat sie ihre Pflicht. Sie löste die Polizei ab, besetzte das in Brand geratene Parlamentsgebäude und verjagte die Demonstranten. Der Tag hatte schwere Opfer gefordert: sechs Sicherheitswachleute waren gefallen, zehn Volkswehrleute, einige Sicherheitswachmänner und dreißig Demonstranten waren verwundet. Zugleich hatte der Tag di. entsetzliche Not, die in Wien herrschte, furchtbar demonstriert: die Demonstranten hatten sich auf die gefallenen Pferde der Sicherheitswache gestürzt, aus den noch warmen Körpern der toten Tiere Stücke Fleisch herausgerissen und sie als eine willkommene Beute, als Leckerbissen, wie sie lang schon keinen genossen, nach Hause getragen. Die wichtigste Lehre des Tages aber war die Haltung der Volkswehr. Der Beweis war erbracht, daß die kommunistische Agitation in den Volkswehrkasernen wirkungslos geblieben war.

Die kommunistische Agitation stürzte sich nun mit verstärkter Kraft auf die Volkswehr. Die Entente bot ihr die willkommene Gelegenheit dazu. Die interalliierte Waffenstillstandskommission verlangte den Abbau der Volkswehr, da die Zahl unserer Soldaten die im Waffenstillstandsvertrag festgesetzte Höchstzahl übersteige. Die Soldaten fürchteten in dieser Zeit der Massenarbeitslosigkeit die Entlassung aus der Volkswehr; ihre Erregung suchten die Kommunisten auszunützen, um sie zu einem Putschversuch zu gewinnen. In der zweiten Hälfte Mai kam Ernst Bettelheim als Emissär der ungarischen Räteregierung nach Wien. Er trat hier als Vertreter der Kommunistischen Internationale auf, in ihrem Namen stürzte er die kommunistische Parteileitung und setzte an ihre Stelle ein Direktorium, das den Putsch organisieren sollte. Da die interalliierte Waffenstillstandskommission verlangte, daß die Entlassung der abzubauenden Wehrmänner bis zum 15. Juni erfolgen müsse, setzte Bettelheim den Putsch für diesen Tag an. Kommunistische Flugblätter forderten die Wehrmänner auf, bewaffnet an der für den 15. Juni einberufenen Straßendemonstration teilzunehmen. Das kommunistische „Revolutionäre Soldatenkomitee“ gab an die „Initiativkomitees“ in den Bataillonen Weisungen für den Straßenkampf und für die Besetzung der öffentlichen Gebäude aus. Gleichzeitig verlangte das kommunistische Direktorium von Bela Kun. das ungarische transdanubische Korps solle bis zum 14. Juni die deutschösterreichische Grenze besetzen, am folgenden Tage einige Abteilungen über die Grenze vorschieben.

Wir kannten diese Vorbereitungen und setzten uns zur Wehr. Am 12. Juni teilte ich der Militärmission der Entente mit, wir seien nicht in der Lage, den von uns geforderten Abbau der Volkswehr durchzuführen. Die Entente, die das Übergreifen des Bolschewismus nach Wien fürchtete, nahm diese Ablehnung ihrer Forderungen hin; damit waren die Wehrmänner von der Gefahr der Entlassung, die sie den Kommunisten zutrieb, befreit. Am 13. Juni trat der neugewählte Wiener Kreisarbeiterrat zu seiner ersten Sitzung zusammen. Nach einem Referat Friedrich Adlers beschloß der Kreisarbeiterrat, er allein sei berechtigt, Aktionen der Wiener Arbeiterschaft zu beschließen und durchzuführen; der Putschversuch der Kommunisten wurde als Auflehnung gegen die revolutionäre Kompetenz des Arbeiterrates erklärt Am 14. Juni bewog Julius Deutsch die Soldatenräte des aus der „Roten Garde“ der Umsturztage hervorgegangenen kommunistischen Volkswehrbataillons Nr.41 zu dem Versprechen, das Bataillon werde Disziplin halten, sich der von Deutsch für den 15. Juni angeordneten Konsignierung fügen, ohne Befehl an diesem Tage die Kaserne nicht verlassen; überdies verlegte Deutsch eine verläßliche Volkswehrabteilung unter dem Kommando des Hauptmanns Marek in die Nähe der Kaserne der kommunistischen Einundvierziger, damit sie ihnen erforderlichenfalls mit Waffengewalt entgegentrete. Unter dem Eindruck unserer Gegenmaßregeln wurden die Kommunisten selbst am 14. Juni unsicher; ein Teil der kommunistischen Führer wehrte sich gegen den Putschversuch. Aber noch am 14. Juni telegraphierte, wie Bettelheim erzählt, Bela Kun an das Wiener Direktorium: „Ich habe alles vorbereitet. Klug und mutig vorwärts! Es ist eine Lebensfrage, daß die Sache gelingt.“ Da alle Anzeichen darauf deuteten, daß die Putschabsicht nicht aufgegeben war, ließ Eldersch, der das Staatsamt des Innern leitete, seitdem Renner an der Spitze der Friedensdelegation in St. Germain weilte, in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni die kommunistischen Vertrauensmänner verhaften.

Am 15. Juni zog eine Menge von einigen Tausend Kommunisten zum Polizeigefangenhaus, um die verhafteten Führer zu befreien. In der Hörlgasse trat eine Abteilung der Stadtschutzwache, einer aus sozialdemokratischen Arbeitern zusammengesetzten Polizeiformation, den Demonstranten entgegen. Als die Demonstranten die Reihen der Stadtschutzwache zu durchbrechen versuchten, machte sie von der Schußwaffe Gebrauch. Zwanzig Tote und achtzig Verwundete blieben auf dem Platze. Die Demonstranten strömten zurück; einige Volkswehrbataillone, die die Ringstraße besetzt hatten, hielten in musterhafter Ruhe die Ordnung aufrecht und verhinderten jeden weiteren Zusammenstoß. Indessen versuchten es die Kommunisten, das kommunistische Volkswehrbataillon Nr.41 auf die Straße zu bringen. Die Soldatenräte stellten sich dem entgegen: mit dem Revolver in der Hand verteidigten sie das Kasernentor und verhinderten den Ausmarsch der kommunistischen Wehrmänner. Damit war die Gefahr eines bewaffneten Zusammenstoßes auf der Straße abgewehrt. Nun ließ Eldersch die verhafteten Vertrauensmänner der Kommunisten auf freien Fuß setzen; damit trat in den Kasernen Beruhigung ein. Der Putschversuch war vereitelt.

Die Kommunisten glaubten zunächst noch, den Versuch wiederholen zu können. Die zweite Reichskonferenz der Arbeiterräte, die am 30. Juni zusammentrat, wurde zu einer großen Auseinandersetzung mit den Kommunisten. Aber indessen begann, die Kraft des ungarischen Kommunismus schon zu versiegen. Bela Kun hatte, einem Ultimatum Clernenceaus weichend, die Rote Armee in der Slowakei bis zur Demarkationslinie zurückgenommen. Im Innern Ungarns zeigten sich wachsende wirtschaftliche Schwierigkeiten, wachsende Unzufriedenheit der Arbeiter, wachsender Widerstand der Bauern. An der Theiß rüstete Rumänien zum Angriff. Der unverkennbare Niedergang der ungarischen Revolution schwächte auch ihre Vorposten in Deutschösterreich. Die Erfahrungen des 15. Juni verschärften die Gegensätze innerhalb der kommunistischen Partei. Sie konnte einen zweiten Versuch nicht mehr wagen. Als am 1. August die ungarische Rätediktatur zusammenbrach und ihr die blutige Konterrevolution folgte, sah das deutschösterreichische Proletariat anschaulich, vor welchem Schicksal die Sozialdemokratie es bewahrt hatte. Kurze Zeit später konnte Deutsch, ohne auf Widerstand zu stolzen, das Volkswehrbataillon Nr.41 entwaffnen und auflösen; damit war den Putschisten ihre einzige gefährliche Machtposition entrissen.

Der Abwehrkampf gegen den Bolschewismus war in Deutschösterreich nicht ein Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat, sondern ein Kampf innerhalb der Arbeiterklasse. Die Bourgeoisie sah diesem Kampf innerhalb des Proletariats einflußlos und verständnislos zu. Sie hat später den Verlauf der Ereignisse so zu deuten versucht, die Wiener Polizei, der Wiener Polizeipräsident Schober habe Wien vor dem Bolschewismus gerettet. Das ist eine törichte Legende. Selbst am Gründonnerstag und am 15. Juni hat nicht die Polizei, sondern nur die Volkswehr die Ordnung wiederherstellen können; und doch waren das nur Aktionen einer winzigen Minderheit des Proletariats! Hätten sich die Arbeiter- und Soldatenräte für die Rätediktatur entschieden, so hätten sie über die ganze Arbeiterklasse, über alle seit der Oktoberrevolution gebildeten, aus Arbeitern zusammengesetzten bewaffneten Formationen, über die Volkswehr, die Stadtschutzwache und die Bahngendarmerie verfügt; die Bourgeoisie hätte ihnen in Wien und in den Industriegebieten Niederösterreichs und der Steiermark keinerlei Widerstand entgegensetzen können, die Polizei wäre völlig machtlos gewesen. Nur in dem Kampfe innerhalb der Arbeiter- und Soldatenräte ist der Ansturm des Bolschewismus abgewehrt worden. Und dieser Kampf innerhalb der Arbeiterklasse ist nicht durch Waffen, sondern im Ringen der Geister entschieden worden. Die zielbewußte Führung Friedrich Adlers in den Arbeiterräten, Julius Deutsch’ und seines Freundeskreises in den Soldatenräten hat den Kampf entschieden. Dieser Sieg über den Bolschewismus bedeutete aber nichts weniger als die Selbstbehauptung der deutschösterreichischen Revolution. Hätte der Bolschewismus auch nur für einen Tag gesiegt, so wären die Hungerkatastrophe, der Krieg, die Besetzung des Landes durch fremde Truppen die unvermeidlichen Folgen gewesen.

Die ganze Geschichte der deutschösterreichischen Revolution vom Oktober 1918 bis zum Juli 1919 ist die Geschichte ihres Kampfes um den Frieden. Wir hatten die Auseinandersetzung mit dem tschechischen und dem jugoslawischen Nationalismus um unsere Grenzen so führen müssen, daß der Krieg mit den beiden Nachbarvölkern vermieden werde. Wir hatten den Ansturm des ungarischen Bolschewismus abwehren müssen, damit wir nicht in einen Krieg mit den Nachbarvölkern verwickelt werden. Die zwingende Notwendigkeit, den Frieden zu erhalten, hat der nationalen und der sozialen Revolution schwere Opfer auferlegt. Aber nur indem sich die Revolution darauf beschränkte, was sie ohne Krieg mit den Nachbarvölkern behaupten konnte, konnte sie sich vor dem Krieg und vor dem sicheren Untergang„ vor der Konterrevolution unter dem Schutze fremder Bajonette bewahren.

Aber es galt nicht nur, den Ausbruch neuen Krieges zu verhüten, sondern auch den großen Krieg zu liquidieren. Die Zeit unserer Auseinandersetzungen mit dem slawischen Nationalismus und dem magyarischen Bolschewismus war zugleich auch die Zeit unserer Friedensverhandlungen mit dem Ententeimperialismus. Die Erhaltung des Friedens mit den Nachbarvölkern hatte unsere staatliche Existenz gerettet; nur dank der Erhaltung des Friedens konnten wir die Friedensverhandlungen mit der Entente als selbständiger Staat führen. Die Opfer aber, mit denen wir den Frieden mit den Nachbarvölkern hatten erkaufen müssen, und das furchtbare Elend, in dem wir in diesem ersten Jahre nach dem Waffenstillstand als selbständiger Staat lebten, hatten es anschaulich gemacht, daß Deutschösterreich nur in bitterer Not, nur in drückender Abhängigkeit vom Ausland, nur in Ohnmacht gegenüber den Nachbarvölkern selbständig leben kann. Diese Erfahrung mußte unserer Auseinandersetzung mit dem Ententeimperialismus ihr Ziel setzen; unser wichtigstes Ziel in den Friedensverhandlungen mußte es sein, uns unser Recht auf den Anschluß an Deutschland zu erstreiten.

Als die Provisorische Nationalversammlung am 12. November Deutschösterreich zu einem Bestandteil der Deutschen Republik erklärte, hatten wir gehofft, es werde vielleicht möglich sein, den Anschluß an das Deutsche Reich tatsächlich zu vollziehen, ohne die Friedensverhandlungen abzuwarten, und dadurch die Friedenskonferenz vor eine vollzogene Tatsache zu stellen. Sehr bald aber wurden die Widerstände sichtbar, die dem im Wege standen. Aus Frankreich kam sofort energischer, drohender Einspruch. Im Deutschen Reich fürchtete man, durch die Einverleibung Deutschösterreichs weite deutsche Gebiete im Westen und im Osten des Reiches zu gefährden. Frankreich forderte die Rheingrenze. Polen forderte Danzig, Westpreußen, Oberschlesien. Daß der verlorene Krieg mit einer bedeutenden Vergrößerung der Volkszahl des Deutschen Reiches enden werde, war unwahrscheinlich; Deutschland fürchtete daher, es würde den Anschluß Deutschösterreichs mit dem Verlust der von Frankreich und von Polen geforderten Gebiete bezahlen müssen. Darum zögerte es, in dem Augenblick an der Donau vorzugehen, in dem die Entscheidung über den Rhein und die Weichsel bevorstand. Ähnliche Befürchtungen standen aber auch in Deutschösterreich unserem Handeln im Wege. Man fürchtete hier nicht nur, daß die tatsächliche Vollziehung des Anschlusses die Entscheidung der Friedenskonferenz über das Schicksal Deutsch-Südtirols, Kärntens, der Untersteiermark, des Znaimer Kreises und des Böhmerwaldgaues ungünstig beeinflussen werde; viel näher noch drohte die Gefahr, daß Frankreich in dem Augenblick, in dem wir den Anschluß tatsächlich zu vollziehen versuchten, die Tschechen und die Jugoslawen zur Besetzung deutschösterreichischen Gebietes veranlassen und uns dadurch in Krieg mit unseren Nachbarn verwickeln könnte. So erschien es allzu gefährlich„ den Anschluß mit einem Schlage zu vollziehen. Wir mußten schrittweise vorgehen.

In den ersten Wochen nach dem Waffenstillstand standen die Regierung und die öffentliche Meinung im Reiche dem Anschluß ängstlicher und zurückhaltender gegenüber als in Deutschösterreich Wir schickten Ludo Hartmann als unseren Gesandten nach Berlin; seiner Propaganda gelang es, Verständnis und Eifer für den Anschluß zu wecken. Als die deutsche Verfassunggebende Nationalversammlung in Weimar zusaminentrat, wurde dem Staatenausschuß, der an die Stelle des alten Bundesrates trat, Hartmann beigezogen; zum erstenmal wieder, seitdem Bismarck im Jahre 1866 den Frankfurter Bundesrat gesprengt hatte, nahm ein Vertreter Deutschösterreichs am Rate der deutschen Staaten teil. Der Entwurf der Reichsverfassung, den Preuß der Weimarer Konstituante vorlegte, hielt Deutschösterreich den Beitritt zum Reiche, unseren Vertretern den Eintritt in das Reichsparlament offen. Aber all das waren doch nur demonstrative Akte. Wollten wir einen ernsten Schritt zur tatsächlichen Vollziehung des Anschlusses wagen, dann mußte dies auf wirtschaftlichem Gebiete geschehen.

Dazu bot sich eine Gelegenheit, als Jugoslawien und die Tschechoslowakei die Kronennoten, die in ihren Staatsgebieten zirkulierten, abstempelten. Damit wurde die Währungsgemeinschaft, die noch alle Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie umfaßte, zerrissen. Es war vorauszusehen, daß der Wert unserer Krone schnell sinken werde, sobald ihr Umlaufgebiet auf Deutschösterreich beschränkt wird. Der Gedanke lag nahe, nicht erst eine selbständige deutschösterreichische Währung entstehen zu lassen, sondern die Notenabstcepelung in Jugoslawien und der Tschechoslowakei mit dem Übergang zur Markwährung, mit dem Eintritt Deutschösterreichs in die deutsche Währungsgemeinschaft zu beantworten. Die Deutsche Reichsbank sollte, so schlugen wir vor, einer deutschösterreichischen Notenbank eine Anleihe in Papiermark gewähren. Diese Anleihe sollte es der deutschösterreichischen Notenbank ermöglichen, die Verpflichtung zu übernehmen, jede deutschösterreichische Kronennote auf Verlangen des Inhabers zu festem Wertverhältnis gegen Mark einzutauschen. Auf diese Weise sollte in Deutschösterreicli zunächst eine Markkernwährung begründet werden, die die Krone in ein beständiges Wertverhältnis zur Mark gebracht und damit unseren tatsächlichen Eintritt in die deutsche Währungsgemeinschaft bedeutet hätte. Um über diesen Plan mit der deutschen Regierung zu verhandeln, fuhr ich Anfang März 1919 nach Weimar und Berlin.

Die deutsche Regierung hielt es jedoch nicht für möglich, auf unseren Vorschlag einzugehen. Der Widerstand ging von der Reichsbank aus. Das Reich und wir standen vor den Friedensverhandlungen. Niemand konnte voraussehen, was der Friedensvertrag über die in den Nachfolgestaaten und über die im Ausland umlaufenden Kronennoten, was er über die österreichisch-ungarische Bank verfügen werde; niemand konnte voraussehen, wie sich die Staatsfinanzen drüben und hüben nach den Friedensverträgen gestalten, in welchem Ausmaß beide Staaten gezwungen sein werden, den Kredit der Notenbanken zur Deckung des Defizits im Staatshaushalt zu beanspruchen. Unter solchen Umständen erschien der Reichsbank die Durchführung unseres Vorschlages als eine Belastung von unbestimmbarer, unberechenbarer Schwere. Die Entscheidung wurde vertagt. Und damit war entschieden, daß der Anschluß vor der Entscheidung der Friedenskonferenz nicht vollzogen werden konnte.

Die Berliner Verhandlungen gewannen dadurch einen andern Charakter. Ich schloß mit dem Grafen Brockdorff-Rantzau, dem deutschen Reichsminister des Äußern, einen Vertrag darüber, in welcher Weise die Eingliederung Deutschösterreichs in das Reich vollzogen werden solle, falls die Friedensverträge sie nicht verhindern. Dieser Vertrag war für Deutschösterreich überaus günstig. Seine Bestimmungen hätten die Anschlußbewegung in Deutschösterreich mächtig stärken können, wenn es möglich gewesen wäre, den Vertrag sofort zu veröffentlichen. Aber dies erschien damals nicht ratsam, weil es die Friedensverhandlungen hätte ungünstig beeinflussen können. Die deutsche Regierung hatte uns zugestanden, daß Deutschösterreich im Falle seiner Eingliederung in das Reich in finanzieller Beziehung so behandelt werden solle, als ob es schon seit 1914 dem Reiche zugehört hätte. Es wäre demnach ein großer Teil unserer Kriegsschulden vom Reich übernommen worden. Es schien nicht ratsam, diese Vertragsbestimmung zu veröffentlichen, weil sie die Entente hätte veranlassen können, die ganze Kriegsschuld des alten Österreich der deutschösterreichischen Republik aufzuerlegen. Die deutsche Regierung hatte uns zugestanden, daß Deutschösterreich auch nach seiner Einverleibung in das deutsche Zollgebiet eine Reihe von Jahren noch Binnenzölle von deutschen Industrieprodukten einheben dürfe, um seine Industrie zu schützen, während deutschösterreichische Industrieprodukte zollfrei in das altdeutsche Gebiet eingeführt werden sollten; wir konnten diese Vertragsbestimmung nicht veröffentlichen, ohne befürchten zu müssen, daß die Entente in den Friedensvertrag handelspolitische Bestimmungen aufnehmen werde, die die Durchführung unserer Vereinbarung unmöglich machen würden. So konnte der in Berlin abgeschlossene Vertrag vorerst nicht veröffentlicht werden. Er konnte daher die Entwicklung der Anschlußbewegung nicht beeinflussen.

Die Entscheidung über den Anschluß mußte auf der Friedenskonferenz, in den Friedensverträgen fallen. Unsere wichtigste Aufgabe war daher, die Friedenskonferenz in der Richtung zu beeinflussen, daß sie dem Anschluß keine Hindernisse in den Weg lege.

In den letzten Kriegsjahren war das österreichische Problem in den Ländern der Verbündeten lebhaft erörtert worden. Die konservativen Parteien waren zumeist dafür eingetreten, man solle die Habsburgermonarchie nicht zerstören, sondern nur auf ihrer inneren Umbildung bestehen; unter slawische Führung gestellt, könne sie ein Glied des eisernen Ringes werden, in den die Entente Deutschland legen wollte. Die demokratischen Strömungen dagegen wirkten für die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Tschechen, Polen, Jugoslawen; sie zogen daraus den Schluß, daß der Rest des alten Österreich, der nach der Begründung selbständiger Nationalstaaten der slawischen Völker übrig bleibe, unvermeidlich an Deutschland fallen müsse. So war der Gedanke, daß die Auflösung der Habsburgermonarchie den Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland zur Folge haben müsse, der öffentlichen Meinung der Ententeländer keineswegs fremd; er war dort schon 1917 und 1918 sehr oft ausgesprochen worden. Wir durften daher in unserem Kampf um den Anschluß auf die Unterstützung starker Strömungen in den Siegerländern rechnen.

Robert Lansing, der amerikanische Staatssekretär des Äußern, hatte am .21. September 1918, also noch vor dem Zusammenbruch der Mittelmächte, ein Memorandum über die Friedensprobleme für den inneren Gebrauch der amerikanischen Regierung entworfen, das die Auflösung der Habsburgermonarchie die Gründung selbständiger Nationalstaaten der Tschechen, Jugoslawen und Polen vorsah und über den Rest Österreichs folgenden Vorschlag enthielt:

„Reduzierung Österreichs auf die allen Grenzen und den Titel eines Erzherzogtums. Einverleibung des Erzherzogtums in den Bundesstaat des Deutschen: Reiches.“

Dieses Memorandum war uns damals natürlich nicht bekannt; Lansing hat es erst 1920 veröffentlicht. Aber wir konnten uns den Vereinigten Staaten gegenüber nicht nur darauf berufen, daß die programmatischen Erklärungen Wilsons, auf Grund deren der Waffenstillstand geschlossen worden war, auch uns das Selbstbestimmungsrecht verhießen; wir wußten auch, daß einflußreiche Staatsmänner der Vereinigten Staaten den Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland selbst als notwendige Konsequenz der Auflösung der Habsburgermonarchie erkannt hatten, ehe sich, noch Deutschösterreich, sich auf das von dem amerikanischen Präsidenten verkündete Selbstbestimmungsrecht berufend, den Anschluß zum Ziel gesetzt hatte.

Auch von Italien erwarteten wir keinen Widerstand gegen den Anschluß. Italien betrachtete die Auflösung der Habsburgermonarchie als die eigentliche Errungenschaft seines Sieges. Es fürchtete nichts mehr als ihre Wiederherstellung unter dem Titel einer „Donauföderation“. Ein kleines, schwaches Deutschösterreich konnte in eine solche Föderation hineingezwungen, es konnte zur Brücke zwischen der Tschechoslowakei und Jugoslawien werden, die Verbindung zwischen der jugoslawischen Armee und der tschechischen Industrie herstellen; fiel Deutschösterreich an das Deutsche Reich zurück, dann waren alle Donauföderationspläne abgetan, war zwischen Tschechen und Jugoslawen ein starker Riegel eingeschoben. Zugleich würde dadurch Italien zum unmittelbaren Nachbarn Deutschlands. Je mehr sich im Verlauf der Pariser Friedenskonferenz die Gegensätze Italiens zu Jugoslawien und zu Frankreich verschärften, desto stärker wurde in Italien die Strömung, die unseren Anschluß an das Reich, als ein Interesse Italiens betrachtete.

In England war man dem Gedanken des Anschlusses weit weniger geneigt. Der Gedanke, daß Deutschlands Niederlage gar noch mit der Vermehrung der Volkszahl des Reiches enden solle, war der englischen Politik unsympathisch. Die unklaren Pläne einer Föderation der Nachfolgestaaten hatten in England am meisten Anhänger. Trotzdem schien es nicht undenkbar, daß schließlich doch auch England die französische Forderung, in die Friedensverträge ein Verbot des Anschlusses aufzunehmen, ablehnen werde. Im März und April stand England auf der Pariser Friedenskonferenz in heftigem Gegensatz zu Frankreich. Die ungarische Märzrevolution hatte auf Lloyd George einen starken Eindruck gemacht; er fürchtete, auch Deutschland werde sich, von einem unannehmbaren Frieden bedroht, dem Bolschewismus in die Arme werfen. Am 25. März 1919 überreichte Lloyd George der Pariser Konferenz eine – später von Nitti veröffentlichte – Denkschrift, die vor der Gefahr des „Spartakismus vom Ural bis zum Rhein“ warnte.

„Gerade die gestern aus Ungarn eingetroffenen Nachrichten“, schrieb Lloyd George, „beweisen deutlich genug, daß diese Gefahr kein Phantasiegebilde ist. Welche Gründe trieben zu dieser gewaltsamen Entscheidung? Furcht war es, nackte Furcht, daß eine große Anzahl Ungarn der Fremdherrschaft unterworfen werden.“

Mit dieser Begründung protestierte Lloyd George dagegen, daß „mehr Deutsche, als unbedingt notwendig ist“, dem polnischen und dem tschechischen Staat unterworfen werden. Konnten wir also nicht hoffen, daß sich England wenigstens für den Anschluß Deutschböhmens an Deutschland einsetzen werde?

„Wären wir klug,“ schrieb Lloyd George, „so böten wir Deutschland einen Frieden, der seiner Gerechtigkeit wegen von allen vernünftigen Menschen dem Bolschewismus vorgezogen würde.“

Die Entente fürchtete damals zunächst das übergreifen des Bolschewisnms von Ungarn nach Deutschösterreich; war es undenkbar, daß Lloyd George uns einen Frieden, der uns den Anschluß erlaubt, zu erwirken sucht, damit wir diesen Frieden der nationalbolschewistischen Rebellion gegen die Entente vorziehen?

„ Unsere Bedingungen“, schrieb Lloyd George, „können hart, unerbittlich, niederschmetternd sein und doch können sie gleichzeitig so gerecht erscheinen, daß das Volk, dem sie auferlegt werden, notgedrungen ihre Gerechtigkeit empfinden und anerkennen muß.“

War es undenkbar, daß England, wenn es die Ansprüche des französischen und des polnischen Imperialismus nicht abzuwehren vermag, Deutschland wenigstens im Süden eine Entschädigung zu bieten versuchen wird? Daß es den Anschluß zulassen wird, um das deutsche Volk zu überzeugen, daß der Friede trotz aller seiner Härte doch Gerechtigkeit übe, indem er das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker nicht nur gegen Deutschland, sondern auch für Deutschland gelten lasse?

Aus solchen Erwägungen hielten wir es nicht für unmöglich, die Vereinigten Staaten, Italien und Großbritannien zu bewegen, daß sie der Aufnahme eines Anschlußverbotes in den Friedensvertrag nicht zustimmen. Daß wir die Politik der drei Großmächte nicht unrichtig beurteilt haben, hat später nicht nur die Veröffentlichung der Denkschriften Lansings und Lloyd Georges, sondern vor allem Tardieus Geschichte der Friedensverhandlungen bewiesen. „Frankreich,“ erzählt Tardieu, der intimste Mitarbeiter Clemenceaus auf der Friedenskonferenz, „Frankreich trat dafür ein, daß Österreich von Deutschland getrennt bleiben müsse. Großbritannien und die Vereinigten Staaten schwankten und diskutierten drei Monate lang über diese Frage.“

Drei Monate lang! Was konnten wir in diesen drei Monaten, in denen über das Schicksal Deutschösterreichs entschieden wurde, tun, um die Entscheidung zu beeinflussen? Zu der Konferenz der Siegermächte, die in Paris tagte, hatten wir keinen Zutritt. Wir hatten nur eine Waffe: die der Propaganda. Wir mußten die Staatsmänner der Ententemächte überzeugen, daß Deutschösterreich, auf sich selbst gestellt, nicht lebensfähig sei; daß eine Föderation der Nachfolgestaaten an dem Widerstand der Tschechoslowakei und Jugoslawiens scheitern müsse; daß der Anschluß daher die einzige überhaupt mögliche Lösung sei, die einzige, die den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschösterreichs und damit schwere soziale Erschütterungen und ernste Kriegsgefahr in Mitteleuropa verhüten könne,

Durch Denkschriften, Abhandlungen. Zeitungsartikel und Reden haben wir den Staatsmännern der Ententemächte diese Thesen zu erweisen versucht. Zugleich aber mußte sich unsere Propaganda auch nach innen wenden. Sollte unser Appell an die Staatmänner der Ententemächte nicht wirkungslos verhallen, so mußten wir ihnen zeigen, daß unser Kampf um den Anschluß von der einheitlichen Überzeugung des ganzen deutschösterreichischen Volkes getragen, von dem einheitlichen Willen des ganzen deutschösterreichischcn Volkes bestimmt sei. Daß der Anschluß eine ökonomische Notwendigkeit sei, der mechanische Gewalt die Erfüllung nicht verweigern könne, und daß für ihn eine moralische Kraft streite, die auf die Dauer durch keine Gewalt zu beugen sei – das war es, wovon wir die Ententemächte zu überzeugen versuchen mußten.

Aber dieser Versuch scheiterte an der Auflehnung der Bourgeoisie. Als wir die Siegermächte von der wirtschaftlichen Notwendigkeit des Anschlusses und von dem einheitlichen Anschlußwillen des deutschösterreichischen Volkes zu überzeugen versuchten, fiel uns die deutschösterreichische Bourgeoisie in den Rücken.

Die schweren sozialen Erschütterungen, die Deutschland im Winter 1918/19 erlebte, schreckten unsere Bourgeoisie. Sie fürchtete, Deutschland werde in die Hände des Bolschewismus fallen. Sie wollte nicht zu dem „Deutschland Spartakus’“. Und mit dieser allgemeinen Furcht der Bourgeoisie vor der sozialen Revolution verbündeten sich die besonderen Interessen des Großkapitals. Die Großbanken waren vor allem um die Behauptung ihres Besitzes in den Nachfolgestaaten besorgt. Sie glaubten, Wien werde das Zentrum des Bankwesens und des Geldverkehrs der Nachfolgestaaten bleiben, wenn Deutschösterreich allein bleibt; die Entente werde ihre Filialen und ihren Besitz in den Nationalstaaten liquidieren, Wenn Deutschösterreich in Deutschland aufgeht. Ähnliche Befürchtungen hegten die Großindustriellen. Dieselben Unternehmungen hatten Betriebe hier in Deutschösterreich wie drüben in den Nachfolgestaaten. Eine Donauföderation konnte ihren Besitz wieder in einem Wirtschaftsgebiet vereinigen. Der Anschluß bedeutete für ihre deutschösterreichischen Betriebe die Bedrohung durch die überlegene reichsdeutsche Konkurrenz, für ihre Betriebe in den Nachfolgestaaten die Gefahr der Liquidation auf Rechnung der deutschen Reparationsverpflichtungen.

Mit den wirtschaftlichen Klasseninteressen der Kapitalisten verbündeten sich die politischen Klasseninteressen der entthronten Aristokratie, des hohen Klerus, des seiner Privilegien und seines Berufes beraubten Offizierskorps. Diese Klassen hofften noch auf eine Restauration der Monarchie. Der Anschluß hätte ihre Hoffnung auf Habsburgs Wiederkehr begraben; Deutschösterreich mußte außerhalb Deutschlands bleiben, damit Habsburg heimkehren könne.

Die wirtschaftliche Gegnerschaft der Kapitalistenklasse und die politische Gegnerschaft der Monarchisten erweckten die altösterreichischen Traditionen des Wienertums zu neuem Leben. Der alte Zwiespalt zwischen österreichischer und deutscher Gesinnung wurde wieder lebendig. Das Alt-Wiener Patriziat und das Wiener Kleinbürgertum wollten es nicht glauben, daß das alte große Österreich für immer dahin sei. Sie hofften, es werde doch noch, sei es auch in veränderter Gestalt, sei es auch unter dem Namen einer „Donauföderation“ wiedererstehen. Ihre alte Abneigung gegen preußisches, norddeutsches Wesen erstarkte wieder. Sie begannen, gegen unsere Anschlußpolitik zu frondieren.

Die Länder machten ihre eigene Außenpolitik. Die christlichsozialen Abgeordneten Tirols protestierten am 12. März in der Konstituierenden Nationalversammlung gegen die Wiederholung des Anschlußbeschlusses; sie glaubten, Deutschsüdtirol leichter vor der Annexion durch Italien retten zu können, wenn Tirol nicht an Deutschland fällt. Ähnliche Stimmungen herrschten zur Zeit der Kämpfe gegen die jugoslawische Invasion in Kärnten. Dort wehrte man sich überhaupt gegen das Nationalitätsprinzip, das das Land zu zerreißen drohte:

Nicht den Laibachern und nicht den Wienern,
Nicht den Serben und nicht den Berlinern,
Kärnten den Kärntnern!

In Vorarlberg erklärte die Mehrheit des Landtages, das Land dürfe keinesfalls an Deutschland fallen. Die Landesversammlung knüpfte schon im März Verhandlungen mit der Schweiz an; am 11. Mai sprach sich das Ländchen in einer Volksabstimmung mit 47.208 gegen 11.248 Stimmen für den Anschluß an die Schweiz, gegen den Anschluß an Deutschland aus.

So verbündeten sich das traditionelle Österreichertum des Alt-Wiener Patriziats und des Alt-Wiener Kleinbürgertums einerseits, der Partikularismus der Länder anderseits mit der allgemeinen Furcht der Bourgeoisie vor dem Spartakismus, mit den besonderen wirtschaftlichen Interessen des großen Finanz- und Industriekapitals, mit den politischen Restaurationshoffnungen der monarchistischen Aristokratie, des monarchistischen hohen Klerus und des monarchistischen Offizierskorps; alle diese Kräfte vereint stritten gegen unsere Anschlußpolitik.

Der französische Imperialismus bediente sich dieser Opposition für seine Zwecke. Französische Preßagenturen organisierten von der Schweiz aus einen Nachrichtendienst nach Wien. Der französische Gesandte Allizé verstand es, die liberale und die christlichsoziale Presse Wiens in seinen Dienst zu stellen. Die französische Propaganda suchte ganz planmäßig den Eindruck zu erwecken, Deutschösterreich werde die umstrittenen deutschen Grenzgebiete in Tirol, Kärnten und Untersteiermark, in Südböhmen und Südmähren behalten und wirtschaftlich viel günstigere Friedensbedingungen erhalten als das Reich, wenn es nur auf den Anschluß verzichtet. Die Front der Anschlußgegner wurde nun stärker und einheitlich. Die ganze große liberale Presse Wiens und ein großer Teil der christlichsozialen Presse in Wien und in den Ländern standen in ihrem Dienste.

Unsere Propaganda, die die Vereinigten Staaten, Italien und Großbritannien für den Anschluß zu gewinnen bemüht war, wurde durch diese innere Opposition vereitelt. Wir überhäuften die Staatsmänner der Siegermächte mit Denkschriften, die den Nachweis zu erbringen suchten, daß Deutschösterreichs wirtschaftlicher Zusammenbruch unvermeidlich sei, wenn uns der Anschluß nicht erlaubt wird. Die französischen Staatsmänner konnten uns antworten, daß gerade die führenden Männer der österreichischen Volkswirtschaft, die Bankherren und die Großindustriellen den Wiener Ententediplomaten täglich versicherten, daß Deutschösterreich den Anschluß nicht brauche, bei einigermaßen günstigen Friedensbedingungen auch allein sehr wohl leben könne. Wir suchten die Staatsmänner der Entente zu überzeugen, daß das ganze deutschösterreichische Volk den Anschluß wolle. Die französischen Diplomaten konnten uns leicht widerlegen, indem sie beinahe die ganze bürgerliche Presse Wiens und die Stimmungen in einem großen Teil der Alpenländer gegen uns als Zeugen führten. Frankreich konnte in den Pariser Verhandlungen nunmehr darauf verweisen, daß den Anschluß in Deutschösterreich doch nur die Sozialisten und die Alldeutschen wünschten; Bürgertum und Bauernschaft wünschten ein selbständiges Österreich und hielten ein selbständiges Österreich für durchaus lebensfähig. Die Auflehnung der Bourgeoisie gegen unsere Führung wurde so zur stärksten Waffe des französischen Imperialismus in jenen drei Monate dauernden Diskussionen, in denen nach Tardieus Zeugnis über den Anschluß entschieden wurde.

Wir hatten die Absicht, eine Volksabstimmung über den Anschluß zu veranstalten, um die Sieger von der Einheitlichkeit und Festigkeit des Anschlußwillens des deutschösterreichischen Volkes zu überzeugen. Vor der Entscheidung der Pariser Friedenskonferenz, in der Zeit, in der die drei Großmächte noch „schwankten und diskutierten“, wäre eine solche Kundgebung nicht wirkungslos gewesen. Wir konnten sie nicht wagen, da die heftige Gegenpropaganda der Anschlußgegner die Gefahr hervorrief, daß starke .Minderheiten, in einzelnen Ländern vielleicht sogar die Mehrheit der Stimmberechtigten, gegen den Anschluß gestimmt hätten.

Am 7. Mai wurde der Entwurf des Friedensvertrages, den die Entente dem Deutschen Reiche zu diktieren gedachte, der deutschen Friedensdelegation überreicht. Seine furchtbar harten Friedensbedingungen wurden sofort zu Waffen unserer heimischen Anschlußgegner. Wird der Anschluß vollzogen, so werde Deutschösterreich die furchtbare Kriegsentschädigung, die die Sieger dem Deutschen Reiche auferlegen, mitbezahlen müssen. Verzichten wir auf den Anschluß, dann werde die Entente uns, wie es Allizé so oft versprochen, „goldene Brücken“ bauen. Zugleich, aber erschütterte der Versailler Vertragsentwurf auch die Hoffnungen der Anschlußkämpfer. Der Art. 80 des Entwurfes verpflichtete das Deutsche Reich, „die Unabhängigkeit Österreichs anzuerkennen und sie als unabänderlich zu achten, es sei denn, daß der Völkerbundsrat einer Abänderung zustimmt“. Die Aufnahme dieser Bestimmung in den Vertragsentwurf schien zu beweisen, daß die Zeit des Schwankens und Diskutierens innerhalb der Entente vorüber war. Die Diskussion hatte, wie Keynes erzählt, mit einem jener charakteristischen Kompromisse zwischen Clemenceau und Wilson, zwischen der Machtpolitik Frankreichs und der vom amerikanischen Präsidenten vertretenen demokratischen Ideologie geendet, in denen immer der Imperialismus in der Sache und die Demokratie in der Ausdrucksweise siegte. Man verbot den Anschluß nicht ohneweiters. weil ein solches Verbot dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker widersprochen hätte; aber man knüpfte die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes an die Zustimmung des Völkerbundsrates und machte sie dadurch tatsächlich unmöglich.

„Wer weiß,“ meint Keynes, „ob der Präsident nicht vergaß, daß ein anderer Teil des Friedensvertrages zu diesem Zwecke Einstimmigkeit des Völkerbundsrates voraussetzt?“

Unter dem Eindruck dieser Entscheidung reiste unsere Delegation, von Renner geführt, zu den Friedensverhandlungen nach Saint-Germain. Am 2. Juni wurde ihr der erste Entwurf des Friedensvertrages überreicht. Es war ein furchtbares Dokument. Die Entente sprach Deutschböhmen, das Sudetenland, den Böhmerwaldgau, den Znaimer Kreis und niederösterreichische Grenzgebiete den Tschechen. Deutschsüdtirol den Italienern, den größten Teil Kärntens mit der Hauptstadt Klagenfurt und die deutschen Städte der Untersteiermark den Jugoslawen zu. Ebenso furchtbar waren die wirtschaftlichen Bestimmungen des Entwurfes. Da war einfach der deutsche Friedensvertrag abgeschrieben worden; das Eigentum deutschösterreichischer Staatsbürger in den Nachfolgestaaten sollte ebenso beschlagnahmt werden wie das Eigentum Reichsdeutscher in England und die Schulden deutschösterreichischer Staatsbürger an Bürger der Nachfolgestaaten sollten ebenso valorisiert werden wie unsere Schulden an Frankreich oder Italien. Bei der engen wirtschaftlichen Verknüpfung Wiens mit den Nachfolgestaaten hätte dies den wirtschaftlichen Untergang Wiens in kürzester Zeit herbeiführen müssen.

Diese furchtbaren Bedingungen erzeugten in Wien die Stimmung zur Kapitulation. Alles schrie nun, wir sollten ausdrücklich und in aller Form auf den Anschluß verzichten, um damit eine Milderung der Friedensbedingungen zu erkaufen. Dieser Kapitulationsstimmung mußte ich mich widersetzen. Denn im dem Entwurf vom 2. Juni war vom Anschluß überhaupt keine Rede; eine dem Art. 80 des Entwurfes des deutschen Friedensvertrages analoge Bestimmung war in ihn nicht aufgenommen. Dies ließ die Annahme zu, daß die Zeit des „Schwankens und Diskutierens in der Entente doch noch nicht vorüber war; gab der Hoffnung Raum, daß die Sieger vielleicht doch noch den Einwendungen der deutschen Friedensdelegation gegen den Art. 80 stattgeben, den Art. 80 streichen oder – etwa durch die Zulassung einer Mehrheitsentscheidung im Volkerbundsrat, wie eine solche für die Entscheidung über das Saarrevier vorgesehen war – wenigstens mildern werden. Deshalb trat ich dem Gedanken, durch den Verzicht auf den Anschluß die Besserung der Friedensbedingungen zu erkaufen, scharf entgegen. In meiner Parlamentsrede vom 7. Juni, in der ich den Friedensvertragsentwurf beantwortete, sagte ich: „Der Friedensentwurf widerlegt die traurigen Illusionen derer, die in der Absonderung von dem Deutschen Reiche das Heil suchten; in seinen territorialen und wirtschaftlichen Bedingungen noch viel härter als der Entwurf, der dem Deutschen Reich vorgelegt wurde, beweist er, daß nicht das Maß des Hasses, sondern die Schätzung der Kraft, die den Besiegten noch geblieben ist den Inhalt des Friedensvertrages bestimmt. Stärker denn je ist heute darum in unserem Volke die Überzeugung, daß es nur im Rahmen der großen Deutschen Republik eine erträgliche Zukunft finden kann.“

Die französische Diplomatie sah, daß in den bürgerlichen Parteien und in der bürgerlichen Presse die Kapitulationsstimmung vorherrschte. Sie sah, daß ich mich der Kapitulation widersetzte. Sie begann daher einen persönlichen Kampf gegen mich. Dieser Kampf wurde nicht nur in der Pariser, sondern in der Wiener bürgerlichen Presse geführt. Es war ja die Zeit des Kampfes um die Sozialisierungsgesetze. Ich war nicht nur Staatssekretär des Äußern, sondern auch Präsident der Sozialisierungskommission. Die bürgerliche Presse bekämpfte den Staatssekretär des Äußern, um den Präsidenten der Sozialisierungskommission zu treffen. So stellte sie sich immer vollständiger in den Dienst des von der französischen Mission organisierten Feldzuges.

Unser Konflikt mit der französischen Diplomatie wurde gleichzeitig durch andere Umstände verschärft. Seit der ungarischen Märzrevolution war Frankreich bemüht, alle Nachbarn Ungarns zu einer Koalition gegen die ungarische Räterepublik zu vereinigen. Es mobilisierte nicht nur Rumänien, die Tschechoslowakei und Jugoslawien gegen Ungarn, es suchte auch uns in diese Koalition hineinzuzwingen. Es war unsere Pflicht, uns dieser Zumutung zu erwehren. Ging die ungarische Revolution Wege, die wir vom Anfang an für gefährlich, für verhängnisvoll hielten, so war es doch eine proletarische Revolution, gegen die wir uns nicht mit kapitalistischen Mächten verbünden durften. Mußten wir uns mit aller Kraft dagegen wehren, daß der ungarische Kommunismus das deutschösterreichische Proletariat auf seine Wege zwingt, so war unser Kampf gegen den ungarischen Kommunismus doch nur ein Kampf innerhalb des Proletariats; gegen die kapitalistischen Mächte hatte das rote Ungarn Anspruch auf unsere Unterstützung. Nie hätte das deutschösterreichische Proletariat eine andere Politik geduldet; hätten wir gegen Räteungarn die Geschäfte des Imperialismus besorgt, so hätte sich das deutschösterreichische Proletariat dagegen aufgelehnt, wäre es gerade durch eine solche dem Kommunismus feindliche Politik dem Kommunismus in die Arme geworfen worden. Und zugleich hätte uns eine solche Politik unweigerlich in den schwersten Konflikt mit der uns militärisch weit überlegenen Räterepublik verwickelt. Jede Feindseligkeit Deutschösterreichs gegen Räteungarn hätte nicht anders geendet als mit dem Aufstand der deutschösterreichischen Arbeiterschaft und mit dem Einmarsch der ungarischen Roten Armee. In den feindlichen Ring, mit dem die Entente das rote Ungarn umgab, durfte sich Deutschösterreich nicht einfügen.

Wir hatten seit der Märzrevolution Ungarn mannigfache wirtschaftliche Hilfe geleistet. Schon dies führte zu Reibungen mit den Westmächten. Aber ernster wurden diese Konflikte erst, als die ungarische Rote Armee im Mai die tschechischen Truppen in der Slowakei geschlagen, große Teile der Slowakei wiedererobert hatte. Die Tschechoslowakei war in schwerer Bedrängnis. Sie konnte die neuen Formationen, die sie der Roten Armee entgegenschickte, nicht mit Kriegsgerät ausrüsten. Frankreich verlangte von uns, daß wir den Tschechen mit Waffen und Munition aus unseren Beständen aushelfen. Wir lehnten, dies ab. Nun stellte Frankreich uns ein Ultimatum; wenn die Verladung der Munition bis zum 6. Juni nicht beginne, würden die Kohlenlieferungen aus der Tschechoslowakei eingestellt. Wir fürchteten die Drohung nicht; gerade damals war die Furcht der Entente vor dem Übergreifen des Bolschewismus nach Deutschösterreich zu groß, als daß sie es hätte wagen können, eine wirtschaftliche Katastrophe in Wien heraufzubeschwören. Das Kriegsgerät wurde nicht abgeliefert. Und als wir kurze Zeit später einiges Kriegsgerät, das die Entente nach dem Waffenstillstandsvertrag beanspruchte, liefern mußten, lieferten wir es nicht den Tschechen und nicht den Franzosen aus, sondern schickten es den Italienern nach Innsbruck; so waren wir sicher, daß es, wenn überhaupt, gewiß nicht rechtzeitig in die Tschechoslowakei werde kommen können, um die Kämpfe dort zu beeinflussen. Die französische Diplomatie und die französische Militärmission waren über diesen unseren Widerstand überaus erregt. Der Pressefeldzug gegen mich wurde verschärft. Hatte mich die Pariser Presse bisher als „Alldeutschen“ bekämpft, so bekämpfte sie mich nun als „Bolschewik“. Gerade in der Zeit, in der Bela Kuns Emissäre in Wien den Putschversuch gegen uns zu organisieren versuchten, in der Bela Kuns Gesandtschaft zur Zentrale der wütendsten Agitation gegen uns geworden war und in der Bela Kun immer wieder Konflikte mit unserer Budapester Gesandtschaft provozierte, um seiner Wiener Gefolgschaft Agitationsmaterial gegen uns zu liefern, gerade in dem Monat Juni, in dem der ungarische Kommunismus alle Mittel daransetzte, uns zu stürzen, waren wir in den schwersten Konflikt mit Frankreich geraten, weil wir uns weigerten, uns von den kapitalistischen Mächten gegen die proletarische Revolution in Ungarn benützen zu lassen.

In Wien machten Frankreich und Italien einander eifersüchtig den Einfluß streitig. Im Konflikt mit Frankreich suchten wir bei Italien Anlehnung. Italien stand unserer Anschlußpolitik nicht so feindlich gegenüber wie Frankreich. Italien hatte auch gegen unsere ungarische Politik nichts einzuwenden; von dem Gegensatz gegen Jugoslawien beherrscht, hat Italien die Magyaren immer als künftige Verbündete gegen die Jugoslawen behandelt; es trat daher auch in der Rätezeit Ungarn weit weniger feindlich entgegen als die Westmächte. Wir hatten Italien zuerst für unseren Grenzstreit mit den Jugoslawen zu interessieren versucht. Das war gelungen. Italien unterstützte unsere Ansprüche auf Kärnten, auf Marburg und Radkersburg. Nur Italiens Ansprüche auf Deutschsüdtirol standen zwischen Italien und uns. Wir mußten es versuchen, diesen Gegensatz zu überbrücken, um uns den Schutz wenigstens einer der Großmächte auf der Friedenskonferenz zu sichern.

In dem Londoner Vertrag vom 26. April 1915 hatten Großbritannien und Frankreich dem Königreich Italien Südtirol bis zum Brenner zugesichert, wenn Italien in den Krieg gegen die Mittelmächte eintritt. Aber diesem Vertrag waren die Vereinigten Staaten nie beigetreten. Und Italien selbst setzte sich nach dem Kriege über den Londoner Vertrag hinweg, indem es Fiume forderte, das gemäß dem Londoner Vertrag den Jugoslawen zufallen sollte. Der Streit um Fiume ließ es möglich erscheinen, daß der Londoner Vertrag revidiert werden könne. Tardieu bestätigt, daß Frankreich und England im April den Italienern eine Revision des Londoner Vertrages anboten; kam es dazu, dann durften wir hoffen, daß auch die Entscheidung über Südtirol geändert werden könnte. In dieser Periode bemühten wir uns, die amerikanischen Staatsmänner für die Rettung Deutschsüdtirols zu gewinnen. Aber der Präsident Wilson war ganz von den adriatischen Problemen in Anspruch genommen. Er verweigerte den Italienern nicht nur Fiume. sondern auch die Gebiete in Dalmatien und in Istrien, die der Londoner Vertrag ihnen zugesichert hatte. Da Wilson wegen dieser slawischen Gebiete in den schärfsten Konflikt mit Italien geriet, wollte er den Konflikt nicht auch noch durch den Streit um die deutschen Gebiete in Südtirol erweitern.

„Die amerikanische Regierung“, erzählt Tardieu, „akzeptierte die Klauseln des Londoner Vertrages über die Alpen, aber sie lehnte seine Klauseln über einen Teil Istriens, über Dalmatien und über die Inseln des Adriatischen Meeres ab.“

England und Frankreich aber erklärten sich durch den Londoner Vertrag gebunden; es müsse, wie es in London vereinbart worden war, Südtirol bei Italien, Fiume den Jugoslawen bleiben. Trotzdem hofften wir noch immer. Als es zum offenen Bruch zwischen Italien und den Westmächten kam, als Orlando am 24. April von Paris abreiste, hofften wir noch immer, der weitere Verlauf des Konflikts werde vielleicht doch zu einer Revision des Londoner Vertrages führen; auch in dieser Periode noch suchten wir daher die Entscheidung über Tirol durch Propaganda im Westen zu beeinflussen. Erst als die Italiener am 5 Mai nach Paris zurückkehrten, war es offenkundig, daß Tirol von den Westmächten seine Rettung nicht mehr zu hoffen hatte. War Deutschsüdtirol überhaupt noch zu retten, so konnte es nur durch unmittelbare Verhandlungen mit Italien gerettet werden. Das war es, was wir im Mai versuchten. Italien begründete die Annexion Deutschsüdtirols mit strategischen Argumenten. Wir schlugen daher der italienischen Regierung vor, Deutschsüdtirol solle zwar bei Deutschösterreich bleiben, aber es solle militärisch neutralisiert werden. Wir erklärten uns selbst bereit, über die bloße Neutralisierung hinauszugehen, Italien weitgehende militärische Rechte bis zum Brenner zuzugestehen, wenn das Gebiet zwischen der Salurner Klause und dem Brenner nur im übrigen bei uns bleibe. Wir boten Italien als Preis für den Verzicht auf Deutschsüdtirol wirtschaftliche Gegenzugeständnisse. Wir wußten, daß italienische Kapitalisten die in österreichischem Besitz befindlichen Aktien vieler Unternehmungen an der Adria und in Jugoslawien zu erwerben und sich an deutschösterreichischen Unternehmungen zu beteiligen wünschten. Wir erklärten uns bereit, alle diese Wünsche zu erfüllen, sobald sich Italien nur zu Verhandlungen über Deutschsüdtirol bereit zeigt. Die italienische Regierung ließ uns lang auf ihre Antwort warten. Erst im Juli ließ sie uns mitteilen, daß sie unseren Vorschlag ablehnen müsse. Italien war auf der Pariser Konferenz im Kampfe um die Adria und die Levante unterlegen; es konnte sich nicht dazu entschließen, auch noch auf einen Teil der Kriegsbeute zu verzichten, die Paris ihm zusprach. Damit war unser Versuch einer Verständigung mit Italien gescheitert.

So wurde denn unsere Lage sehr schwierig. Wir standen in schwerem Konflikt mit Frankreich. Wir konnten uns mit Italien nicht verständigen. Und gegen unsere Anschlußpolitik lehnte sich ein großer Teil der mitregierenden christlichsozialen Partei und die ganze durch die kapitalistische Presse repräsentierte öffentliche Meinung auf. Und doch hat gerade diese Konfliktsperiode unserer auswärtigen Politik den größten Erfolg gebracht. Am 20. Juli wurde unserer Friedensdelegation in Saint-Germain der zweite Entwurf des Friedensvertrages überreicht. Dieser zweite Entwurf stellte gegenüber dem ersten, gegenüber dem Entwurf vom 2. Juni, einen bedeutenden Fortschritt dar.

Der erste Friedensentwurf hatte den größten Teil Kärntens mit seiner Hauptstadt den Jugoslawen zugesprochen. Der zweite Entwurf revidierte diese Entscheidung. Das Kärntner Volk sollte nunmehr, wie wir es vom Anfang an gefordert, selbst durch eine freie Volksabstimmung über seine staatliche Zugehörigkeit entscheiden. Damit war der größte Teil Kärntens für Deutschösterreich gerettet. Am 31. Juli 1919 wurde Klagenfurt auf Geheiß des Obersten Rates in Paris von den Jugoslawen geräumt. Am 10. Oktober 1920 hat sich das Kärntner Volk in freier Wahl für die österreichische Republik entschieden. Dieser große Erfolg war das Ergebnis einerseits der tapferen Abwehrkärapfe des Kärntner Volkes, anderseits der Unterstützung Italiens auf der Friedenskonferenz, die wenigstens für diese Sache zu erlangen uns gelungen war.

Mit der Rettung Kärntens brachte uns der zweite Entwurf auch die Befreiung des Burgenlandes. Schon während des Krieges war in Denkschriften der tschechischen und der jugoslawischen Emigration – zum erstenmal wohl in einer Denkschrift Masaryks an Sir Edward Grey im April 1915 – die Forderung aufgetaucht, die zu schaffenden Nationalstaaten der Tschechen und der Südslawen seien durch einen „Korridor“ zu verbinden. Zu diesem Zwecke seien die überwiegend von Deutschen bewohnten ungarischen Komitate Ödenburg, Wieselburg und Eisenstadt zwischen dem tschechoslowakischen und dem jugoslawischen Staat zu teilen. Diese Forderung vertraten die Tschechen, von Frankreich unterstützt, auch auf der Pariser Friedenskonferenz. Gegen diese Gefahr einer slawischen Barriere zwischen Deutschösterreich und Ungarn mußten wir uns zur Wehr setzen; ihr mußten wir die Forderung entgegenstellen, daß das Volk der deutschen Komitate Westungarns selbst entscheiden solle, zu welchem Staat es gehören will. Als im Oktober 1918 das revolutionäre Nationalitätsprinzip die historischen Staatsgrenzen niederriß, forderten wir, daß das Nationalitätsprinzip nicht nur im Norden und im Süden zugunsten der Tschechen, der Südslawen, der Italiener gelten solle, sondern auch im Osten, wo ein uns benachbarter deutscher Stamm unter magyarischer Herrschaft lebte. Wir hatten jede Annexion dieses Gebietes abgelehnt. Aber wir hatten der Friedenskonferenz die Forderung unterbreitet, daß das Volk in Deutsch-Westungarn selbst in freier Volksabstimmung entscheiden solle, ob es bei Ungarn bleiben oder an Deutschösterreich fallen will. Als Großbritannien und die Vereinigten Staaten die tschechische Forderung nach dem tschechisch-jugoslawischen „Korridor“ in Westungarn ablehnten, empfahlen die Tschechen die Teilung Westungarns zwischen Deutschösterreich und Ungarn. Sie wünschten diese Lösung, um erstens Deutschösterreich mit Ungarn zu verfeinden, eine Allianz beider Staaten gegen die Tschechoslowakei zu verhindern. Sie wünschten sie zweitens, weil sie es für ihre Interessen nützlich hielten, wenn die beiden Eisenbahnen, die die Slowakei mit Kroatien verbinden, nicht in der Hand desselben Staates sind. In der Tat lehnten die Siegermächte die von uns geforderte Volksabstimmung in Westungarn ab, teilten aber in dem Entwurf vom 20. Juli das Land, indem sie den größeren Teil uns, den kleineren Ungarn zusprachen. In einer Zeit, in der im Westen, Osten und Süden große deutsche Länder fremder Herrschaft unterworfen wurden, war es hier gelungen, einen deutschen Stamm von der Fremdherrschaft zu befreien. Die Entente hatte diese Entscheidung in den Wochen gefällt, in denen die deutschösterreichische Arbeiterschaft den Ansturm des von Ungarn mobilisierten Bolschewismus abwies. Sie wollte unsere Stellung gegen den Bolschewismus befestigen, indem sie uns für die großen Verluste in Nord und Süd im Osten eine Entschädigung auf Kosten des bolschewistischen Ungarn in Aussicht stellte.

Endlich brachte uns der zweite Friedensentwurf auch eine wesentliche Verbesserung der wirtschaftlichen Bestimmungen des ersten Entwurfes Während der Entwurf vom 2. Juni unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu den Nachfolgestaaten nach denselben Grundsätzen regelte wie unsere Beziehungen zu den Ententemächten, wurde dieses Prinzip in dem Entwurf vom 20. Juli durchbrochen. So wurde insbesondere die gefährliche Bestimmung über die Liquidierung des Eigentums deutschösterreichischer Staatsbürger in den Nachfolgestaaten aufgehoben. Auch die Bestimmungen über die Verteilung der Staatsschuld kamen unseren Forderungen einigermaßen entgegen. Diese sehr wichtigen Erfolge waren eine Frucht unseres Kampfes um den Anschluß. Im Kampfe gegen unsere These, daß Deutschösterreich, auf sich selbst gestellt, nicht lebensfähig sei, hatte der französische Imperialismus immer wieder versprochen, er werde Deutschösterreich durch günstigere wirtschaftliche Bestimmungen des Friedensvertrages lebensfähig machen. Er mußte wenigstens einen Teil seiner Versprechungen einlösen; mußte wenigstens diejenigen Klauseln des ersten Entwurfes streichen, die den sofortigen wirtschaftlichen Zusammenbruch Wiens herbeigeführt, die Lebensfähigkeit Deutschösterreichs vollends vernichtet hätten.

Aber so bedeutend der Fortschritt auch war, den wir mit dem Friedensentwurf vom 20. Juli erreicht hatten, so mußten die Bemühungen, eine Verbesserung des Friedensvertrages zu erreichen, doch selbstverständlich fortgesetzt werden. Dazu erschien uns nun eine taktische Wendung notwendig. Aus zwei Gründen waren wir in Konflikt mit Frankreich geraten: erstens wegen unseres Festhaltens am Anschluß, zweitens wegen unserer Weigerung, uns in die gegen die ungarische Räterepublik geschlossene Koalition hineinzwingen zu lassen. Beide Ursachen des Konflikts hatte aber die Geschichte indessen aus dem Wege geräumt. Einerseits hatte die Entente die Einwendungen der reichsdeutschen Friedensdelegation gegen der Artikel 80 des deutschen Friedensvertrages zurückgewiesen; das Reich hatte sich fügen müssen, es hatte den Friedensvertrag am 28. Juni unterzeichnet. Damit war die Bestimmung, daß Deutschösterreich nur im Falle einstimmiger Zustimmung des Völkerbundsrates in das Deutsche Reich aufgenommen werden dürfe, zu einem Bestandteil des Völkerrechtes geworden. Anderseits wußten wir, daß die ungarische Räteregierung schwer erschüttert war; wir konnten nicht mehr bezweifeln, daß ihr Zusammenbruch unmittelbar bevorstand. Unter solchen Umständen konnte es weder die deutsche noch die ungarische Frage rechtfertigen, im Konflikt mit Frankreich zu verharren. Und eine Annäherung an Frankreich erschien jetzt nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Unser Versuch, in Italien eine Stütze gegen Frankreich zu finden, war daran gescheitert, daß Italien auf der Annexion Deutsch-Südtirols beharrte. Und Frankreichs Feindschaft gegen uns konnte viel gefährlicher werden, wenn erst der Bolschewismus in Ungarn gefallen war, als sie sein konnte, solange die Furcht, daß der Bolschewismus nach Deutschösterreich übergreifen könnte, der französischen Feindschaft Hemmungen auferlegte. So mußten wir jetzt den Versuch unternehmen, Frankreich uns gnädiger zu stimmen. Nachdem der zweite Friedensvertragsentwurf unserer Friedensdelegation überreicht worden war, kam ich mit Renner in Feldkirch zusammen; dort vereinbarten wir die taktische Wendung. Natürlich konnte nicht ich die Annäherung an Frankreich durchführen; dazu war mein persönlicher Konflikt mit der französischen Diplomatie allzu schwer gewesen. Ich demissionierte; die Nationalversammlung betraute am 26. Juli Renner, dessen überaus geschickte Haltung in Saint-Germain seine Stellung in Deutschösterreich bedeutend gestärkt und ihm auch in Frankreich Sympathien erworben hatte, mit der Leitung des Staatsamtes des Äußern. Renner umriß die taktische Wendung dieser Tage sehr deutlich, indem er öffentlich erklärte, Deutschösterreich wolle nun eine „westliche Orientierung“ einschlagen.

Der Erfolg dieser taktischen Wendung zeigte sich, als uns am 2. September der dritte, endgültige Text des Friedensvertrages überreicht wurde. Unzweifelhaft brachte uns der dritte Entwurf weniger weitgehende Verbesserungen als der zweite; die Annäherung an Frankreich hat uns weniger gebracht, als wir in der Zeit des Konflikts mit Frankreich erreicht hatten. Aber das widerlegt nicht die Notwendigkeit der taktischen Wendung im Juli; es beweist nur, daß nach der Unterzeichnung des Friedens von Versailles und nach dem Zusammenbruch der ungarischen Rätediktatur weniger zu erreichen war als vorher. Immerhin gab uns der dritte Entwurf Radkersburg zurück und er brachte uns eine nicht unbeträchtliche Verbesserung vieler wirtschaftlicher Bestimmungen des Friedensvertrages. Anderseits freilich fügte die Entente erst jetzt, erst in den dritten Entwurf den Artikel 188 ein, der uns verpflichtet, unsere „Unabhängigkeit“ als „unveräußerlich“ zu achten, solange der Völkerbundsrat uns den Anschluß nicht erlaubt. Diese Beschränkung unseres Selbstbestimmungsrechtes war noch in dem Entwurf vom 20. Juli nicht enthalten gewesen, obwohl die Entente vorher schon dem Deutschen Reiche die Verpflichtung auferlegt hatte, uns nicht ohne Zustimmung des Völkerbundsrates in das Reich aufzunehmen; erst nach meinem Rücktritt, nach der „westlichen Orientierung“ unserer Politik wurde diese Bestimmung auch in den österreichischen Friedensvertrag eingefügt

So waren wir in unserem Kampf um den Anschluß unterlegen. Trotzdem war dieser Kampf keineswegs wirkungslos. In dem Augenblick, in dem das alte Österreich zusammengebrochen war, hatte er der neuen Republik ein neues nationales Ideal, dem aus tausend Wunden blutenden Körper des deutschösterreichischen Volkes eine Seele, Lebensziel und Lebenswillen gegeben. Dieses nationale Ideal hat die junge Republik gewaltig gefestigt. Die Restauration der Habsburger hätte den Anschluß unmöglich gemacht; das nationale Ideal gewann dem republikanischen Gedanken breite Schichten des Bürgertums. Dieses nationale Ideal hat das deutschösterreichische Rürgertum mit dem Zerfall seines alten Reiches versöhnt und es dem Grundsatz des Selbstbestimmungrechtes der Völker gewonnen; das Selbstbestimmungsrecht bedeutete ihm nun nicht mehr bloß den Zusammenbruch seiner Herrschaft über die anderen Völker, sondern auch den Anspruch auf die Einigung des eigenen Volkes. So hat es nur dieses nationale Ideal ermöglicht, die ganze auswärtige Politik der jungen Republik auf die unbeschränkte Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nachbarvölker zu stützen und sie dadurch vor allen jenen Verirrungen des Kampfes um die „Integrität“ zu bewahren, der die ungarische Revolution in so verhängnisvolle Abenteuer gestürzt hat. Vor allem war aber der Kampf um den Anschluß unsere wuchtigste Waffe gegen den Ententeimperialismus. Die Befürchtung, daß sich unsere These als wahr erweisen,. daß Deutschösterreich, auf sich selbst gestellt, lebensunfähig sein werde, hat die Entente gezwungen, uns mildere Friedensbedingungen und uns wirtschaftliche Hilfe zu gewähren. Aber so fruchtbar auch der Kampf um den Anschluß trotz der schließlichen Niederlage gewesen war, so verhängnisvoll war doch diese Niederlage. Aus dem großen Wirtschaftsgebiet, dessen Zentrum Deutschösterreich gebildet hatte, gewaltsam herausgerissen„ ohne hinreichende Kraft, die Anpassung an die neuen Lebensbedingungen mit eigenen Mitteln zu vollziehen, mußte die junge Republik, da ihr die Eingliederung in das bei weitem wirtschaftsstärkere Reich verwehrt war, ein selbständiges Leben führen, das nur ein Leben bitterer Not, ein Leben drückender Abhängigkeit vom Ausland sein konnte. Die letzte Konsequenz der „Unabhängigkeit“, zu der uns Saint-Germain verurteilt hat, ist die internationale Finanzkontrolle, der uns Genf unterwirft. Der Friedensvertrag von Saint-Germain war das Ergebnis einerseits der bürgerlich-nationalen Revolution der slawischen Nationen, anderseits des Sieges des Ententeimperialismus. Ein Ergebnis der nationalen Revolution, hat er Tschechen, Jugoslawen und Polen von der Fremdherrschaft befreit und auf den Trümmern der aus der Epoche des Feudalismus und des Absolutismus überlieferten Herrschaftsverhältnisse, denen sie unterworfen gewesen, der bürgerlichen Demokratie auf ihrem Boden Raum geschaffen. Aber ein Ergebnis zugleich des Sieges des Ententeimperialismus, hat er alle Ergebnisse der nationalen Revolution verfälscht und vergewaltigt. Statt eines tschechoslowakischen Nationalstaates schuf er einen Nationalitätenstaat, in dem Millionen Deutsche, Magyaren, Polen und Karpathorussen der Herrschaft der tschechischen Bourgeoisie unterworfen sind. So hat der die nationale Fremdherrschaft nicht aufgehoben, sondern nur den Herrn zum Knecht, den Knecht zum Herrn gemacht. Die folgenschwere Entscheidung, die dieses Gefüge der tschechoslowakischen Republik bestimmte„ war nicht nur aus den Machtinteressen des französischen Imperialismus, der in der Tschechoslowakei einen gefügigen Vasallen gegen Deutschland zu gewinnen suchte, sondern auch aus konterrevolutionären Motiven hervorgegangen. In einer von Tardieu verfaßten Note Frankreichs an die Friedenskonferenz, die Ende März die Notwendigkeit, Deutschböhmen dem Tschechenstaat zu unterwerfen, erweisen wollte, war zu lesen: „Wenn Polen und Tschechen bisher dem Bolschewismus widerstanden haben, ist es aus nationalem Gefühl. Wenn man dieses Gefühl vergewaltigt, werden sie dem Bolschewismus zur Beute fallen; die Barriere, die den russischen Bolschewismus vom deutschen trennt, wird zerstört sein.“ Es war die Furcht der Ententebourgeoisie vor der Expansion der sozialen Revolution, die den tschechischen Staat weit über die nationalen Grenzen des tschechischen Volkes hinaus ausdehnte. Und da konterrevolutionäre Motive seine Grenzen zogen„ haben konterrevolutionäre Elemente das Wesen des aus der Revolution geborenen Staatsgebildes verändert. Da es Millionen Bürger, die nur die Gewalt ihm unterworfen hat, nur mit Gewalt beherrschen kann, mußte es, darin des alten Österreich echter Erbe, zum militärischen Herrschaftsstaat werden, dessen Gewalt, gegen die beherrschten Nationalitäten aufgerichtet, auch die Arbeiterklasse der herrschenden Nation niederhält. Es gilt nun für die Tschechen, was so lang für die Deutschen gegolten: Sie werden selbst nicht frei, solange sie den Nachbarvölkern die Freiheit verweigern. Und was von der Tschechoslowakei gilt, gilt auch von Polen, das, weit über die nationalen Grenzen des polnischen Volkes ausgedehnt, auf Rußlands und Deutschlands Kosten zugleich bereichert und dadurch den beiden großen Nachbarvölkern zugleich verfeindet, zum Werkzeug des französischen Imperialismus gegen die deutsche Republik und gegen die russische Revolution werden mußte; gilt auch von Jugoslawien, wo der serbische Militarismus an die Stelle der freien Föderation der südslawischen Stämme sein die historischen Stammesindividualitäten vergewaltigendes Herrschaftssystem gesetzt hat, gegen das sich Kroaten und Slowenen fast ebenso leidenschaftlich auflehnen, wie sie sich gegen die Fremdherrschaft Österreichs und Ungarns aufgelehnt haben.

Deutschösterreich aber wurde zum Opfer dieser Vergewaltigung der nationalen Revolution durch den Imperialismus. Der Friedensvertrag raubte der Republik selbst ihren Namen. Wir hatten sie in den Oktobertagen, in den Tagen des Triumphs des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, Deutschösterreich genannt; der Name sollte besagen, daß wir nicht Habsburgs Erbschaft antreten, nicht die Herrschaft über die von Habsburg unterjochten fremden Nationen beanspruchen, sondern nur die deutschen Gebiete der Habsburgermonarchie zu einem freien Gemeinwesen vereinigen wollten. Der Friedensvertrag zwang uns, der Republik den alten Namen Österreich wiederzugeben; der Imperialismus zwang uns den verhaßten Namen auf, weil er von der von der Arbeiterklasse geführten deutschösterreichischen Republik Sühne fordern wollte für die Verbrechen, die die Herrenklassen der habsburgischen Monarchie an den Völkern begangen hatten. Der Friedensvertrag raubte unserer Republik Gebiete, die mehr als drei Millionen Deutsche bewohnen; ein Drittel des deutschösterreichischen Volkes fiel unter Fremdherrschaft. Dem Rest aber verweigerte der Friedensvertrag nicht nur das Recht der Selbstbestimmung, das Recht auf den Anschluß; er erlegte ihm zugleich wirtschaftliche Lasten auf, die ihm die unfreiwillige staatliche Selbständigkeit doppelt schwer erträglich machen mußten. Zwar konnte die Entente die Reparationsverpflichtungen, die der Friedensvertrag uns auferlegte, nie geltend machen. Aber das Generalpfandrecht zugunsten dieser Reparationsverpflichtungen vernichtete unseren Staatskredit. Und die Bestimmungen des Friedensvertrages über die Valorisierung der Vorkriegsschulden, über die Liquidierung der Österreichisch-Ungarischen Bank, über die Sequestrierung des österreichischen Eigentums im Ausland, über die Beschränkungen unserer zoll- und handelspolitischen Bewegungsfreiheit und unserer Tarifhoheit auf den Eisenbahnen zerrütteten unsere Währung und drückten unsere Volkswirtschaft nieder.

Diese Vergewaltigung der Revolution durch den Imperialismus bestimmte zugleich auch das weitere Schicksal der Revolution in Deutschösterreich. Der Sieg der Ententeheere im Oktober hatte die Völker der Habsburgermonarchie entfesselt und dadurch die Arbeiterklasse in Deutschösterreich zur Vorherrschaft geführt. Diese Vorherrschaft war in den ersten Monaten nach den Siegen der Ententeheere nicht nur in den Machtverhältnissen der Klassen im Lande selbst begründet, sie war zugleich auch eine außenpolitische Notwendigkeit. Nicht die bürgerlichen Parteien, die sich bis zur letzten Stunde an das Herrschaftssystem der Habsburgermonarchie geklammert hatten, sondern nur die Sozialdemokratie, die gegen dieses Herrschaftssystem das Selbstbestimmungsrecht der Völker verfochten hatte, konnte nach Habsburgs Sturze Deutschösterreich auf die Bahnen seiner neuen, nur noch auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu gründenden Außenpolitik führen. Nicht die bürgerlichen Parteien, die zu Kriegsbeginn dem Ultimatum an Serbien zugejubelt und während des Krieges nach der blutigen Niederwerfung der tschechischen „Hochverräter“ geschrien hatten, konnten nach dem Siege der Serben und dpr Tschechen den Haß der befreiten Nachbarvölker gegen Wien allmählich entwaffnen, ihr Vertrauen der jungen Republik gewinnen, freundnachbarliche Beziehungen zu ihnen begründen. Nicht die bürgerlichen Parteien, die in ohnmächtiger Angst dem inneren Ringen innerhalb der Arbeiterklassen zusehen mußten,’ sondern nur die Sozialdemokratie konnte den Ansturm des ungarischen Bolschewismus abwehren. Die zwingende Notwendigkeit, den Frieden mit den Nachbarvölkern zu erhalten, erforderte also in den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution die Führung der Sozialdemokratie. Aber diese Führung wurde im Verlaufe des Jahres 1919 erschüttert durch den Verlauf und die Ergebnisse der Friedensverhandlungen mit den Westmächten. Als der französische Imperialismus Deutschösterreich in den eisernen Ring um die ungarische Räterepublik hineinzwingen wollte, war ihm die Sozialdemokratie das widerspenstige Hindernis, die reaktionären Elemente der Bourgeoisie das gefügige Werkzeug. Als der französische Imperialismus Deutschösterreichs Willen zum Anschluß an Deutschland brechen wollte, widersetzte sich ihm die Sozialdemokratie, während die christlichsoziale und die liberale Bourgeoisie seine Geschäfte besorgten. Der ganze Einfluß des französischen Imperialismus begann nun in Wien für die bürgerliche Reaktion gegen die Sozialdemokratie zu wirken. Als der Ententeimperialismus mit den Waffen seiner rumänischen Vasallen die ungarische Räterepublik stürzte, als sich unter dem Schutze seiner Budapester Missionen die Konterrevolution in Ungarn etablierte, ward die deutschösterreichische Bourgeoisie von der Angst vor der sozialen Revolution befreit, ihr Selbstbewußtsein und ihre Widerstandskraft erstarkten nun sehr schnell. Als der französische Imperialismus in den Pariser Friedensverhandlungen die demokratischen Ideen, deren sich die Entente während des Krieges als einer Waffe bedient hatte, besiegte, als der Ententeimperialismus Deutschland und Deutschösterreich einen brutalen Gewaltfrieden diktierte, wendeten sich viele Intellektuelle, Beamte, Kleinbürger in Deutschösterreich von der Sozialdemokratie ab; sie waren im Herbst 1918, in den Tagen des höchsten Triumphs der Ententedemokratie, von der Anziehungskraft der demokratischen Ideen, der Prinzipien Wilsons erfaßt, der Sozialdemokratie als der einzigen Wortführerin der Demokratie in Deutschösterreich zugeströmt; sie wurden nun, da sich Wilson als zweideutig und machtlos, da sich die Ententedemokratie als verhüllende Maske des Ententeimperialismus erwies, in ihrem Glauben an die Demokratie erschüttert und fielen schnell in ihre alte reaktionäre Gedankenwelt zurück. Und als schließlich die wirtschaftliche Bedrohung, die die Friedensentwürfe enthielten, den Kurs der Krone von Woche zu Woche drückte, als diese Entwertung unseres Geldes die Teuerung in Deutschösterreich verschärfte, die kleinen Rentner, die Beamten, die Intellektuellen pauperisierte, dem Schiebertum Gelegenheit zu mühelosen Riesenprofiten bot, wendete sich die Unzufriedenheit der ökonomisch ungeschulten Volksmassen nicht gegen den Ententeimperialismus, der diese Geldentwertung hervorgerufen hat, sondern gegen die von den Sozialdemokraten geführte Regierung, die die unentrinnbaren Folgeerscheinungen der Geldentwertung nicht zu verhindern vermochte. Auf diese Weise hat der Ententeimperialismus die Vorherrschaft der Arbeiterklasse in Deutschösterreich untergraben. Hat der Sieg der Ententeheere im Herbst 1918 die Revolution entfesselt, so hat der Sieg des Ententeimperialismus über die Ententedemokratie auf der Pariser Konferenz von 1919 der Weiterentwicklung der nationalen und der sozialen Revolution in Mitteleuropa unverschiebbare Schranken gesetzt und damit die Kraft der Revolution, gebrochen, der bürgerlichen Reaktion den Weg gebahnt.

Am 17. Oktober 1919 hat die Konstituierende Nationalversammlung den Friedensvertrag von St.-Germain ratifizieren müssen; an demselben Tage trat die erste Koalitionsregierung zurück und wurde die zweite Koalitionsregierung gewählt. Die zweite Koalitionsregierung war schon ganz anderen Wesens als die erste. Der Tag, an dem der Vertrag von St.-Germain ratifiziert werden mußte, war der Tag des Endes der proletarischen Vorherrschaft in Deutschösterreich.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008